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Popkultur

Wie es ist, ohne Fernseher aufzuwachsen

Ohne Fernseher aufzuwachsen, ist gar nicht so scheiße. Solange man stattdessen Fake-Entführungen organisiert, Nachbarsbäume fällt und eigene Filme dreht.

Wie ist es für Kinder, ohne Fernseher aufzuwachsen? Stellt man diese Frage dem Internet, melden sich sehr schnell selbsternannte Experten, Erzieher, Mamas und Papas zu Wort, die mit essayistischen Antworten aufwarten, die immer irgendwie wirken, als wäre gerade die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt worden (und zwar von einem Medienwissenschaftler).

Die große Mehrheit von ihnen ist sich sicher, dass man seinem Kind eine Jugend ohne TV nicht "antun" könne. Schließlich sei das "weltfremd" und "nicht zeitgemäß". Manche meinen sogar, die Rabeneltern würden damit ihre Kinder gezielt Mobbing aussetzen. Außerdem seien Kinder, die in ihrer Jugend keine Chance zum Fernsehen hätten, dümmer als "normal aufgewachsene". Die Welt ohne TV verstehen zu lernen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. (Zugegeben, es finden sich auch sehr schnell die Experten der Gegenseite, die das Fernsehkastl für Teufels Handwerk und ein Gerät "wider die Natur" halten.)

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Meine Eltern gehören jedenfalls zur Sorte "Rabeneltern", die irgendwann in den frühen 90ern beschlossen haben, dass ein Leben ohne Fernseher möglich sein müsste. Ob sie mich damals um meine Zustimmung zu ihrem Experiment gebeten haben, weiß ich nicht. Viel hätte ich damals aber auch noch nicht dazu sagen können und mein Rutschauto hat mich sicherlich mehr interessiert als der alte Röhrenkasten.

Bevor ich für diesen Artikel zu schreiben begonnen habe, habe ich meine Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion gefragt, was die wichtigsten Fernsehserien der 90er- und 00er-Jahre waren. Mit Sendungen wie Akte X, Richter Alexander Hold, X-Factor und der Barbara Karlich Show konnte ich noch etwas anfangen. Schließlich gibt es ja Großeltern im Doppelpack, Sommerferien und Mama und Papa, die sich verständlicherweise freuen, auch mal wieder eine Woche für sich zu haben—vor allem dann, wenn man das Kind eben nicht einfach mal für ein paar Stunden vor die Glotze setzen kann.

Fernsehserien wie Friends, GZSZ, Prinz von Bel Air und Eine schrecklich nette Familie kenne ich zwar vom Namen her, habe ich aber nie gesehen—was wahrscheinlich auch daran liegt, dass es einfach verdammt anstrengend ist, eine Serie immer nur ein, maximal zwei Wochen pro Jahr verfolgen zu können. Das macht einfach keinen Spaß.

Dann gibt es da noch die Kategorie "nie gehört". Bei Seinfeld musste ich schon nachfragen, wie man das schreibt. Bei Doctor Who wäre mir beinahe ein "Doctor Who Who?" rausgerutscht und die Frage, wer Andreas Türck und Roseanne sind, habe ich mir überhaupt gespart.

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Ein für den Autor sehr schwieriger, aber trotzdem empfehlenswerter Text: Eine Liebeserklärung an die Anime-Serien unserer Kindheit

Habe ich viel verpasst? Ich weiß es nicht. Zum Glück hat uns Bram Cohen 2001 BitTorrents geschenkt und ich konnte mittlerweile zumindest Sendungen wie die Simpsons, Family Guy und South Park nachholen, ohne die man die heutige Welt vielleicht wirklich nicht mehr verstehen kann.

Dass ich aber in der Unterstufe nie mitreden konnte, wer in der letzten Folge von Lost wen getötet oder entführt hat, war nicht weiter schlimm—gemobbt wurde ich dafür trotzdem nicht. Schließlich gab es auch genug Leute, die trotz eines Fernsehers zu Hause ebenfalls keine Ahnung von den Anderen hatten und denen Dr. Jack Shephard, Katherine „Kate" Austen, James „Sawyer" Ford und Co einfach nur am Arsch vorbeigingen.

Tatsächlich versteh ich manche Einleitung in den Artikeln meiner Kollegen nicht und steige bei nostalgischen Schwelgereien über die besten Serien "unserer Jugend" oft aus. Einen Nintendo 64 kann ich gerade noch bedienen, bei Playstation und X-Box scheitere ich aber kläglich.

Foto: Abgeda | flickr | CC BY-ND 2.0

Dass das meine Eltern zu schlechten Menschen und mich dümmer macht, bezweifle ich trotzdem. Vielleicht habt ihr dafür Werner J. Egli, Käthe Recheis und Kai Meyer verpasst. Vielleicht habt ihr noch nie Stress bekommen, weil ihr dem einen bösen Nachbarn—dem, der immer so geschimpft hat, wenn er euch beim Fußball spielen im Hof erwischt hat—einen Brief geschrieben habt, in dem ihr die Behauptung aufgestellt habt, seine Frau entführt zu haben.

Vielleicht habt ihr auch noch nie einen jungen, unschuldigen Baum gefällt, nur um eben diesem Ungustl von Nachbarn eins auszuwischen. Und vielleicht habt ihr dem Steinmetz in der Nachbarschaft nicht regelmäßig—gemeinsam mit der ebenfalls fernsehlosen besten Jugendfreundin—seinen Marmorabfall gefladert, der dann als Deko für den Dreh von Horrorfilme in der einen gruseligen, verlassenen Villa am Ende der Straße, oder als Geschenk für die Eltern, herhalten musste.

Diese selbst gedrehten Filme kann ich mir auch heute nur am Computer anschauen. Einen Fernseher besitze ich immer noch nicht.

Paul auf Twitter: @gewitterland