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Wie gefährlich es ist, ein weiblicher Flüchtling zu sein

Neben der Angst, während der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer zu ertrinken, müssen Frauen auf der Flucht vor allem fürchten, sexuell missbraucht oder vergewaltigt zu werden.

©UNHCR/I.Prickett

Die Tragödie der Flüchtlinge, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, erreichte nun vor Kurzem ihren traurigen Höhepunkt, als beim Untergang zweier Flüchtlingsboote innerhalb von sieben Tagen mehr als tausend Menschen den Tod fanden. Die Staatschefs der EU trafen sich daraufhin zu einem Sondergipfel, um über die Aufstockung der Mission „Triton" zu beraten. Obwohl der Etat für die Mission verdreifacht wurde, stellten die Politiker weiterhin den Kampf gegen Schlepperbanden in den Fokus. Während heftig darüber debattiert wird, wie sich Flüchtlinge am wirkungsvollsten davon abhalten lassen, sich auf den Weg nach Europa zu machen, werden Gründe für die Flucht außer Acht gelassen. Dabei sollte die Frage, warum Menschen bereit sind, ihr Heimatland zu verlassen und aus einer verzweifelten Hoffnung auf ein besseres Leben ihr eigenes zu riskieren, eine entscheidende Rolle spielen. Das Unglück vom 19. April überlebten 27 Menschen, während geschätzte 800 ertranken. Laut Aussage eines Überlebenden seien auch 40 bis 50 Kinder und 200 Frauen an Bord gewesen. Gerettet wurde offenbar keine von ihnen.

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Weltweit sind 80 bis 90 Prozent der mehr als 45 Millionen Menschen auf der Flucht Frauen und Kinder. Während die Asylbehörden die besonderen Probleme weiblicher Schutzsuchender früher kaum berücksichtigten, sind Frauen seit den späten 90ern gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention als verfolgte soziale Gruppe anerkannt. Trotzdem wird „der Flüchtling" in den westlichen Asylländer immer noch vornehmlich als männlicher Verfolgter wahrgenommen, während die Frauen aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Zahl wenig Erwähnung finden.

Weil ich wissen wollte, warum es so wenige weibliche Flüchtlinge gibt und welchen besonderen Gefahren Frauen auf der Flucht ausgeliefert sind, habe ich mich mit Anna Büllesbach vom UNHCR (der UN-Flüchtlingsbehörde) in Nürnberg darüber unterhalten.

„Es gibt in den Industriestaaten allgemein wenige weibliche Flüchtlinge, insbesondere in den Hauptaltersgruppen 16 bis 35", sagte Büllesbach. „Das liegt hauptsächlich daran, dass Frauen insgesamt global gesehen immer noch wesentlich weniger mobil sind als Männer. Zum Beispiel, weil sie sich noch um die Betreuung und Versorgung der Kinder kümmern müssen und es für sie aus familiären Gründen schwieriger ist, das Herkunftsland zu verlassen." Die Frauen und Kinder, die die 80 bis 90 Prozent der internationalen Flüchtlinge ausmachen, bewegen sich als Binnenvertriebene entweder innerhalb ihres eigenen Herkunftslandes oder höchstens über eine Grenze hinweg ins Nachbarland. Weiter zu reisen, kommt oft nicht in Frage, weil es an finanziellen Mitteln mangelt oder weil es gesellschaftlich nicht geduldet wird.

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©UNHCR/I.Prickett

In Syrien tragen die Flüchtlingsfrauen laut eines Berichts des UNHCR vom Sommer 2014 die Hauptlast des Konflikts. Wer noch eine intakte Familie hat, nimmt gemeinsam den Weg in weiter entfernte und mehr Sicherheit versprechende Gefilde in Angriff, doch für die Frauen, die auf sich allein gestellt sind, ist das nicht möglich. In jeder vierten Flüchtlingsfamilie muss die Mutter allein um ihr eigenes Überleben und das ihrer Kinder kämpfen, während die Männer im Krieg getötet oder inhaftiert worden sind. Im Exil verarmen die Frauen schnell und sind auf Hilfe von außen angewiesen. Als alleinstehende Frauen sind sie dazu noch ständiger verbaler und mitunter sexueller Belästigung ausgesetzt.

Auch junge Mädchen, die weder Mann noch Kinder haben, machen sich nur in absoluten Ausnahmefällen allein auf den Weg. Wenn das Mädchen noch Familienangehörige hat, lassen diese es nur dann gehen, wenn sie sich sicher sein können, dass unterwegs keine Gefahr droht. Dabei ist oft nicht das Zielland das Problem, sondern die zahlreichen Zwischenstationen auf dem Weg dorthin—ein Problem, das es nicht gäbe, wenn Flüchtlinge auf direktem und legalen Wege in das Zielland einreisen dürften.

Mit einem Kutter wollen Freiwillige im Mittelmeer Flüchtlinge retten:

Neben der Angst, während der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer zu ertrinken—wenn sie denn so weit kommen—, müssen Frauen auf der Flucht vor allem fürchten, sexuell missbraucht oder vergewaltigt zu werden. „Frauen sind wehr- und hilflos auf der Flucht, gerade wenn sie nicht ausreichend [finanzielle] Ressourcen haben und dann bezahlen müssen, indem sie sich prostituieren", erklärte Büllesbach. „Das gilt auch für Kinder, auch für die männlichen, die stark Gefahr laufen, ausgebeutet zu werden, weil sie ebenfalls nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügen. Und wenn man mit irgendwas bezahlen muss, dann bezahlt man vielleicht tatsächlich am Ende mit seinem eigenen Leib."

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Wie viele Frauen und Mädchen, die aus ihrem Heimatland geflüchtet sind, Opfer von Zwangsprostitution werden, ist nicht bekannt. „Es gibt auf jeden Fall auch im Asylverfahren von Menschenhandel Betroffene und man kann sich das Ausmaß gar nicht vorstellen, in welchen Zahlen sich das international und auch national bewegt", sagte Büllenbach. „Es ist nach wie vor ein großes Tabuthema—so wie es früher auch genitale Beschneidung war. Es ist klar, dass kein Mädchen hierherkommt und sich gleich den Behörden öffnet. Vor allem wenn die Personen, die sie in die Prostitution gebracht haben, auch noch irgendwo vor Ort sind und eine Gefahr darstellen. Ein Phänomen, das in den letzten Jahren ziemlich bekannt geworden ist, besteht darin, dass Mädchen schon im Herkunftsland stark eingeschüchtert werden, bevor sie sich ins Ausland begeben. Sie werden von einer älteren Frau mit einem Voodoozauber oder Ähnlichem belegt, der besagt, dass sie und ihr ganzes Dorf, wenn sie über das sprechen, was ihnen zugestoßen ist, dem Tode geweiht seien. Deshalb sprechen sie nicht darüber."

©UNHCR/S.Rich

Andere Frauen sprechen aus religiösen Gründen nicht über ihre Erfahrungen, weil sie Angst haben, von ihrem Mann oder ihrer Familie verstoßen zu werden. Projekte, mit denen versucht wird, ihnen ihr Schicksal zu erleichtern und das Schweigen zu durchbrechen, zielen vor allem darauf ab, sich nicht mehr vorrangig auf die Täter zu konzentrieren, sondern die Opfer zu schützen. Mittlerweile gibt es auf europäischer Ebene eine neue Richtlinie, die beinhaltet, dass Betroffenen besondere Schutzmaßnahmen, ein sicherer Aufenthaltsort und Hilfe von entsprechenden Fachberatungsstellen zur Verfügung stehen müssen. Doch ob dieser Schutz tatsächlich überall gewährleistet wird, ist im Zuge aktueller Vorwürfe zweifelhaft.

In einem Bericht des „Aktionsbündnis für Flüchtlingsfrauen", das der SPD-Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Pfaffmann Mitte April öffentlich gemacht hatte, behaupteten die Verfasserinnen, es gäbe in der Münchner Bayernkaserne „tagtägliche Vergewaltigungen, sexuelle Gefälligkeitsdienstleistungen und Prostitution". Für die Vorwürfe gibt es bislang keinerlei Beweise, weshalb der Bericht von vielen Seiten scharf kritisiert wurde. Die deutschen Grünen, die sich ebenfalls von dem Bericht distanziert haben, glauben nichtsdestotrotz, dass Frauen in Flüchtlingsunterbringungen „überdurchschnittlich häufig" sexueller Gewalt ausgesetzt sind und fordern besseren Schutz für die betroffenen Frauen.

Sind die Unterkünfte durch das hohe Aufkommen von Asylsuchenden überfordert? „Wegen der hohen Zahlen sieht es gerade schlecht aus", sagt Büllesbach. „Es gibt nicht genügend Infrastruktur, nicht genügend Sozialarbeiter in den Unterkünften. Die Wohlfahrtsverbände vollbringen schon unglaubliche Leistungen, um der Sache noch irgendwie gerecht zu werden. Dass so viel mit Ehrenamtlichen gemacht wird, was man sich vor Jahren nicht hätte vorstellen können, ist ebenfalls sehr hilfreich. Genauso der Gedanke, dass wir als Zivilgesellschaft die Verantwortung dafür tragen, dass jemand, der hier ankommt, auch physischen Schutz erhält. Dass die Frauen und Mädchen, die hierherkommen, nicht wieder Angst haben müssen, dass ihnen irgendwas zustößt, wie in ihren Herkunftsländern. Daher muss in den Unterkünften auch immer geschaut werden: sind die Räume abschließbar? Gibt es getrennte Trakte für Frauen und Familien und alleinstehende Männer? Wobei die Frauen natürlich auch häufig gar keine Unterkünfte haben wollen, die geschlechtsspezifisch getrennt sind, weil sie mit ihrem Freund, ihrem Mann oder ihrem Bruder zusammen sein wollen. Wichtig ist, dass es Flüchtlingsfrauenhäuser gibt für die Frauen, die das nicht wollen und diesen geschützten Raum brauchen."

Büllesbach gibt zu bedenken, dass es, um Übergriffe zu verhindern, nicht nur genügend geschützte Räume für alleinstehende Frauen geben müsse, sondern auch mehr weibliches Personal. „Es kann nicht sein, dass in der Wachzentrale nur Männer sitzen, die dann auch vielleicht nur deutsch sprechen. Menschen müssen geschult und nach einem bestimmten Profil eingestellt werden, zum Beispiel mit dem, dass sie selbst einen Migrationshintergrund haben. Wenn wir mehr Sozialarbeiterinnen mit Migrationshintergrund einstellen, können die auch darauf einwirken, dass die Frauen Schutzräume in Anspruch nehmen und über deren Bedürfnisse viel besser befinden als ein deutschsprechender Mann. Es ist wichtig, dass die Strukturen Gewalt nicht bedingen und dass alle, die mit Schutzsuchenden zu tun haben, dahin sensibilisiert werden, dass sie aufmerksam sind und sich natürlich auch keinesfalls selbst an Übergriffen beteiligen. Bei kleineren Unterkünften ist es natürlich viel leichter, da drauf zu achten [als bei größeren]."

Davon abgesehen muss mehr Wohnraum außerhalb der Notunterkünfte für anerkannte Flüchtlinge geschaffen werden. Wobei hier nicht unbedingt die Behörden, sondern vor allem die Zivilgesellschaft gefragt ist. Privatpersonen, die nicht zu erst an ihren eigenen Vorteil denken und eventuelle Risiken in Kauf nehmen. „Es braucht auch Vermieter, die an anerkannte Flüchtlingsfrauen eine Wohnung vermieten", sagte Büllesbach, „auch wenn es eine alleinstehende Frau mit drei Kindern ist."