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Wie ein Berliner versucht, als Flüchtling nach Europa zurückzukehren

Als er 13 war, brachte der Vater die Familie nach Marokko. Jetzt versucht Momo als einer von Tausenden, über Griechenland zurück nach Berlin zu kommen.
Foto: David Paradine

Momo sitzt in seinem Abteil in einem der ausrangierten Zugwagen im griechischen Idomeni, die von den Flüchtlingen zu Wohnungen umfunktioniert wurden, und zündet sich eine Zigarette an. Eigentlich heißt er Mohammed, seinen Nachnamen behält er lieber für sich. Sobald er aber mit jemandem deutsch spricht, stellt er sich mit seinem früheren Spitznamen vor.

Denn der 29-jährige Momo ist zwar vom Pass her Marrokaner, aber in Berlin geboren und aufgewachsen. Sein Vater war in den 60ern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, die Mutter etwas später. Momo und seine beiden Schwestern wurden in Deutschland geboren, erhielten aber nie die deutsche Staatsbürgerschaft. Als Momo 13 Jahre alt war, beschloss sein Vater, dass die Familie weg aus Berlin und zurück nach Marokko ziehen sollte. Von seinem Entscheid erzählte er aber vorher weder Momo noch seinen Schwestern oder der Mutter. Stattdessen fuhr die Familie wie jedes Jahr im Sommer nach Marokko in den Urlaub—nur, dass sie danach nicht mehr zurückkehrte.

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Auf Google Maps zeigt er mir sein altes zu Hause: "Hier ist die Straße. Unsere Wohnung war im vierten Block. Der Friseursalon da an der Ecke muss neu sein." Er wischt den Kartenausschnitt von Berlin Moabit hin und her. "Da ist der Park, wo wir früher Fußball gespielt hatten. Und hier daneben die Pommesbude, wo mein Vater mir nach dem Spielen Fritten gekauft hat."

Momo zieht an seiner Zigarette und schaut aus dem Fenster seines Zugabteils auf die Zelte, die sich auf dem Bahnsteig aneinanderreihen. 10.000 Menschen harren schon für Wochen in Idomeni aus, seit Mazedonien alle Flüchtlinge mit einem Zaun, Tränengas und Gummischrot davon abhält, weiter Richtung Norden zu reisen. Die meisten Menschen hier sind vor dem Krieg in Syrien geflohen und hoffen, in Europa ein neues Leben anfangen zu können. Momo aber will kein neues Leben—er will sein altes zurück.

"Als mir klar wurde, dass wir nicht mehr nach Berlin zurückkehren würden, war das ein Weltuntergang für mich", sagt Momo. Marokko war ein fremdes Land für ihn, eines, das er nur aus dem Urlaub kannte. Er konnte mit der Kultur nichts anfangen, sprach kaum arabisch und es dauerte lange, bis er es lernte. Er vermisste seine Freunde, er wollte nur zurück nach Berlin. Er begann, Briefe und Anträge an das deutsche Konsulat in Rabat zu schreiben, über Jahre hinweg. Sein Vater hatte zwar einen deutschen Pass—doch das zehnjährige Visum für die Kinder und seine Frau war zu dem Zeitpunkt, als die Familie zurück nach Marokko ging, fast abgelaufen. "Die Antwort des Konsulats war immer negativ", sagt er. Irgendwann hörte Momo auf, es zu versuchen.

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Heute ist Momo 29. Als er im Internet die Bilder der Flüchtlinge sah, die durch die offenen Grenzen der Balkanstaaten nach Deutschland reisten, stand sein Entschluss fest: Er würde versuchen, nach Deutschland zurückzukehren. Um endlich nach Hause zu gehen, wurde Momo zum Flüchtling.

Er verkaufte das Inventar seines Friseur-Salons, den er die letzten Jahre betrieben hatte, und lieh sich von Freunden Geld, um die Reise nach Berlin zu finanzieren. Im Dezember verabschiedete er sich von seiner Mutter und seinen zwei Schwestern und flog nach Istanbul, um von dort über Griechenland und den Balkan nach Deutschland zu reisen.

Seinem Vater erzählte er nichts von seiner Flucht, er verabschiedete sich nicht einmal von ihm. Einmal telefonierten sie, als Momo in der Türkei war. Als sein Vater wütend wurde und verlangte, sein Sohn solle zurückkommen, legte Momo auf. Zurückkehren ist für ihn keine Option. Sobald er in Deutschland ist, so sein Plan, will er sich einen Anwalt suchen, der seinen Fall prüfen und vor Gericht verteidigen soll.

Doch die europäische Flüchtlingspolitik machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Als er auf der griechischen Insel Chios an Land ging, war die Grenze zu Mazedonien bereits zu. Trotzdem fuhr Momo nach Idomeni—er wollte mit eigenen Augen sehen, wie die Situation ist.

Jetzt ist er seit drei Wochen hier und wartet. Die meiste Zeit verbringt er in seinem Zugabteil, raucht Zigaretten, schläft bis zwei Uhr nachmittags. "Ich hatte eigentlich aufgehört zu rauchen. Aber hier kann man nicht anders, man kann ja nichts machen hier. Essen und schlafen, das war's."

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Sein Vater hatte es einfacher. Als er Ende der 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kam, fand er schnell eine Stelle als Gärtner in Berlin. Damals boomte die deutsche Wirtschaft, das Land brauchte Arbeitskräfte aus dem Ausland. Die Marokkaner sind bis heute die zweitgrösste aussereuropäische Migrantengemeinschaft auf dem Kontinent nach den Türken. Momo drückt es so aus: "Damals war es einfach, nach Europa zu kommen. Du brauchtest kein Visum, gar nichts. Mein Vater hat einfach seine Schafe verkauft, einen Pass machen lassen und ist nach Deutschland gegangen."

Warum sein Vater zurück nach Marokko wollte, weiß Momo bis heute nicht genau. "Du kannst mit meinem Vater nicht vernünftig reden. Wenn ich ihn fragte, warum, meinte er, ich solle still sein, ich sei zu jung, um das zu verstehen." Doch Momo vermutet, dass sein Vater seine Pension lieber in Marokko verbringen wollte als in Berlin. "Mein Vater ist alt, er wollte zurück zu seiner Familie. Und er sagte, er wolle, dass seine Kinder in Marokko erzogen werden."

In Marokko schmiss Momo nach zwei Jahren die Schule. Die Lehrer hätten die Kinder morgens geschlagen, wenn sie die Hausaufgaben nicht gemacht haben, sagt er. Das gefiel ihm nicht. Also schlug sich anders durchs Leben, machte eine Lehre als Friseur, arbeitete eine Zeit lang auf dem Markt in seiner Stadt. Später kaufte er sich ein Auto und begann, Benzin aus Algerien zu importieren und in Marokko zu verkaufen, bis er seinen Friseursalon eröffnete. Mit seinem Vater verstand er sich immer weniger. Der wünschte sich, Momo würde bald heiraten und bei der Familie in Marokko bleiben. "Mein Vater sagte immer, er würde mir alles geben. Geld, ein Auto, ein Haus. Ich aber wollte nur eins: zurück nach Deutschland."

Was wäre wohl aus Momo geworden, wäre er in Berlin geblieben? "Vielleicht wäre ich heute Künstler oder Autodesigner", sagt er. Schon in der Grundschule habe ihn die Lehrerin für sein zeichnerisches Talent gelobt. Im Flur vor seinem Zugabteil hat Momo eine Karte Osteuropas gemalt und mit Ausrufezeichen die Orte markiert, die man als Illegaler vermeiden sollte.

Darüber macht er sich permanent Gedanken: Wie soll er weiterkommen? Für einen Schmuggler, der ihn mit dem Auto nach Belgrad oder sogar bis Österreich bringt, reicht sein Geld nicht. Stattdessen versuchte er, einen Taxler zu organisieren, der ihn und seine zwei algerischen Freunde durch Mazedonien fährt. Doch der verlangte 2.000 Euro pro Person. Jetzt will er versuchen, sich auf eigene Faust durch den Balkan zu schlagen. "Das Problem ist Mazedonien. Wenn dich die Polizei hier erwischt, schlagen sie dich, bevor sie dich zurückschicken. Wenn du erst in Serbien bist, hast du es so gut wie geschafft."

Diesen Abend wollen sie los. Auf einem Blatt Papier listet Momo mit seinem schwarzen Filzstift auf, was er für die Reise braucht: Zigaretten, Wasser, Essen, Süßigkeiten. Beim Verabschieden sage ich ihm, dass wir uns in Berlin wiedersehen werden. "Inshallah", antwortet Momo. Wir werden sehen.

Nachtrag: Momo ist vor ein paar Tagen losgefahren. Er ist bisher nicht zurückgekehrt, ob er es nach Deutschland geschafft hat, wissen wir noch nicht.