Was, wenn alle die österreichische Obergrenze einführen würden?
Flüchtlinge kommen auf der griechischen Insel Lesbos an | Foto: imago | Zuma Press

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Was, wenn alle die österreichische Obergrenze einführen würden?

Haben die Österreicher uns aus Versehen die Lösung der Flüchtlingskrise geschenkt?

Die Nachricht, dass die österreichische Regierung sich auf eine Obergrenze für Flüchtlinge festgelegt hat, hat in ganz Europa Aufsehen erregt. Immerhin ist das ein Thema, das auch in anderen Ländern wie Deutschland seit Monaten äußerst kontrovers diskutiert wird.

Obwohl die legale Machbarkeit von Obergrenzen für Asylsuchende auch in Österreich umstritten ist, hat sich die Regierung jetzt erstmal darüber hinweggesetzt und angekündigt, 2016 nur 37.500 Menschen aufnehmen zu wollen. „Die große Anzahl an Flüchtlingen überfordert unser System", erklärte Vizekanzler Reinhold Mitterlehner von der ÖVP den drastischen Schritt. 2015 hatten 90.000 Menschen einen Asylantrag in Österreich gestellt.

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Für die Entscheidung muss das Land jetzt schon harte Kritik einstecken: Eine Obergrenze „löse keine Probleme, sei moralisch fragwürdig und verstoße gegen die UNO-Flüchtlingskonvention", zitiert der Deutschlandfunk den Vorsitzenden der Unionsgruppe im Europaparlament Herbert Reul, die SPD-Europaparlamentarierin Birgit Sippel nannte die Pläne „eine populistische und ängstliche Reaktion" auf rechte Parolen. Der Vorsitzende der deutschen Linken bezeichnete die Maßnahme auf Twitter als eine „Bankrotterklärung europäischer Solidarität".

.— Jan Böhmermann (@janboehm)20. Januar 2016

Der österreichische Bundeskanzler verteidigte den Beschluss als „Notlösung", die auch ein „Aufrütteln" der EU bezwecken solle. Das ist offensichtlich gelungen. Auf Spiegel Online wurde sich schon einmal vorgestellt, was passieren würde, wenn Deutschland auch eine Obergrenze einführen wollte. Spoiler: Es wäre ziemlich beschissen, für alle Beteiligten.

Aber was würde passieren, wenn nicht Deutschland alleine, sondern alle EU-Länder auf einmal eine solche Obergrenze einführen würden?

7,62 Millionen Menschen in 4 Jahren

Die Frage ist zu diesem Zeitpunkt natürlich absolut theoretisch, aber interessant ist sie trotzdem. Die Zahlen aus Österreich sind relativ einfach zu verstehen: Insgesamt will die Regierung bis Mitte 2019, also über die nächsten vier Jahre, 127.500 Flüchtlinge aufnehmen—das entspräche 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung von 8,5 Millionen. Das ist vielleicht nicht enorm viel, wenn man es mit anderen EU-Ländern vergleicht, aber eher großzügig: Großbritannien zum Beispiel hat angekündigt, es werde über die nächsten 5 Jahre gerade mal 20.000 Flüchtlinge aufnehmen—das entspricht 0.031 Prozent der britischen Bevölkerung.

Wenn sich jetzt aber alle EU-Länder verpflichten würden, in den nächsten vier Jahren das Äquivalent von 1,5 Prozent ihrer Bevölkerung an Flüchtlingen aufzunehmen, käme man zum Beispiel zu folgendem Ergebnis für die fünf bevölkerungsreichsten Länder:

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Das wären also, auf die ganze EU verteilt, über siebeneinhalb Millionen Menschen in vier Jahren, 1,9 Millionen im Jahr. Das ist nicht wenig. Aber reicht es aus?

Im Rekordjahr 2015 sind laut Zählungen von UNHRC und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ziemlich genau eine Million Flüchtlinge in Europa angekommen, die meisten davon übers Mittelmeer. Diese Migrationsbewegung läge also weit unter den 1,9 Millionen, die die EU sich als kollektive Obergrenze fürs Jahr gesetzt hätte.

Natürlich wäre anzunehmen, dass sich schnell herumsprechen würde, dass die EU bereit ist, in den nächsten Jahren mehr als siebeneinhalb Millionen Menschen aufzunehmen, es würden sich also möglicherweise noch mehr Menschen auf den Weg machen als jetzt schon. Um zu wissen, ob 7,62 Millionen ausreichen, muss man also auch schauen, wie viele Flüchtlinge zur Zeit gerne nach Europa kommen würden, wenn sie könnten.

Sie haben die Reise überlebt: Flüchtlinge auf Lesbos | Foto: imago | ZUMA Press

Insgesamt schätzte UNHCR die Zahl der aus Syrien geflüchteten Menschen auf über 4 Millionen Menschen, die meisten davon leben aktuell in den Nachbarländern. In der Türkei zum Beispiel leben 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge unter teilweise extrem ärmlichen Bedingungen. Im Libanon, einem Land mit 5 Millionen Einwohnern, wird die Zahl der syrischen Flüchtlinge auf 1,5 Millionen geschätzt—das Land ist von diesen Mengen mittlerweile komplett überfordert. Man kann also davon ausgehen, dass ein großer Teil dieser vier Millionen syrischen Flüchtlinge lieber in einem EU-Land unterkommen würde.

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Natürlich gibt es auch noch Flüchtlinge aus anderen Ländern, in der EU kommen nach Syrern vor allem Afghanen und Iraker an. Aber die Syrer stellen bei Weitem das größte Kontingent, und wenn man sich diese Zahlen anschaut, bekommt man zumindest eine Vorstellung von der Größenordnung, von der man spricht. Und dabei fällt sofort auf: Wenn jedes europäische Land sich zu den 1,5 Prozent in vier Jahren verpflichten würde, könnte man die Krise meistern. Und: Es hätte enorme Vorteile, sowohl für die Flüchtlinge als auch die Empfängerländer.

Für die Flüchtlinge

Sobald die EU-Länder sich auf diese Zahl festgelegt hätten, könnte man anfangen, in den Flüchtlingslagern im Libanon, der Türkei und Jordanien Visa auszugeben—auf einmal oder übers Jahr verteilt, jedenfalls bis die 1,9 Millionen voll sind. Alle diese Menschen könnten sich in ein Flugzeug setzen und direkt in das Land fliegen, dem sie zugeteilt wurden. Die, die diesmal kein Visa bekommen haben, hätten zumindest die Perspektive, nächstes Jahr eines zu bekommen. Kaum noch jemand würde riskieren, im Mittelmeer zu ertrinken. In den Gastgeberländern, die besser auf die Größenordnung der Aufgabe vorbereitet wären, könnten die Flüchtlinge besser untergebracht werden und schneller Aufenthaltsgenehmigungen bekommen, so dass sie sich viel früher Arbeit suchen könnten.

Vielleicht könnte man immer noch nicht alle aufnehmen, die in Not sind. Aber man könnte viel mehr aufnehmen als jetzt, und niemand müsste sich mehr in Lebensgefahr begeben, nur um aus dem Krieg zu fliehen.

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Für die EU-Länder

Ganz abgesehen von den enormen logistischen Vorteilen, die eine genaue Prognose mit sich bringen würde, wäre der große Vorteil für die Regierungen und die Bevölkerungen der EU-Länder, dass endlich Klarheit bestünde. Was den Menschen bis jetzt am meisten Angst gemacht hat, ist die Unsicherheit: Wie viele kommen noch; können wir das alles bewältigen; kommt jetzt die ganze Welt zu uns? Das Merkel'sche „Wir schaffen das" war auch deshalb nicht wirklich beruhigend, weil Merkel selber nicht zu wissen scheint, was genau zu schaffen ist. Wenn aber jede Regierung ihrer Bevölkerung eine exakte Zahl nennen könnte, die es zu schaffen gilt, dann würde das die ganze Debatte bereinigen.

Das Hauptproblem

Natürlich wurde schon vorher über ähnliche Lösungen nachgedacht. Im September 2015 einigten sich die EU-Länder darauf, zuerst einmal 160.000 Flüchtlinge über Europa zu verteilen—und sind damit spektakulär gescheitert: Bis letzte Woche wurden insgesamt gerade mal 272 Personen umverteilt. Das größte Problem an der europaweiten Quote ist, dass sehr viele EU-Länder aktuell überhaupt keine Lust auf Flüchtlinge haben. Jeder Versuch, an die europäische Solidarität zu appellieren, ist bis jetzt an einer Wand aus nationaler Eigenbrötlerei abgeprallt. Wenn Merkel die Flüchtlinge so liebt, soll Deutschland sie doch nehmen, tönt es nicht nur aus Osteuropa, sondern auch im Westen (wo man sowieso am liebsten von „Migranten", aber fast nie von „Flüchtlingen" spricht). Der europäische Gedanke hat sich bis jetzt als nicht sehr krisenfest erwiesen.

Fuck the 'fugees: David Cameron und Viktor Orban schütteln sich | Foto: imago | Xinhua

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Aber ist es unvorstellbar, dass auch die Zurückhaltung der anderen EU-Staaten viel mit der Unsicherheit zu tun hat, was wirklich auf sie zukommt? In viele Ländern sind es diffuse Ängste der Bevölkerung, hinter der die Regierungen sich nur zu gern verstecken. Aber was würde passieren, wenn Angela Merkel die österreichische Obergrenze zum Anlass nehmen würde, um alle EU-Länder noch einmal an den Tisch zu holen und diese Zahl von (zum Beispiel) 1,5 Prozent draufzuknallen?

Von Lissabon bis Ljubljana müssten sich Regierungen und Bevölkerungen zumindest die Frage stellen: Können wir uns 1,5 Prozent wirklich nicht leisten—auch wenn wir wissen, dass wir damit zur Lösung eines der größten Probleme unserer Zeit beitragen könnten? Wie glaubwürdig würden Rechtspopulisten noch von „Überfremdung" faseln können, wenn jeder einzelne Bürger die genaue Zahl kennt?

Wenn einige EU-Staaten trotzdem weiter mauern, könnte man auch härtere Bandagen ins Auge fassen. Kürzungen bei der Entwicklungshilfe wären der Anfang, die EU-Mitgliedschaft vielleicht das Ende: Schließlich kann niemand ein souveränes Land zu einer solchen Maßnahem zwingen. Andererseits kann auch niemand alle anderen Länder dazu zwingen, sich mit einem unsolidarischen Land in einem Staatenbund zu befinden.

Könnte eine europäische Obergrenze die Lösung sein?

Das ganze Gedankenspiel hängt hauptsächlich davon, dass große Staaten wie Deutschland sich auf eine Diskussion über eine EU-weite Obergrenze einlassen. Aktuell gilt die Obergrenze aber noch als ein Steckenpferd der CSU, die CDU hält sie offiziell für völlig indiskutabel, obwohl aus der SPD jetzt schon seit Längerem ganz andere Töne kommen. Angela Merkel aber scheint überzeugt: „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze."

Tatsächlich ist die Obergrenze mit dem Grundrecht auf Asyl schwer vereinbar, weil das prinzipiell für jeden Menschen gilt, nicht nur für die ersten 300.000. Wenn man es juristisch korrekt angehen wollte, müsste man also womöglich sogar die Verfassung ändern.

Das wäre ein drastischer Schritt. Aber angenommen, man könnte die anderen europäischen Länder tatsächlich auf eine bestimmte Quote verpflichten (leicht wird es nicht, soviel ist klar). Wäre die geregelte Aufnahme von 7,26 Millionen Menschen in den nächsten vier Jahren nicht viel eher im Sinne der Mütter und Väter der Verfassungsordnung als die aktuelle Situation, in der sich täglich Hunderte mühsam, besitzlos und unter Lebensgefahr zu einer unsichere Zukunft bei uns durchschlagen müssen?