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The Fiction Issue 2015

Weichziele

„Jemand kackte nachts auf den Gehweg vor unserem Gebäude. Die Fäkalien waren aufgebläht und braun, stanken nach menschlicher Verdauung und ließen sich nur schwer entfernen." Die Kurzgeschichte eines langen heißen Sommers in New York.

Eine Kurzgeschichte aus der Fiction Issue 2015

Ich ging doch zu Knights Brunch, denn von der Chormesse in der katholischen Kirche gegenüber bekam ich Migräne und die Frau im gegenüberliegenden Fenster, die mein Freund und ich Yoga nannten, hatte gerade Sex mit dem Hausmeister. Erst als ich Knights Wohnung auf dem West Broadway erreichte, wurde mir klar, dass ich mich im Datum getäuscht hatte. Statt mit Künstlern war sein Esszimmer halbvoll mit Schriftstellern. „Kannst du wenigstens Bachtin zitieren?", fragte mich Knight, was ich als Beleidigung auffasste, bis Josephine mir erzählte, dass ein Literaturfestival in Manhattan wegen seines Fokus auf Bachtin schlecht besucht gewesen sei. Der Caterer nahm meine Bestellung für ein Omelett entgegen. Colin war überraschend aus Budapest zurück.

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Das Jahr, das er im Haus von Nikolais verstorbenen Eltern verbracht hatte, hatte Wunder gewirkt. Er sah nicht mal aus, als würde er Drogen nehmen. „Ich arbeite als Archivar für den Tierschutzbund", sagte er mir. Als ich ihn fragte, wo Nikolai war, antwortete er nicht und ging auf die Terrasse, um mit dem Handy auf Wassertürme zu schießen. Terrence und Bettina schimpften über die Expansionspläne der New York University. „Obdachlose Menschen haben auch eine Kultur, und die sollte man respektieren." Terrence lachte und sagte, wir seien zu Recht wütend, aber aus den falschen Gründen. Ich trank eine Bloody Mary, doch Knights Limetten sahen unappetitlich vertrocknet aus. Ich zog meine Schuhe wieder an und wartete auf den Aufzug.

Als die Tür aufging, stand da RJ, in einem zerknitterten blauen Oxfordhemd und einer weißgrauen Cordhose. Sein kleiner Finger war bandagiert und ein halbmondförmiger Blutfleck war durch die Gaze gedrungen. „Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen", sagte er, nervöser als ich erwartet hatte. „Können wir uns demnächst zum Frühstück treffen? Wir könnten danach zur Hundewiese, wie früher." Er schrieb mir, als ich gerade auf dem Weg zu der Reinigung an der First Avenue war, die Fotos ihrer berühmten Kundschaft wie Philip Glass an den Wänden aushängt. Ich fragte mich, ob sie die berühmten Kunden direkt um die Fotos baten oder sie im Internet bestellten und dann um ein Autogramm baten, wenn sie ihre Kleidung abholten. „Wir wär's mit Freitag?", stand in RJs Nachricht.

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Stefan bezahlte seine monatliche Hälfte der Miete nicht pünktlich. Es war wie ein Spiel, bei dem ich gezwungen war, mitzuspielen. Ich gab dem Hausmeister immer am Ersten des Monats den Scheck mit der Miete, doch Stefan wartete immer bis zum 15., bis er mir einen ausstellte. Wahrscheinlich genoss er das Gefühl, 15 Tage lang damit durchzukommen. Die Nebenkosten liefen alle über Stefan, denn er musste einen dauerhaften Wohnsitz nachweisen, um eine Kreditkarte genehmigt zu kriegen. Die Banken wollten ihn nicht. Laut Brandon wurden die Banken gerade wieder vorsichtig und bald würde etwas passieren. „Verkauf im Moment lieber nichts", riet mir Brandon beim Dinner zu Cons Vernissage. „Ich habe das Stadthaus wieder vom Markt genommen. Und die Berkshire Mountains lasse ich diesen Sommer auch sein. Willst du stattdessen im August mit nach Lampedusa?" Ich sagte ihm, August sei zu überlaufen, doch Juni könnte gehen, wenn ich vom Magazin freibekäme.

Jemand kackte nachts auf den Gehweg vor unserem Gebäude in der East 4th Street. Ich dachte an Bettina, obwohl sie in der Sullivan Street wohnte. Morgens waren da Fäkalien, und sie stammten nicht von Hunden. Sie waren aufgebläht und braun, stanken nach menschlicher Verdauung und ließen sich nur schwer entfernen. Meine U-Bahn steckte zwischen Stationen fest und als ich im Whitney Museum ankam, schlossen sie gerade die Bar; Kerzen standen als Absperrung vor den Flaschen. Der Barkeeper sagte, er habe Feierabend und ich dürfe mir auch nicht selbst ein Glas Wein einschenken. Agnes trug Vintage von Schiaparelli und Schuhe mit Knöchelriemen und schimpfte unaufhörlich über die Ausstellung im zweiten Stock. Sie ließ sich einfach nicht beruhigen. „Und die jungen Leute sind noch schlimmer als die jungen Leute davor", rief sie lauthals.

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Sie nahm uns mit ins Sant Ambroeus und zahlte unsere Wodkas. Ich wollte mit dem italienischen Kellner schlafen, der in einer rosafarbenen, doppelt um seine schlanken Hüften gebundenen Schürze die vorderen Tische bediente, doch seine Blicke gaben mir zu verstehen, dass er mein Starren unangenehm fand. Ich sprach Italienisch, um ihm weiszumachen, ich sei nur an einem Sprachtandem interessiert. Als ich von der Toilette zurückkam, war Agnes gegangen und Marlo sagte, ihre Medikamente hätten sich nicht mit dem Alkohol vertragen. „Armer RJ", sagte sie. Ich fragte sie, was mit RJ sei. Sie zuckte die Schultern und gestand, dass ihre Arbeit sich nicht verkaufte und die Galerie damit drohte, ihren Vertrag zu beenden. Ich schrieb RJ aus dem Taxi nach Hause. „Was ist bei dir los? Alles in Ordnung?" Am nächsten Morgen las ich seine Antwort von 2:14 Uhr. „Hast du am Montag Zeit zum Kaffeetrinken? Ich muss dringend mit dir reden."

Cathy war entweder vergewaltigt worden oder sie war nicht vergewaltigt worden. Sie wusste es nicht. Sie hatte sich im Control Room so zulaufen lassen, dass sie drei norwegische Typen mit nach Hause genommen hatte und auf ihrem Bett ohnmächtig geworden war, nachdem sie zwei von ihnen geküsst hatte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, waren überall Kondome und am Kühlschrank hing ein Zettel, auf dem sie sich für die Übernachtung bedankten. Sie sagte, sie fühle sich nicht, als habe jemand sie angefasst, und bis auf den BH sei sie vollständig bekleidet gewesen, doch was war mit den Kondomen? Was war mit der Tatsache, dass in einem davon Sperma war? Sie erzählte mir das im Control Room, in der Nische bei der Bar. Sie fing an zu weinen und ich umarmte sie. Ich sagte, es sei wohl das Beste, wenn sie einen Test machte. Talia lud uns zu ihrem Frühlingspicknick im Prospect Park ein. „Lauren und Andre und RJ kommen auch", versprach sie. Stefan und ich sagten zu, doch wir mochten den Prospect Park nicht, und als der Tag kam, gingen wir ins Kino und zu einem Vortrag über marxistische Zirkulationsformen im Kitchen. Es gab keine Publikumsfragen.

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Ein japanischer Kirschbaum blühte in der 14th Street. Jedes Mal, wenn ein Stadtbus darunter hindurchfuhr, schlug die Windschutzscheibe gegen den untersten Ast und violette Knospen regneten auf die Fußgänger herab. Alle machten „Ohhhh." Nach ein paar Stunden kam ein Parkwärter, um den Ast abzusägen. Wenn ich durch die Stadt lief, hatte ich oft das Gefühl, dass jemand in meiner Nähe den Finger am Abzug hatte und es jeden Augenblick einen Knall geben könnte, mit mir mittendrin. Ich versuchte, Plätze zu vermeiden: Union Square, Herald Square, Demo Square. RJ hatte früher gleich beim Demo Square als Webdesigner gearbeitet. Ich zog in Erwägung, in seiner Wohnung in der 12th Street vorbeizusehen, doch ich war nicht sicher, ob er dort noch wohnte. Als mein Handy ausging, ging mir auf, dass die Stadt offenbar nicht mehr in öffentliche Uhren investierte. Wie lange war das schon so?

Mein Therapeut wollte nicht, dass ich über Stefan sprach. Auch Monica ließ es nicht zu, wenn ich ihr im Fitnessstudio begegnete. „Halt mich aus euren Problemen raus", sagte sie. „Ich will nichts davon hören." Meine Eltern ließen sich scheiden und das hörten sich beide problemlos an, aber Stefan war tabu. Als wir äthiopisch essen waren, fragte ich Stefan, ob er im August mit nach Lampedusa wolle. Ich fragte, ob er in letzter Zeit Kontakt mit Brandon gehabt habe. Er sagte, das habe er nicht, und wenn Brandon im August Lampedusa plane, dann sollten wir nach Pantelleria. „Ich kann dir nicht trauen, wenn Brandon dabei ist", sagte er. „Du benimmst dich dann immer wie ein anderer Mensch, total seltsam." Ich fragte ihn, ob ihm in letzter Zeit menschliche Fäkalien auf dem Gehweg aufgefallen seien. Er sagte nein, doch er würde die Augen offen halten.

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Wir erfuhren am Sommeranfang, dass Nikolai in Budapest gestorben war. Niemand hatte Colin erreicht, um die genaue Todesursache in Erfahrung zu bringen, oder auch nur einen Nachruf im Internet gefunden. Wir organisierten eine Gedenkfeier in der Rebus Gallery und wollten sogar einige von Nikolais alten Gemälden aufhängen, doch da niemand wusste, an was oder wann er gestorben war, wirkte die ganze Veranstaltung anmaßend und fast geschmacklos. Der Hausmeister und Yoga schlossen nicht einmal mehr die Fenster, wenn sie laut Sex hatten. Stefan und ich hatten keine Jalousien angebracht, also mieden wir nachmittags das Schlafzimmer. „Es klingt brachial", sagte Stefan. Wir wurden süchtig nach einer Krimiserie aus den 80ern auf Netflix—es ging um einen echten Detektiv und einen falschen Detektiv, der sein echter Partner bei der Verbrechensaufklärung wird—und verpassten drei Geburtstagspartys und einen halben Arbeitstag, während wir alle fünf Staffeln im Marathon schauten. Stefan bemerkte, dass die meisten Probleme der Detektive sich mit der Erfindung des Handys aufgelöst hätten. „Vor allem das Liebeszeug."

Als Stefan das Wochenende mit seinem Freund Oliver auf Fire Island verbrachte, ging ich Möbel kaufen. Ich kaufte ein Sideboard aus Walnuss und einen Perserteppich und zwei Regiestühle mit nur geringfügigen Rissen im Stoff. Ich nahm an, dass Stefan und Oliver auf Fire Island miteinander fickten, oder vielleicht mit jemand anderem dort; es hatte halbherzig gewirkt, als er mich einlud mitzukommen, und obendrein wusste er, dass ich keine Zeit hatte, denn ich musste einen Filmregisseur für das Magazin interviewen. Der Regisseur wollte nur über sein jüngstes Projekt sprechen, während ich dauernd Fragen über seine frühen Filme stellte, die überhaupt der Grund für mein Interesse an einem Interview gewesen waren. Er trug die ganze Zeit eine Sonnenbrille und schob immer wieder das Aufnahmegerät von seinem Ellbogen weg. „Ich interessiere mich nicht für die Vergangenheit", sagte er, voller Unbehagen. „Ich habe meine Unsentimentalität zur Karriere gemacht. Bitte nur Fragen über die Premiere morgen Abend." Ich fragte ihn, wie er es geschafft habe, seinen Kultfilm von 1979 ohne Drehbuch zu planen, und er sagte, ich wolle ihn wohl ruinieren.

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Als Stefan nicht ans Handy ging, rief ich RJ an und hinterließ eine Nachricht. „Hast du dieses Wochenende Zeit? Willst du essen gehen?" Bis RJ zwei Stunden später zurückrief, hatte ich mich bereits mit Gilles zu einem Konzert verabredet, also ließ ich die Mailbox rangehen. Gilles erzählte mir, Nikolai habe sich das Leben genommen. Als ich fragte wie, blaffte er mich an. „Warum ist das wichtig?" Wir gingen nach der Vorband und verloren einander in der Scully Zero Bar. Als ich das Sideboard auf den Gehweg stellte, fragte Yoga, ob sie es haben könne. Als ich ihr dabei half, es wieder nach oben zu tragen, sagte sie, dass während meiner Abwesenheit ein Freund da gewesen sei. „Er hat zehn Minuten lang geklopft", sagte sie. „Er wirkte nicht besonders fit." Als sie seine blonden Locken und seine rote Brille beschrieb, fragte ich, ob sein Name RJ gewesen sei. „Kann sein", sagte sie. „Es würde passen."

Für meinen Job beim Magazin schaute ich bei einem Fotoshooting mit einer jungen Schauspielerin vorbei, die bald in einem dystopischen Blockbuster zu sehen sein würde. „Ich wusste schon als Kind, dass ich Schauspielerin werden wollte", sagte sie mir. „Ich habe mich immer verkleidet, mir Geschichten ausgedacht und Rollen gespielt. Ich wollte immer gesehen werden." Das schrieb ich auf. Ich bewarb mich für den Herbst um zwei Autorenstipendien und eine freiberufliche Stelle bei einer Zeitung als Verfasser von Nachrufen auf Prominente, die jederzeit unerwartet sterben könnten. Meine Mutter rief an, um mir zu sagen, die Scheidungspapiere seien unterschrieben. „Der Faden ist wieder ausgefädelt" sagte sie.

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Wir verpassten die Mondfinsternis. Anscheinend war der Mond rot gewesen, und wir hatten es verpasst. Stefan verlor sehr wichtige Papiere für seinen Greencard-Antrag. „Nicht hier, nicht auf Arbeit. Und du hast sie sicher nicht weggeworfen?" Wir gingen zu Fetnehs Dachparty zum Unabhängigkeitstag, was darin endete, dass wir auf der Taxifahrt nach Hause über meinen Alkoholkonsum stritten. Ich schrieb einen humoristischen Beitrag für den Blog einer Freundin über die Gefahren von Indoor-Gärten. Meine Freundin sagte, der Artikel sei beliebt, obwohl es nur einen anonymen Kommentar darunter gab. Vielleicht war der Kommentar von RJ. Als ich versuchte, ihn anzurufen, war seine Nummer nicht länger angeschlossen. Er antwortete nicht auf meine Facebook-Nachrichten und hatte seit Monaten nichts gepostet. Ich sah ein Foto von uns von vor zwei Sommern; wir zwangen den Mund des jeweils anderen mit unseren Fingern in ein Lächeln. RJ und ich hatten einander damals viel berührt. Ich erinnerte mich, wie extranackt er aussah, wenn er nackt war, vielleicht weil seine Haut so weiß war, oder weil er die Brille anbehielt.

Auf einer Party in Brandons Stadthaus probierte ich eine neue Droge aus, die sich als eine alte Droge mit neuem Namen erwies. Ich hätte sie vielleicht nicht genommen, wenn ich das gewusst hätte, doch das hielt mich nicht davon ab, hier im Garten zu stehen und meine Hand im Sonnenlicht zu bewegen. Jeder Baum schien mit solcher Präzision entworfen zu sein. Die Sonne war heiß, doch der Beton unter meinen Füßen fühlte sich weich und kühl an und ich liebte es, wie alle herumstanden und sich an den kleinsten Insekten erfreuten. Sollten wir vor Lampedusa noch einen Abstecher nach Rom machen? Ich erörterte getrennt mit Brandon und Stefan das Für und Wider. Ich war dafür.

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Rena lud mich in das Haus ihrer Eltern in South Hampton ein, und ich nahm den Bus und steckte fünf Stunden lang im ostwärtigen Verkehr fest. Renas Pool war eins von diesen Infinity-Dingern und sie las Kunstkritiken aus der Times mit verstellter Stimme vor. Sie unterbrach sich, um mir zu sagen, dass ich in meiner Badehose gut aussah. „Du siehst dünner und definierter aus", sagte sie. „Mach weiter so." Ich fragte sie, ob sie in letzter Zeit RJ gesehen habe. „Nein, aber ich hab gehört, er hat es zur Zeit schwer." Als ich ihr sagte, Nikolai habe sich umgebracht, tauchte sie den Finger in ihren Drink und leckte ihn ab. „Stimmt nicht", sagte sie. „Er ist in Tel Aviv und arbeitet für den Widerstand." Wir gingen zu einer Party in einem Strandhaus, das früher Billy Joel gehört hatte und in dem nun die Exfrau eines jordanischen Geschäftsmanns lebte. In allen Zimmern standen weiße Klaviere, doch die Tasten waren unter Kunststoff weggesperrt.

Die Frau des Hausmeisters war ausgezogen. Sicher wussten wir das nicht, doch ich hatte sie seit Wochen nicht gesehen. Stefan auch nicht. Yoga hängte ein Batiktuch vor ihr Fenster, und das Sideboard, das ich ihr überlassen hatte, blockierte eines Morgens meine Wohnungstür. Ich brachte es runter an die Straße. Der Hausmeister spülte mit dem Schlauch Fäkalien vom Gehweg und als ich vorbeilief, benetzte das Wasser meine Schuhe. Das Magazin drohte mir mit Entlassung, wenn ich nicht pünktlicher wurde. „Deine Nächte gehören dir, aber tagsüber brauchen wir dich an deinem Schreibtisch. Wir haben Aufzeichnungen geführt. Wir haben außerdem auf deinem Computer einen Nachruf auf Philip Glass gefunden." Ich hoffte, den Job lange genug zu behalten, um die zwei Wochen Urlaub, die ich noch hatte, für Lampedusa zu verwenden. Brandon war abgesprungen; er wollte doch in die Berge. Stefan zögerte damit, uns Tickets zu bestellen. „Lass uns fahren", sagte ich. „Ich hasse es hier im Sommer." Ich beschloss, dass eine Pause das Beste für uns sein würde, wenn es mit Lampedusa nicht klappte. Ich hielt dauernd nach Anzeichen Ausschau, dass er mich mit Oliver betrog. Ich las sogar auf Stefans Handy die Nachrichten zwischen ihnen. „Was machst du?" – „Nichts, langweilen" – „ich auch" – „Was trinken?" – „Diese Woche" – „Hab RJ gesehen, trauriger Abschied."

Ich konnte Stefan nicht direkt fragen, warum Oliver sich von RJ verabschiedet hatte, denn dann hätte Stefan gewusst, dass ich spionierte. Ich fragte ihn beiläufig nach RJ, als er im Wohnzimmer Cello übte. „Armer Kerl", sagte Stefan. Seine Saiten waren etwas verstimmt. „So schlimm, dass er seine Wohnung und alles andere verloren hat. Und irgendwo muss er ja hin."

Die Leute aßen nicht viel. Ich bemerkte diesen Trend, wenn ich in Restaurants ging. Sie hatten entweder schon gegessen oder ließen das Abendessen ganz aus. Ich versteckte mich eine Woche lang an meinem Schreibtisch beim Magazin. Die Werbeverträge waren zurückgegangen, also brauchten sie Inhalt, um die leeren Seiten zu füllen. Ich bekam das Stipendium nicht. „Sie waren in der vorletzten Auswahl, doch dann haben wir uns doch für eine andere Richtung entschieden." Olympias Benefizparty zur Rettung des Non-Profit-Kunstzentrums Luminary floppte. Die einzigen Besucher waren auf der Gästeliste gewesen und hatten nichts bezahlt. Sie gab dem Sommerloch die Schuld. Es kursierten Gerüchte, dass ein Serienmörder die Obdachlosen um das East Village mit vergiftetem Gratisessen umbrachte, und wieder dachte ich an Bettina, doch es war nur ein Gerücht und die Zeitungen hatten die Story nicht beachtet. Trotzdem traute sich niemand, Brote zu verteilen. „Stellt euch vor, man könnte Kleingeld vergiften", sagte Ryan. „Wir hätten alle ein Problem."

Ich drehte mich einmal um und es war August. Die Doppeldeckerbusse waren voller Touristen. Ich schrieb Stefan: „Was ist mit unserem Urlaub? Ich dachte, wir fliegen nach Lampedusa." Er antwortete: „Wir müssen reden."

Oliver half Stefan beim Auszug. Sie trugen seine Möbel die fünf Stockwerke runter. Sie nahmen sogar die Pflanzen mit, die wir zusammen gekauft hatten. Aber gut, es war immer mehr sein Ding gewesen, sie zu pflegen. Ich sagte Stefan, er müsse eigentlich für diesen und nächsten Monat noch seine Miete zahlen, wenigstens bis ich einen Nachmieter gefunden hätte. „Ich hab schon für August gezahlt", sagte er und rollte einen Perserteppich ein. „Ich hab dem Hausmeister den Scheck schon vor zwei Wochen gegeben. Rate mal, was ich als Verwendungszweck angegeben habe?" Ich sagte, es sei mir egal. „Da steht: ‚Sagen sie 5F, sie soll Vorhänge anbringen.'"

Ich konnte nicht schlafen. Ich schlief mehrere Nächte lang nicht, obwohl die Ventilatoren auf mich gerichtet waren. Ich sorgte mich um die Obdachlosen, die ermordet wurden, und die Expansionspläne der Universität. Gab es da eine Verbindung? Ich sorgte mich um die Frau des Hausmeisters. Ich sorgte mich um Nikolai in Israel. Eines Morgens stand ich früh auf und lief in der Stille zwischen dem Geschäftsschluss der Kneipen und der morgendlichen Stoßzeit durch die Nachbarschaft. Die aufgehende Sonne färbte die Pfützen orange und grün. Ich ging durch den Park und sah einen jungen Mann mit blondem Haar und roter Brille, der am Tor zur Hundewiese lehnte. Es war RJ. Mein erster Instinkt war zu flüchten. Er winkte mir zu. Sein Fingernagel am kleinen Finger fehlte, an seiner Stelle eine Schwiele wie ein Stück Zitronenschale. Ich fragte, was mit ihm passiert sei, wo er gewesen sei. „Ich bin umgezogen", sagte er lächelnd. „Ich wollte mich mit dir treffen, um mich zu verabschieden."

Um 7 Uhr morgens waren nur wenige Hunde auf der Wiese, und nur zwei von ihnen hatten die Energie, einen Tennisball zu jagen. Ihre Menschen saßen auf Bänken und tranken Kaffee und lasen Zeitung, manche von ihnen noch im Schlafanzug. „Ich bin zurück nach Oklahoma gegangen", sagte RJ. „Aber nach zwei Wochen bei meinem Dad war ich so gelangweilt und so pleite, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Hier bin ich also und fange von vorne an." Ein Labrador versuchte, seinen Maulkorb loszuwerden, indem er seine Schnauze über den Boden rieb. „Root Beer, lass das", rief das Herrchen. Ich erzählte RJ, dass Stefan mich verlassen hatte. „Vielleicht ist das gar nicht so schlimm. Er war für dich ohnehin nur eine Sicherheit." Ich wusste nicht, was das bedeutete, und wollte es auch nicht wissen.

RJ begleitete mich zurück in die 4th Street. Er schien die Zeit totzuschlagen. Wir hielten an der Ecke. „Weißt du, was wirklich wehtut", fing er an, doch dann lenkte ihn etwas hinter mir ab und als ich mich umdrehte, sah ich ihn auch. Ein alter Mann, 60 oder 70, mit einem langen weißen Bart, die grüne Hose um die Knöchel gerafft, kauernd, wie auf einem unsichtbaren Stuhl. Seine Beine waren haarlos und schorfig. Er kackte auf den Gehweg, wobei er eine Hand als Klopapier verwendete und sich mit der anderen am Gebäude abstütze. Seine Augen traten hervor, als er zu uns aufsah, ein Strom farbloser Angst, und er fummelte an seiner Hose, um sie hochzuziehen. Er rief: „Irgendwohin muss ich ja, wo soll ich denn hin."