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The Road to Nowhere Issue

Osteuropas LGBT-Aktivisten wollen mehr sein als ein Charity-Thema für den Westen

Reaktionären nationalistischen Bewegungen und Russlands LGBTQIA-feindlichem Regime sei Dank hinkt Osteuropa dem Westen bei den Homorechten stark hinterher. Kein gutes Gefühl im Nachgang der EuroPride in Riga.

Fotos von Joseph Wolfgang Ohlert

Aus der Wir blicken in den Abgrund Ausgabe 2015

Als Daniel Timofeev als Dreijähriger in dem lettischen Dorf Balvi nahe der russischen Grenze anfing, in die Schals seiner Mutter gehüllt durch sein Zimmer zu tanzen, schrien seine entsetzten Eltern ihn an, er solle aufhören. Sie sprachen es zwar nicht aus, doch sie sahen in diesem Verhalten ein erstes Anzeichen von Homosexualität—in ihren Augen eine Krankheit. Seine Schulkameraden wurden deutlicher, nannten ihn „Schwuchtel" oder „Mädchen", wenn er auf die Toilette ging oder Sport trieb.

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Als Teenager schlich sich Timofeev in die Hauptstadt Riga, um Menschen wie sich selbst zu finden. Es war Anfang der 2000er und das Land versuchte sich nach nur einem Jahrzehnt der Unabhängigkeit von seiner Sowjet-Vergangenheit zu lösen. In Rigaer Clubs lernte Timofeev andere schwule Männer und deren Kultur kennen. „Riga war im Vergleich zu meiner Heimat wie ein Wunderland", sagte er. Doch bei seiner ersten Reise wurde er ausgeraubt, und als ein Mann, mit dem er sich zum Sex verabredet hatte, nicht auftauchte, musste er auf der Straße schlafen. In Riga gab es die einzigen beiden lettischen Clubs, in denen LGBT-Menschen vorübergehend Zuflucht finden konnten. Doch außerhalb der gut geschützten Wände der Clubs war Timofeev derselben verbalen Gewalt ausgesetzt wie in Balvi. Nach seinem Schulabschluss suchte er Möglichkeiten, seine Heimat, in der er sich kaum jemandem anvertrauen konnte, zu verlassen. Auf dem sozialen Netzwerk Draugiem.lv kam er mit einem älteren Mann in Riga ins Gespräch, der ihn kennenlernen wollte. Timofeev fragte, ob der Mann ihn in Balvi abholen würde, und fünf Stunden später war er dort. Timofeev sagte seiner Mutter, er würde ein wenig ausgehen, packte seine Sachen und zog nach Riga.

Dort traf Timofeev auf eine postsowjetische Schwulenkultur, deren Mitglieder sich sehr bemühten, ihre Existenz geheim zu halten. Die UdSSR behauptete offiziell, keine homosexuelle Bevölkerung zu haben, doch ihre Gesetze sahen eine fünfjährige Gefängnisstrafe für Männer vor, die miteinander Sex hatten. Der erste und einzige sowjetische Sexratgeber, Im Namen der Liebe, verfasst vom lettischen Psychotherapeuten Janis Zalitis, bezeichnete Homosexualität als Krankheit, die durch Hypnose geheilt werden könne. Als Lettland unabhängig wurde, schaffte man die sowjetischen Strafgesetze ab, und Anfang der 1990er wurden die ersten Schwulenclubs gegründet. Doch nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft, der eigenen faschistischen Vergangenheit und mit einer erneut erstarkenden Kirche war das neue Lettland zutiefst nationalistisch und allem Fremden gegenüber zutiefst misstrauisch—und als fremd empfand man eindeutig auch Homosexualität. 2003 hielt Lettland im Rahmen der EU-Osterweiterung eine Volksabstimmung zum EU-Beitritt ab. Die Kritiker wollten die so junge lettische Unabhängigkeit nicht aufgeben, doch die Befürworter, die sich weiteren Schutz vor russischem Einfluss erhofften, waren in der Überzahl. Als sich nach dem EU-Beitritt einige Homosexuelle aktivis­tisch betätigten, taten Politiker sie schnell als vom Westen beeinflusst ab—schließlich gab es offiziell immer noch keine Homosexualität in Lettland.

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In Riga verstecken sich Homosexuelle weiterhin. Timofeev dagegen, mit seinem androgyn geschnittenen, violetten Haaren, seiner eng anliegenden Kleidung und dem Rouge auf den Wangen, hält sich nicht sehr bedeckt. Vor ein paar Monaten entdeckte er RuPaul's Drag Race und fing an, mit Drag zu experimentieren. Er fühlt sich sehr wohl in seiner Haut, aber dennoch ist es auch für ihn in der Öffentlichkeit manchmal schwierig. „Jemand hat mir diese Woche ‚Schwuchtel' durchs Autofenster zugerufen. Wenn ich in Bus oder Bahn unterwegs bin, heißt es ständig: ‚Ist das ein Junge, ist das ein Mädchen, warum ist er schwul?'", sagte er. „Damit muss ich leben." Im Januar ging die EU-Ratspräsidentschaft das erste Mal an Lettland. Die Aktivisten für Homosexuellenrechte sahen darin eine Chance für eine Kampagne, denn reaktionäre, nationalistische Bewegungen haben zusammen mit der offen homophoben Regierung des benachbarten Russlands ein Klima erschaffen, in dem Osteuropa hinter den politischen Fortschritten Westeuropas hinterherhinkt. Die Kampagne brachte die EuroPride, eine jährliche, einwöchige Feier der europäischen LGBT-Gemeinschaft, nach Riga. Das erste Mal in 24 Jahren, dass das Event in einem ehemaligen Sowjetstaat mit einer Grenze zu Russland stattfand.

Abgesehen von dem Ziel der symbolischen Solidarität mit den Unterdrückten Russlands sollte EuroPride auch für Homosexuelle aus vielen Ex-Sowjetstaaten wie der Ukraine, Georgien, Kirgisistan und Russland selbst ein Ort sein, an dem sie auf ihre Sache aufmerksam machen und sich organisieren konnten. Die EuroPride Riga sollte ein „historisches" Event mit einem „Menschenrechtsmarsch" werden—der größte öffentliche Auftritt von LGBT-Menschen und deren Verbündeten in der lettischen Geschichte.

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Innerhalb von wenigen Tagen gab es massiven Widerstand. Politiker und Anti-Homosexuellen-Gruppen, die sich „No-Homo-Aktivisten" oder „Anti-Globalisten" nennen, versuchten, EuroPride Riga einen Riegel vorzuschieben. Ohne staatliche Förderung saßen die Organisatoren auf einem Kostenberg, den sie mittels Crowdfunding nur schwer bewältigen konnten.

Als Timofeev von EuroPride in Lettland hörte, war er zunächst nicht beeindruckt. Er wollte eine Feier mit „Dragqueens und Engelsflügeln und Federn", nicht einen ernsten Menschenrechtsmarsch. Mit seinem nonkonformen Auftreten riskiert er bereits im Alltag alles. Für die Pride-Parade wünschte er sich etwas Besseres als blankes Überleben. „Ich protestierte schon jeden Tag, wenn ich nur vor die Tür gehe", sagte er.

Daniel Timofeev in Drag

Rigas erste Pride-Parade fand 2005 statt, nachdem Gabriels Strautinš, der bei der Stockholmer Pride geholfen hatte, aus Schweden zurückkehrte. Seine Absichten waren nicht politisch: Genau wie Timofeev wünschten sich Strautinš und seine Freunde eine Feier. Lettland war im Vorjahr der EU beigetreten und die Genehmigung war schnell eingeholt. Doch bald zeigte sich die Homophobie des Landes. Der lettische Premierminister Aigars Kalvītis sprach sich öffentlich gegen das Event aus. „Es ist inakzeptabel, dass sexuelle Minderheiten im Herzen Rigas, direkt bei der Kathedrale, eine Parade abhalten", sagte er einem Fernsehsender.

Der Rigaer Stadtrat zog die Genehmigung zurück, mit der Begründung, die Parade könne Gewalt auslösen, doch ein Gericht machte diese Entscheidung rückgängig und erlaubte den Demonstranten einen Zug durch die Altstadt. Der Vizebürgermeister Rigas, Juris Lujans, legte sein Amt aus Protest nieder.

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Als die etwa 70 Pride-Teilnehmer sich vor der anglikanischen Kirche im Stadtzentrum versammelten, sahen sie sich etwa 3.000 Menschen gegenüber, die protestierten und sie mit Eiern und Tomaten bewarfen. Die Polizei formte eine Kette um die Pride-Besucher und verlegte die Marschroute zu ihrem Schutz, doch Angreifer drangen zu ihnen vor und griffen sie an. Kaspars Zalitis, einer der Aktivisten, bekam vom aktuellen Parlamentssekretär des Justizministeriums, Janis Iesalnieks, einen Schlag in die Magengrube. „Er erinnert sich vermutlich nicht", sagte er. „Aber ich schon."

Für Kristine Garina war die Gewalt der ersten Pride-Parade ein Schock. Die heterosexuelle Frau aus Riga hatte sich auf Prides in anderen Städten immer gut amüsiert. Sie war in Riga eigentlich nicht zum Marschieren erschienen, doch sie änderte schnell ihre Meinung. „Als ich ankam, sah ich die kleine Gruppe Pride-Aktivisten und eine riesige Menge Gegendemonstranten und dachte: ‚Ich kann das nicht mitansehen, ich muss mitgehen'", sagte sie. Für Garina war es eines der schlimmsten Erlebnisse, dass eine Heldin der lettischen Unabhängigkeitsbewegung, Elita Veidemane, Eier auf die Aktivisten warf. „Diese Frau habe ich respektiert!", sagte sie.

Auf der Parade lernte Garina Zalitis und einige andere Teilnehmer kennen. Sie tauschten Nummern aus und trafen sich im Laufe der nächsten Monate, um zu besprechen, wie die Situation für LGBT-Menschen in Lettland verbessert werden könne. Im Februar des Folgejahres gründeten sie Mozaīka, die einzige lettische Organisation für LGBT-Rechte.

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Nach der ersten Pride wurde das politische Klima um LGBT-Themen in Lettland nur noch feindseliger. Das Parlament weigerte sich, ein Gesetz gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von sexueller Orientierung zu verabschieden, was eine der Bedingungen für den EU-Beitritt 2004 gewesen war, und änderte die Verfassung des Landes dahingehend, dass sie die Ehe explizit als ein Bündnis zwischen einem Mann und einer Frau definierte. Auch neonazistische, ultranationalistische und christliche Organisationen wurden vermehrt aktiv. Sie bekamen Unterstützung in Form von Scott Lively, einem evangelikalen Aktivisten aus den USA, der in Uganda für die Todesstrafe für Homosexuelle geworben hat. Lively tat sich mit einer lettischen Kirche zusammen, um Letten vor dem Eindringen westlichen homosexuellen Gedankenguts zu warnen.

2006 bemühte sich Mozaīka um einen zweiten Marsch unter dem unverfänglicheren Namen Friendship Days. Die Organisatoren der ersten Pride hatten nach den Ereignissen das Land verlassen. Der Stadtrat von Riga wollte den Marsch wieder verbieten, doch Mozaīka legte Widerspruch ein und meldete eine Versammlung im ersten Stock des Reval Hotel Latvija an. Diesmal war es noch schlimmer: Gegendemonstranten blockierten stundenlang die Hoteltüren, griffen Menschen an, die ein und aus gingen, und drangen schließlich zu der Veranstaltung vor. Die Polizei sah alles mit an. Nach einer Messe anlässlich der Riga Pride an jenem Morgen waren Besucher mit faulem Obst, Fäkalien und Weihwasser überschüttet worden.

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Mozaīka organisierte unbeirrt sowohl 2007 als auch 2008 Märsche. Ersterer hatte 800 Teilnehmer und 1.000 Gegendemonstranten. Bei beiden Veranstaltungen waren mehr ausländische als einheimische Teilnehmer zugegen. 2009 arbeitete Mozaīka mit Partnerorganisationen in Litauen und Estland, um eine im Turnus stattfindende Baltic Pride zu starten, die zunächst in Riga stattfinden sollte. Der Stadtrat versuchte erneut ein Verbot und erneut machte ein Gericht die Entscheidung rückgängig. Zur Baltic Pride Riga 2012 kamen etwa 600 Menschen und 100 Gegendemonstranten. Der Traum von einem größeren Event für die Pride 2015 nahm in dieser Zeit Form an. „In dem Jahr würde Lettland die EU-Ratspräsidentschaft haben, es war das zehnjährige Jubiläum der ersten Pride und das 25. Jubiläum des Falls der Sowjetunion", sagte Garina. „Wir dachten: ‚Das ist ein gutes Jahr, um die EuroPride nach Riga zu holen."

Kaspars Zalitis, ein Mozaīka-Organisator

Die EuroPride wurde 1992, auf der Höhe der AIDS-Epidemie, in London gegründet. Sie sollte europäischen Homosexuellen die Chance geben, sich jährlich zu versammeln und ihre kollektive Macht zu demonstrieren.

Die Prides von Riga hatten auf die homosexuelle Bevölkerung der Stadt aufmerksam gemacht, doch ihr Einfluss war begrenzt und die Homophobie übermächtig. EuroPride mit seinen unzähligen treuen Besuchern hatte das Potenzial, das Augenmerk Europas auf die Probleme der lettischen LGBT-Bevölkerung zu lenken. Riga schien gegenüber Städten wie Barcelona, Manchester und Mailand keine logische Wahl. „Wir hatten keine staatliche Unterstützung wie Manchester. Und es würde auch keine so große Party werden wie in Mailand oder Barcelona. Und wie du sehen kannst, ist das Wetter in Riga scheiße!", sagte Garina. Ohne Gelder von Firmen oder dem Staat mussten die Organisatoren sich einzig auf die politische Dringlichkeit ihrer Bewerbung verlassen. Mozaīka beschloss, sie als eine Chance darzustellen, Lettland zum „Leuchtfeuer der Hoffnung für osteuropäische Länder", zu machen, so Hans De Meyer, Präsident der European Pride Organisers Association (EPOA). Und da sich manche vielleicht von dem so politischen Charakter der Pride überfordert fühlten, zumal die Parade ja als Party bekannt war, versprach EuroPride Riga: „Changing history is hot!"

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Das Kulturzentrum Kaņepes ist umgeben von Rigaer Wahrzeichen: die Alte Kirche der Heiligen Gertrud, das Jüdische Museum und das ehemalige KGB-Gebäude. Für die einwöchige EuroPride hatte Mozaīka das Kulturzentrum, einst ein Treffpunkt für russische und baltische Aristokraten, zum „Pride House" transformiert, in dem sich Besucher und Besucherinnen versammeln konnten. Sie hissten die Regenbogenflagge im Hof—laut der EuroPride-Website das erste Mal, dass dies in Lettland in der Öffentlichkeit geschah.

Ich traf mich am 17. Juni mit Zalitis und Garina. Dies war sowohl der dritte Tag der EuroPride als auch ein lettischer Feiertag zum Gedenken an den Beginn der sowjetischen Besatzung 1940. Zu Ehren des Tages musste jede Wohneinheit die lettische Flagge mit einer schwarzen Schleife aufhängen. Viele lettische EuroPride-Gegner waren wütend über das Zusammenfallen des Events mit dem Feiertag. Ein lutherischer Pfarrer hatte als Protest gegen EuroPride eine schwarze Flagge vor seine Kirche gehängt; er verglich die LGBT-Community mit Kommunisten und Nazis und versprach, auch sie müssten sich eines Tages für ihren Schaden an der Gesellschaft verantworten. Zalitis, der sich an jenem Morgen in der Nationalbibliothek mit einer niederländischen Prinzessin getroffen hatte, bewegte das wenig: „Ich habe es satt zu weinen. Letten sind Meister im Leiden. Wenn sie in dieser mentalen Sowjetunion leben wollen, bitte. Aber ich will mein Land verbessern. Ich will, dass Leute hierherkommen und sehen, wie schön es ist."

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Diese Parade sollte, ganz gleich wie viele Gegendemonstranten auftauchten, die größte Pride-Parade der baltischen Geschichte werden.

Ein paar Tausend internationale Gäste hatten genau das schon getan. Sie waren aus allen Teilen Europas gekommen, um das EuroPride-Programm zu erleben: die erste historische LGBT-Ausstellung Lettlands, die erste queere Kunstaustellung, Vorführungen, Filme und Workshops über Themen wie Transgenderrechte und LGBT-Organisation in Osteuropa. Natürlich gab es auch fast jeden Abend Partys, darunter zwei, die bis in die frühen Stunden des Samstags gingen, an dem das eigentliche Großereignis wartete: die Pride-Parade. Diese Parade sollte, ganz gleich wie viele Gegendemonstranten auftauchten, die größte Pride-Parade der baltischen Geschichte werden.

Nicht nur hat Mozaīka EuroPride nach Riga gebracht, die Organisation betreibt auch Kampagnen, um Homosexuellenrechte in Lettland durchzusetzen. In den vergangenen zehn Jahren hat sie die LGBT-Jugendgruppe Skapis (lettisch für „Schrank") eine LGBT-Bibliothek und das erste Basketballteam für Frauen gegründet. Mozaīka wirbt auch für die Einführung eingetragener Partnerschaften, die sich unabhängig vom Geschlecht auf alle zusammenlebenden Paare beziehen würden, und führt eine Datenbank über von Hass motivierte Verbrechen an der LGBT-Bevölkerung, da der Staat diese Motivation nicht anerkennt. Das Parlament kam letztendlich der EU-Auflage nach, Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund sexueller Orientierung zu verbieten, doch sie bleibt in allen anderen Bereichen legal. Das Gesetz wurde 2006 verabschiedet und kaum jemand beruft sich heute darauf, denn dazu müsste man offen homosexuell sein. „Das macht es oft unmöglich, die Diskriminierung zu dokumentieren", sagte Garina. Mozaīka hat es auch zu seiner Mission gemacht, Homosexuellen das „Selbstvertrauen" für ein Coming-out zu geben. Die Aktivisten sind der Meinung, dass es ohne Coming-outs keinen Fortschritt für die LGBT-Community geben kann.

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„Die politische Stimmung ändert sich, und ich denke, unser größter Kampf sind im Moment die Leute, die sich einfach nicht bekennen", sagte Garina mir gegenüber.

Es gibt etwa 50 EuroPride-Freiwillige vor Ort und nach Garinas Einschätzung sind diese vermutlich die einzigen 50 Menschen in ganz Lettland, die kein Problem damit haben, mit der LGBT-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden. Etwa die Hälfte aller Aktivisten seien laut Garina hetero. Sie schätzt, etwa 150 Leute würden die Schwulenbars besuchen, doch die meisten seien nicht offen homosexuell. Sie erzählte mir von einer Transfrau, die einmal im Jahr betrunken bei Mozaīka anruft. „Sie hat sonst niemanden, der ihr zuhört", sagte sie. Mozaīka-Helfer ermutigen sie, im Büro vorbeizukommen, doch sie ist immer so betrunken, dass sie nicht mehr gehen kann.

Bevor ich nach Lettland reiste, ließ ich einen Freund auf der schwulen Netzwerkseite DudesNude.com nach lettischen Interviewpartnern suchen. Von den sieben Männern, die er anschrieb, antwortete nur einer. „Ich würde nie auf die Riga Pride gehen, zu viel Hass", sagte er. „Ich werde in Barcelona sein." Als ich Garina davon erzählte, war sie kurz still und sagte dann: „Das verletzt mich ein wenig, denn er erwartet damit, dass andere Leute seine Kämpfe austragen. Aber ich verstehe seine Zurückhaltung."

Am ersten Tag der EuroPride veröffentlichte Tālivaldis Kronbergs, Kulturarbeiter und Redakteur der Seite Pride.lv, einen offenen Brief mit dem Titel „Endlich ein öffentliches Coming-out: Warum ich es satt habe, dass Kārlis Streips der einzige homosexuelle Mann in Lettland ist". Streips, ein Journalist und TV-Kommentator, war über Jahre die einzige offen homosexuelle Person in den lettischen Medien. Letzten November wurde der Außenminister Lettlands, Edgars Rinkēvičs, mit seinem Coming-out auf Twitter zur zweiten. Mozaīka halfen Rinkēvičs auf Twitter, Unterstützung zu generieren, doch seine Beliebtheit ist in Umfragen seither um 20 Prozent gesunken.

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Bald darauf veröffentlichte der Direktor der lettischen Nationaloper, Zigmars Liepiņš, einen Artikel, in dem er den Außenminister verspottete und sich als heterosexueller, weißer, christlicher Mann outete, eine Identität, die schon bald gefährdet sei. Im heutigen Lettland triefen die Onlinekommentare nur so vor Homophobie. „Wenn du auf die beliebtesten Websites gehst, wie Apollo.lv, und fünf Kommentare liest, dann reicht das schon", sagte mir Annija Sprivule, eine 27-jährige Jugendgruppenleiterin bei Mozaīka. Was man dagegen nicht messen kann und was vielleicht noch gefährlicher ist, ist das Schweigen der meisten Letten. „Es ist eine Kultur des Schweigens", sagte Sprivule.

In Kronbergs' Brief stand, er habe es „satt, stumm zu blei­ben und Idiotie zuzuhören … über mich selbst und andere homosexuelle Menschen". Er beschloss, die Woche der EuroPride sei der beste Zeitpunkt für sein Coming-out. „Viele von euch werden vermutlich fragen: ‚Ja und?'", schrieb er, doch er erinnerte die Leserschaft daran, dass Lettland nicht Westeuropa sei. Menschen in Lettland müssen geheime Doppelleben führen, weil der Verlust ihrer Jobs eine reale Gefahr darstellt. Laut Kronbergs müssen Homosexuelle die Freiheit haben sich zu outen, denn das Land laufe Gefahr, „eine ganze Gemeinschaft an die Emigration zu verlieren … Wir werden die Gesellschaft ernten, die wir säen."

Seit der ersten Pride sind viele aus der lettischen LGBT-Bevölkerung in tolerantere EU-Staaten ausgewandert. (Viele Leute erzählten mir den Witz, London sei nun eine der größten Städte Lettlands.) Ein solcher Flüchtiger war ein Gründungsmitglied von Mozaīka, der Lehrer und Geistliche Māris Sants. Er verließ Riga vor Kurzem, nachdem ihm eine Lehrerposition verweigert wurde und die evangelisch-lutherische Kirche Lettlands ihn exkommunizierte. Am vierten Tag der EuroPride verabschiedete das lettische Parlament dann auch noch ein Gesetz, das ähnlich dem berüchtigten russischen Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda" auf die Lehrer des Landes abzielte. Das Gesetz über „unmoralische Lehren" besagt: „Das Bildungssystem soll die moralische Erziehung der zu Erziehenden sicherstellen, im Einklang mit den Werten, die in der Verfassung der Republik Lettland verankert sind, insbesondere im Bereich der Ehe und Familie." Der Wortlaut des Gesetzes war zwar vage, doch die Botschaft kam in liberalen und homosexuellen Gemeinschaften laut und deutlich an: LGBT-Lehrerinnen und -Lehrer sowie ihre Unterstützer stehen unter Beobachtung.

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Mozaīkas Strategie, Leute zum Coming-out zu bewegen, ist hauptsächlich eine Reaktion auf die Gesetze und Einstellungen, die Menschen davon abhalten sollen, ihre Identitäten öffentlich anzuerkennen. Im Westen waren in den vergangenen 40 Jahren Fortschritte im Kampf um grundlegende Rechte oft das Ergebnis von Sichtbarkeitskampagnen—von den Stonewall Riots über die Anti-AIDS-Arbeit von ACT UP bis hin zu den Medienstrategien, die die Homo-Ehe ermöglicht haben. Doch viele, denen ich in Riga begegnete, stellten infrage, ob dieser Ansatz so universell anwendbar sei. Selbst Kronbergs betonte mir gegenüber, er habe die Leute mit seinem Coming-out nicht dazu animieren wollen, sich in der Öffentlichkeit „homosexuell zu verhalten".

Im Pride House begegne ich einem Arbeiter, der gern mit einer VICE-Autorin sprechen wollte („Ich hätte mich nur mehr freuen können, wenn du von BUTT wärst", sagte er), solange er anonym bleiben konnte. Zwar half er als Freiwilliger bei der EuroPride, doch hatte er nicht vor, auf der Parade ein entsprechendes T-Shirt zu tragen oder seine Beteiligung auf Facebook festzuhalten. Die Vorstellung, etwas stimme mit ihm nicht, weil er seine Privatsphäre wahren wollte, passte ihm nicht. „Woher kommt diese Ansicht, dass geoutet sein das Richtige ist?", fragte er. „Dass es fürs Gemeinwohl das Beste ist, wenn alle sich outen? Wer hat das festgelegt?" Als ich ihn fragte, was er mit seiner Freiwilligenarbeit bewirken wolle, sagte er: „Es geht nicht nur darum, Menschen zum Coming-out zu ermutigen. Es geht darum, alles zum Überkochen zu bringen."

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Für viele Aktivisten war EuroPride Riga eine willkommene Gelegenheit, Strategien zur Durchsetzung ihrer Rechte zu besprechen, die in fast allen osteuropäischen Ländern weit hinter Westeuropa herhinken. Vor einem Hotel, wo eine Diskussion der „Erfolge und Herausforderungen" der LGBT-Bewegungen in Ost- und Mitteleuropa stattfand, begegnete ich Armen Buonarroti, einem armenischen Aktivisten und Journalisten, und Olena Schewtschenko, Vorsitzende der ukrainischen LGBT-Organisation Insight. Die beiden würden an jenem Nachmittag mit Kaspars Zalitis im lettischen Fernsehen auftreten, um LGBT-Rechte in ihren Ländern zu besprechen. Ihr Ziel war eine Annäherung an die EU-Position und eine Distanzierung von der russischen. „Wir nähern uns Europa und europäischen Menschenrechtsstandards", sagte sie.

Drinnen hielt eine weitere ukrainische Aktivistin, Anna Dovgopol, einen Vortrag über die kürzlich in Kiew stattgefundene, von ihr mitorganisierte Pride. Sie hatte am 6. Juni stattgefunden und viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren im Vorjahr Teil der Euromaidan-Proteste gewesen. Die Homosexuellenrechtler wurden, wie schon die Euromaidan-Demonstranten, als westliche Unterwanderer abgetan.

„Aber inwiefern sind Menschenrechte ein westliches Konzept?", fragte Dovgopol. „Sie sollten nicht als westliches Thema gelten." Bei der Pride in Kiew kam es zu Gewalt: 25 Protestierende wurden festgenommen, nachdem 20 Menschen, darunter neun Polizisten, verletzt wurden. Einem der Polizisten zerriss ein von den Angreifern geworfener Böller eine Halsarterie. Obwohl die Gegendemonstranten für seine Verletzung verantwortlich waren, sammelten Pride-Teilnehmer Geld, um seine Operation zu bezahlen.

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Nach ihrem Vortrag sprach Dovgopol mit mir in der Hotellobby über die Hindernisse, mit denen Gruppen für LGBT-Rechte konfrontiert sind, wenn sie versuchen, bei einer breiten osteuropäischen Öffentlichkeit anzukommen. Es gab gegen die Pride in Kiew nicht nur homophobe Proteste, sondern auch Kritik seitens der Linken: „Sie warfen uns Homonationalismus vor und wollten, dass wir antikapitalistische Parolen verwenden", sagte sie. „Aber in diesem Land darf man noch nicht einmal das Wort ‚Feminismus' verwenden. Wenn wir ein Programm verfolgen, das noch linker ist, bekommen wir noch weniger Verständnis."

Doch die Blaupause für die Verbesserung der osteuropäische Situation und die Vorstellungen, die auf der EuroPride vorherrschen, stammen tatsächlich aus dem Westen. So kritisiert die Rechte sie für die Nähe zum Westen und die Linke als zu mainstreamig.

Doch in einer Region, in der es in manchen Fällen schon illegal ist, an einer Pride überhaupt nur teilzunehmen (bei der inoffiziellen Pride von Moskau wurden dieses Jahr mindestens zehn Teilnehmer verhaftet, darunter zwei Organisatoren, die zehntägige Gefängnisstrafen absitzen mussten), ist es weiterhin radikal, wenn homosexuelle Menschen zusammenkommen und verkünden: „Wir existieren."

Vor der EuroPride war ich das letzte Mal 2008 in Riga gewesen, um meine Großeltern zu besuchen. Meine Großmutter nannte mich häufig „alte Jungfer", nahm genau mein Gesicht und meinen Körper in Augenschein und rief dann: „Ich weiß nicht, woran es liegt, aber Männer mögen sie einfach nicht!" Unter ihrer Aufsicht durfte ich nicht nur abends nicht ausgehen, sondern auch nicht lesbisch sein.

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Vor jener Reise hatte ich online eine Bar namens Purvs, lettisch für „Sumpf" gefunden, die sich als Club für „gejiem, lesbietēm, biseksuāļiem, transvestītiem" bezeichnete. Ich war fasziniert von dem subversiven Potenzial solcher Orte und wollte das Purvs unbedingt besuchen. In den Tagen vor meiner Ankunft durchsuchte ich MySpace nach lettischen Lesben. Die meisten Frauen, die ich fand, sahen aus wie Pornodarstellerinnen, bis ich Marina fand, eine feministisch-anarchistische Punkerin, die viel mehr meinem Geschmack entsprach. Obwohl sie eigentlich hetero war (sie nannte sich in ihrem Profil lesbisch, um Männer fernzuhalten), willigte sie ein, mit mir hinzugehen.

Das Purvs war im Erdgeschoss eines Wohngebäudes in der Nähe des Ziedoņdārzs-Parks. Ein in Regenbogenfarben bemaltes Fenster krönte die Tür des Clubs. Innen erstrahlte alles in fluoreszierendem Pink, Blau und Violett. Leuchtende Blumen säumten die Wände um die Tanzfläche, und Diskolichter tanzten wie Glühwürmchen darüber hinweg.

Das Purvs fühlte sich für mich surreal an, wie eine queere Zukunftsvision, doch die Realität holte mich auch hier schnell ein. Eine Frau sagte mir auf der Tanzfläche: „Es ist so toll, dass du uns hier besuchst. Aber wir können draußen nicht mal Händchen halten. Man würde uns zusammenschlagen." Im Purvs erfuhr ich auch von den Fäkalien auf der Pride 2006, den Menschenrechtsverletzungen und den homophoben Kirchen. Trotzdem tanzte ich die ganze Nacht mit Marina und hoffte insgeheim, sie wäre vielleicht doch ein bisschen an mir interessiert.

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Rigas frühe Schwulen- und Lesbenclubs waren formlos und tauchten nachts in Lokalen auf, die tagsüber andere Zwecke erfüllten. Während der Sowjetzeit trafen sich Leute in einer Bar, die den Spitznamen „Closet" hatte, in der Nähe des Freiheitsdenkmals im Stadtzentrum. Die erste postsowjetische Schwulenbar Rigas wurde 1991 im Obergeschoss eines Privathauses eröffnet und die zweite tauchte 1992 in einem privaten Keller auf. „Um dorthin zu gelangen, musstest du eine Treppe hoch, wo Hausbewohner dich durch ihre Eingangstür beobachtet haben", erzählte mir Karlis Streips, die Fernsehberühmtheit. „Dann kam ein Korridor mit Rohren an der Decke, unter denen du dich durchbücken musstest." Die nächste Bar, Apceina, was „kleine Apotheke" bedeutet, befand sich im Keller des Museums für Medizingeschichte, dessen Direktor schwul war.

Die ersten offiziellen Clubs für Homosexuelle in Riga waren das Purvs und eine Bar namens 818, die beide 1995 eröffnet wurden. Als Nächstes kam 1999 XXL, eine Disko mit ukrainischen Besitzern, und dann 2005 das Golden, ein Club mit Lounge. Laut Streips kann es in Riga nur zwei Lokale für Homosexuelle gleichzeitig geben, also schloss das Purvs ein paar Jahre nach der Eröffnung des Golden.

Das XXL ist zwar die älteste Schwulenbar in Riga, doch es wurde weder bei den EuroPride-Events noch in Touristenbroschüren erwähnt. Ich beschloss, mir anzusehen, wie dieser verborgene Teil der Rigaer Gay-Kultur aussah. Vor der Bar hing ein Regenbogenschild mit der Aufschrift „Sauna". Wie auch im Purvs gab es hier strenge Sicherheitsmaßnahmen: Gäste mussten eine Klingel betätigen, auf der „Gesichtskontrolle" stand, und Eintritt bezahlen (10 Euro, der Sonderpreis anlässlich der EuroPride). In einer Ecke tanzte ein muskulöser Mann mit schwarzer Perücke, Bustiertop und Netzstrumpfhose müßig im Sidestep vor einer Stripperstange. Entlang eines Korridors gab es schwarze Räume mit Gloryholes und Labyrinthen, ein Zimmer, in dem gratis HIV-Tests durchgeführt wurden, und einen Dancefloor mit einem Wandgemälde von Madonna, die ihr Gesicht an einen sehr blassen Hintern schmiegte.

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Mehr als eine Person sagte mir, man könne die Kluft zwischen ethnischen Letten und Russen in den Schwulenbars sehen. „Im XXL gibt es mehr Russischsprachige, mit Darkrooms und Geheimhaltung", sagte mir ein schwuler Lette. „Im Golden sind die Getränke teuer, es ist heller, mehr eine Lounge, kein Schmuddelkram und alle sind sehr offen." Im XXL wird russische Musik gespielt, was viele lettische Clubs kategorisch ablehnen—ein Zeichen des anhaltenden Grolls über die Sowjetbesatzung. Das Golden zählt zu diesen Clubs, und dort gab es anlässlich der EuroPride ein paar Nächte mit baltischer Musik.

Ruslans Kaflevskis, Mitinhaber des XXL, stört der lettische Nationalismus genauso wie die pro-europäischen Haltungen in der homosexuellen Bevölkerung Lettlands. „Gay ist gay. Ob du aus Russland, Lettland, Ukraine oder den USA kommst, Homosexuelle haben keine Nationalität." Sein lettischer Freund, Sergejs Rimss, der alle paar Minuten aufstand, um „nicht aggressive" Leute hineinzulassen, sagte, Mozaīka würde nur mit dem Golden arbeiten, denn „wir sind ihnen nicht nationalistisch genug". Mozaīka sagte mir, das XXL sei berüchtigt dafür, europäische Touristen über den Tisch zu ziehen, was Onlinerezensionen des Clubs deutlich bestätigten—definitiv nicht das Gesicht des homosexuellen Riga, das die EuroPride der Welt zeigen wollte.

Die Atmosphäre im XXL, so spaßig das Schmuddelige daran auch war, war derart von Heimlichtuerei durchzogen, dass es schon ein wenig bedrohlich wirkte. Minuten nach meiner Ankunft versuchte ein Mann mit Sonnenbrille meinen Fotografen anzugreifen, nachdem dieser ihn um ein Foto bat. Offensichtlich wollten viele XXL-Besucher nicht, dass ihre Orientierung auch außerhalb des Clubs bekannt wurde.

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Das Purvs, das ich 2008 besucht hatte, hatte vorübergehend einen Ort geboten, an dem alles möglich schien—ein Zuhause für lettische Homosexuelle nach dem Fall der Sowjetunion und in den Anfangsjahren der ersehnten Unabhängigkeit. Das XXL und das Golden hingegen zeigen ein Lettland beherrscht vom Nationalismus und dem Druck, sich zwischen Russland und EU entscheiden zu müssen. Dieser aggressive Showdown zwischen zwei Clubs hat wenig Raum für lesbische und bisexuelle Frauen gelassen. Purvs war für beide Geschlechter, doch weder XXL noch Golden fühlten sich besonders frauenfreundlich an. Im Monat vor der EuroPride war in der Altstadt die erste Bar eröffnet worden, die sich spezifisch an Lesben richtete: H-People.

Noch handelt es sich dabei nur um ein „Projekt", geöffnet an Freitag- und Samstagabenden, und das Publikum ist ethnisch gemischt. Mal sehen, welche Bar das H-People nach Streips' Theorie ablöst.

Am Samstagmorgen der Parade versammelten sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Vērmanes-Park, den die Organisatoren für die Woche in „Pride Park" umbenannt hatten. Der Park ist groß, zentral und leicht zu bewachen. Entlang der Grenze des Parks standen Barrikaden und Polizisten in Schutzausrüstung. Einheimische blickten mit unergründlichen Gesichtern durch die Zäune auf den bunten Menschenstrom, der den Park betrat. Es gab Repräsentanten von der EU, der US-Botschaft, Stonewall 50, politischen NGOs wie Amnesty International und ILGA-Europe, sowie diverse Prides—Kopenhagen, Hamburg, Queens Pride. Alles war voller Regenbogen- und EU-Fahnen. Viele der osteuropäischen LGBT-Aktivisten, denen ich im Laufe der Woche begegnet war, erschienen in traditionellen Trachten. Eine Gruppe hielt ein Banner, auf dem stand: „EuroPride, come to Moscow next!" In ihrer Nähe stand eine Gruppe russischer Männer in Diademen und rosafarbenen und blauen Tutus, die mir versicherten, sie seien keine Aktivisten und nur zum Spaß da.

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Große Straßenveranstaltungen—ob Feiern oder Proteste—sind in Lettland nicht verbreitet. „Letten sind es nicht gewöhnt, für ihre Rechte zu demonstrieren", sagte ein schwuler Regierungsangestellter, der anonym bleiben wollte. „Es gibt mehr Interesse an Blumenkranzzeremonien und stillem Gedenken." Politische Märsche werden mit der Sowjetzeit assoziiert, als die Leute an Staatsfeiern teilnehmen oder andernfalls den Verlust ihrer Jobs befürchten mussten. Daher war man gespannt darauf, ob die Letten sich bei einer so großen Demonstration wie dieser wohlfühlen würden. „Das Tollste wäre, viele Einheimische zu sehen", sagte Annija Sprivule.

Als der Umzug den Park verließ, lernte ich eine junge Frau mit langem weißen Haar, Stachelnietenhalsband und violetten Kontaktlinsen kennen. Sie sagte, sie sei mit einer Gruppe Hetero-Frauen dort, um ihre lesbischen und schwulen Freunde zu unterstützen, die sich nicht trauten, selbst hinzugehen. „Sie wollen nicht mit Scheiße beworfen werden", sagte sie.

Um die erste Wegbiegung wurde eine kleine Handvoll Gegendemonstranten sichtbar. Sie hielten Schilder mit Sprüchen wie „Finger weg von unseren Ärschen", und zeigten ihre Daumen nach unten. Die Pride-Parade musste aufpassen, nicht auf ein Ei zu treten, das auf dem Kopfsteinpflaster zerplatzt war, doch die Person, die es geworfen hatte, war schnell verhaftet worden, bevor sie mehr Eier werfen konnte. Es waren deutlich mehr als die 2.000 von Mozaīka erwarteten Teilnehmer bei der Parade, während die ca. 40 Gegendemonstranten kaum ins Gewicht fielen.

Nach 30 Minuten war die Menge ausgezeichneter Stimmung. Entlang der Strecke schallten aus Autos Queen, Beyoncé und ABBA. Menschen aus aller Welt bildeten Sprechchöre und hielten ihre Schilder hoch: „Angry queer feminists against categories", „Queers against Austerity", „Don't swap Struggle for Pride. Don't sell Pride for the Euro". Als die Parade an Outlet Optika in der Tērbatas-Straße vorbeikam, sah ich Daniel Timofeev von drinnen zuschauen.

Obwohl er nicht vorgehabt hatte teilzunehmen, verleitete ihn die Größe und Lebhaftigkeit der Parade, aus dem Laden zu rennen, in dem er arbeitete, und zu „Happy" von Pharrell mitzutanzen. Am Ende war die Pride in Riga nicht die gewalttätige Angelegenheit, die man befürchtet hatte, doch Homosexuelle in anderen Ländern wurden nicht verschont. Nur Tage nach der EuroPride setzte die Polizei von Istanbul Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen die friedlichen Teilnehmer der dortigen Pride ein. Und in Jerusalem stach ein ultraorthodoxer Westbank-Siedler bei der jährlichen Pride auf sechs Menschen ein, wobei er ein Mädchen tötete. Israel hat sich stark darum bemüht, sich als Hochburg der Homosexuellenrechte in Nahost zu positionieren, und Premierminister Benjamin Netanyahu hat nachdrücklich versprochen, den Täter angemessen zu bestrafen.

Als die Parade schließlich zum Vērmanes-Park zurückkehrte, hielt Zalitis von einer Bühne aus eine triumphale Rede. „Vor zehn Jahren waren wir 70 gegen 3.000 Gegendemonstranten. Dieses Jahr sind wir 5.000 gegen vielleicht 40", sagte er. „2006 bewarfen sie uns—all das hat ein Ende, wie das Schweigen."

Zalitis ermutigte alle Letten und Lettinnen in der Menge, eine Mozaīka-Petition für das Lebensgemeinschafts-Gesetz zu unterschreiben, um das sich die Organisation bemüht. Wenn die Petition es auf mindestens 10.000 Unterschriften bringt, wäre das Parlament verpflichtet, sie zu besprechen.

Ein Regierungsangestellter in der Menge sagte mir, dass das Gesetz höchstwahrscheinlich nicht verabschiedet werden würde, auch wenn es so aussah, als würde Mozaīka die benötigten Unterschriften bekommen. Der Justizminister Dzintars Rasnačs hat deutlich gemacht, dass er sich dem Gesetz so gut wie möglich entgegenstellen wird. „Eingetragene Partnerschaften sind der erste Schritt in Richtung einer Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe", sagte Rasnačs den lettischen Medien. „Und darauf folgt wahrscheinlich der nächste Schritt: Adoption seitens solcher Paare."

Nach der Parade traf ich in einer Bar einige lettische Auswanderer, die für die EuroPride in ihr Heimatland zurückgekehrt waren. Liene Dobraja, eine in New York lebende Kostümdesignerin und Zalitis' beste Freundin, kamen fast die Tränen. „Das hier ist der wichtigste Tag meines Lebens", sagte sie. Margo Zālīte, eine queere Opernregisseurin, die hauptsächlich aufgrund der Situation der lettischen LGBT-Bevölkerung nach Berlin gezogen ist, sagte, dank der Parade könne sie sich wieder ein Leben in Riga vorstellen. Doch Kaspars Vanags, der zurückgekehrt war, um die Kunstausstellung der EuroPride zu kuratieren, verbrachte den Großteil des Abends in sein Handy vertieft. Er stritt sich auf Facebook mit Gegnern der Parade.

Die Gegendemonstranten waren vielleicht zu Hause geblieben, doch das hielt sie nicht davon ab, ihre Meinung im Internet kundzutun. EuroPride hat der lettischen LGBT-Community erfolgreich Sichtbarkeit verschafft und sie in noch nie dagewesener Zahl auf die Straßen gebracht, doch die Homophobie ist deswegen nicht über Nacht verschwunden. Nur ein paar Tage später schrieb mir Dobraja, sie sei mit ihrer Familie in einen altbekannten Streit verwickelt: Sie musste schon wieder den Unterschied zwischen einem pädophilen und einem homosexuellen Menschen erklären. „Das zeigt einfach nur, wie viel sich noch tun muss", sagte sie.

Auf meinem Rückflug von Riga nach New York saß ich zwischen einem Ukrainer, der außerhalb von New York City lebte, und einem russischen Teenager, der unterwegs zu einem Sprachkurs in Connecticut war. Der Ukrainer und ich unterhielten uns, und ab und zu nahm der Teenager seine Kopfhörer ab, um etwas beizusteuern. Der Ukrainer erzählte mir, er sei dabei, seine Geschäfte in New York zu schließen, um nach Russland zu ziehen.

Wenn ein schwuler Mann meinem Kind nahekäme, würde ich ihn umbringen.

Seine Gründe waren politisch. „In Amerika halte ich es nicht länger aus", sagte er. „Warum sind amerikanische Truppen in der Ukraine? Viele Leute glauben, es gäbe bald Krieg, und wenn das so wäre, dann würde ich auf der russischen Seite gegen die USA kämpfen." Er und der Teenager erklärten daraufhin, warum die Ukraine eindeutig zur russischen Domäne gehöre. Als ich sagte, dass ich Lettin sei, kritisierte er die Entscheidung Lettlands, sich EU-konform zu zeigen und Sanktionen gegen Russland zu verhängen. „Niemand in der EU will den Fisch und die anderen Sachen aus Lettland", sagte er. „Es ist der größte Fehler, den sie jemals hätten machen können." Ich fand seine Kritik des EU-Imperialismus erfrischend, auch wenn sie überzogen war, und das sagte ich ihm. Ich wollte wissen, ob das hieß, dass er bei anderen Fragen progressiv war, und fragte ihn nach seiner Meinung zu anderen sozialen Themen in Russland, wie dem Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda". „Dieses Thema hasse ich", sagte er. „In Russland gibt es keine Homosexuellen." Ich dachte an die Tutu tragenden Russen auf der Parade und die Gruppe, die „Russland wird frei sein" skandierte, als sie Seite an Seite mit lettischen Homosexuellen marschierte. „Ich habe einen Haufen russischer Homosexueller in Lettland getroffen", sagte ich. Vor lauter Unruhe hielt es ihn kaum im Sitz. Er lehnte sich vor. „Hast du das Gesetz überhaupt gelesen? Na? Da steht nichts Schlechtes drin." Ich bereute, das Thema angesprochen zu haben. „Ja, das Gesetz ist nur, damit Kinder es nicht sehen müssen", meldete sich der Teenager ernsthaft zu Wort. Ein Schild von der Parade mit der Aufschrift „Ich bin keine Propaganda" tauchte vor meinem inneren Auge auf.

Der Ukrainer erhitzte sich weiter und erzählte mir, wie er bei zwei verschiedenen Gelegenheiten Männer geschlagen hatte, die sich ihm genähert hätten. „Früher war ich mal sehr gutaussehend", sagte er. Wenn ich jedes Mal gewalttätig werden würde, wenn ich unerwünschte Aufmerksamkeit bekäme, säße ich schon im Gefängnis, sagte ich. Er war geschockt: „Svetlana, wie kannst du das vergleichen? Lass mich dich fragen, bist du homosexuell? Ich habe nichts gegen Lesben. Ich mag sie sogar manchmal." Ich antwortete nicht auf seine Frage. „Ich bin Aktivistin", sagte ich. Die Wut blitzte aus seinen blauen Augen und er sagte mit gepresster Stimme: „Wenn ein schwuler Mann meinem Kind nahekäme, würde ich ihn umbringen." Er griff mich an, und es war ihm völlig bewusst. Der Teenager starrte aus dem Fenster. Ich weinte und versuchte, es zu verbergen. „Ich will mich nicht mehr unterhalten", sagte ich.

In Riga wollte ich aufmerksam den verschiedenen Stimmen der lettischen LGBT-Community zuhören. Ich vermied bewusst Interviews mit Hasspredigern und Homophoben, doch die letzten acht Stunden meiner Reise verbrachte ich eingepfercht zwischen verbaler Gewalt und ihr zustimmendem Schweigen. Die EuroPride hatte es sich zur Mission gemacht, der Region deutlich zu sagen, dass homosexuelle Menschen existieren. Als ich zwischen zwei osteuropäischen Männern festsaß, die das abstritten, wurde mir klar, wie unmöglich es ist, das alleine zu sagen.