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Wer nicht diskriminiert werden will, ist noch lange keine Heulsuse

31,4 Prozent der Menschen in Deutschland fühlen sich diskriminiert. Das sollten wir ernstnehmen, statt dumme Witze zu machen.

Foto: Flickr | Alfonso Cárdenas Ortega | CC BY 2.0

Ob wir es wollen oder nicht, wer schlank, weiß, jung und schön ist, hat es in unserer Welt leichter. Weil unsere Gesellschaft schlanke (aber bitte auch nicht ZU dünne), weiße, junge schöne Menschen irgendwie lieber mag als alle anderen. Warum auch immer. Hinzu kommen weitere Eigenschaften, die ihr besser haben solltet, wenn ihr frei von Diskriminierung durchs Leben gehen wollt. Ihr solltet einen gesunden Körper haben, zumindest „nicht arm" sein, euer Gender sollte eurem Geburtsgeschlecht entsprechen (das nennt sich übrigens Cis und ist das Gegenstück zu Trans oder Fluid), am besten seid ihr heterosexuell und wenn wir schon mal dabei sind: Muslim oder Jude zu sein, ist in vielen Teilen der Welt auch kein Zuckerschlecken.

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Ich könnte mich an dieser Stelle auf die Suche nach Gründen und Ursachen für diese Ungerechtigkeit machen. Ich könnte auch ein wütendes Essay über (meine eigenen) Privilegien schreiben oder eine feministische Analyse über das Patriarchat, in dem wir leben. Dann hätte ich auf jeden Fall eine Garantie dafür, dass die meisten ab hier nicht mehr weiterlesen und die Übriggebliebenen mir danach meinen Text um die Ohren hauen und mich auf Facebook beleidigen. Bitte, immer gerne, aber heute nicht, denn heute geht es um euch. Denn ihr seid es tatsächlich, die diesen Text losgetreten habt. Wieso? Weil jeder Dritte von euch (zumindest hochgerechnet) darüber klagt, in seinem alltäglichen Leben eine oder mehrere Formen von Diskriminierung erfahren zu haben. Das zumindest besagt die neueste Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

In einer repräsentativen Umfrage kam die Studie zu folgendem Ergebnis: 31,4 Prozent der Menschen in Deutschland haben in den vergangenen zwei Jahren Benachteiligungen erlebt. Abgefragt wurden die Merkmale, die durch das Antidiskriminierungsgesetz geschützt sein sollten, nämlich Alter, Behinderung, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion/Weltanschauung und sexuelle Identität.

Die am häufigsten erlebte Form der Diskriminierung ist der Umfrage zufolge die aufgrund des Alters. „Etwa jede siebte Person (14,8 Prozent) gibt an, hier Erfahrungen gemacht zu haben", besagt die Studie. Darauf folgen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts bzw. der Geschlechtsidentität (9,2 Prozent), wegen Religion oder Weltanschauung (8,8 Prozent), der ethnischen Herkunft (8,4 Prozent), einer Behinderung (7,9 Prozent) und der sexuellen Orientierung (2,4 Prozent) aller Befragten. Außerdem wird deutlich, dass die Benachteiligung der Menschen steigt, je mehr Merkmale eine Person in sich vereint.

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Heißt im Klartext: Eine Frau mit Behinderung hat es schwerer als ein Mann mit Behinderung. Wer dazu noch alt ist, steht vor noch mehr Hindernissen. Alter und Geschlecht sind vor allem im Arbeitsleben die hauptverantwortlichen Faktoren für Diskriminierung. Der Genderpaygap ist nichts Neues, aber traurigerweise immer noch aktuell. Frauen verdienen in Deutschland im Schnitt 22% (!) weniger als Männer. Und dass ältere Menschen es auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben als jüngere, wissen wir alle. Fragt eure Eltern. Im öffentlichen Leben und im Alltag berichten die Befragten vor allem von Schwierigkeiten, die sie wegen ihrer sexuellen Orientierung oder aus rassistischen Gründen haben. Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen geben häufiger als andere Diskriminierungserfahrungen im Gesundheits- und Pflegebereich an.

Wenn es um das Arbeitsleben geht oder Krankenversorgung, kann man gegen Diskriminierungen klagen, das machen allerdings gerade mal 6%. Sieht man sich das das mediale Echo auf solche Erhebungen an, kann man vielleicht verstehen, wieso sich so wenige Menschen in ihren Sorgen und Nöten ernstgenommen fühlen. Wer als beleidigte Leberwurst dargestellt wird, traut sich wohl erst recht nicht, etwas gegen diese Beleidigung zu tun.

Doch was ist mit den alltäglichen Schwierigkeiten, die Menschen erleben, weil sie nicht der „Norm" entsprechen, die unserer Gesellschaft uns vorgibt? Es ist nach wie vor ein Tabuthema, sich im Profisport als homosexuell zu outen. Wenn Promifrauen ein Kind bekommen und danach nicht innerhalb weniger Wochen wieder aussehen wie vor der Schwangerschaft, werden sie in den Medien dafür lächerlich gemacht. Je länger die Schwangerschaft her ist, um so schlimmer wird es.

Überhaupt: Körperfett ist ein Problem. Menschen jenseits der Größe 44 haben oft keine Möglichkeit, sich so zu kleiden, wie sie möchten, weil es für sie in den Innenstädten unseres Landes einfach nichts gibt. Wieso verbreiten Frauenzeitschrift immer noch Diättipps? Und wo kaufen eigentlich schwarze Frauen ihr Make-up, wenn gerade kein Afroshop um die Ecke ist? Wieso lachen wir nach wie vor über die Menschen bei Bauer sucht Frau und Schwiegertochter gesucht? Wieso starren wir homosexuelle Pärchen an, die sich auf der Straße küssen? Oder Transsexuelle, die unserer Meinung nach noch nicht genug aussehen wie das Geschlecht, in das ihr Körper gerade hineinwächst. Wieso benutzten Menschen im Jahr 2016 immer noch „behindert" als Schimpfwort? Oder „schwul"? Nicht, dass das jemals akzeptabel war.

Wer sich zu solchen Themen äußert, wird oft darum gebeten, sich bitte nicht so anzustellen. Es gäbe ja wichtigere Probleme. Und man möge bitte nicht so humorlos sein, wenn man nicht über einen rassistischen Witz lacht: „Meine besten Freunde sind Türken, OK?" Oder über Witze über behinderte Menschen. Der Witzeerzähler habe doch schließlich in seinem FSJ mit Behinderten gearbeitet. Der darf das. Denkt er.

Vielleicht ist es in Deutschland etwas besser als in anderen Ländern, immerhin KANN man klagen, und es gibt zum Beispiel Anlaufstellen für Diskriminierung am Arbeitsplatz. Aber dass sich jeder Dritte von uns mit Hindernissen, Diskriminierungen und Ausgrenzung konfrontiert sieht, weil er oder sie weiblich, alt, behindert oder nicht weiß ist, zeichnet ein eher düsteres Bild.

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