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Popkultur

Wie sich ASMR-Puristen wegen Softpornos streiten

In der Entspannungs-Community von YouTube hat sich eine erotische Strömung entwickelt—manche Leute sind darüber jedoch alles andere als erfreut.

Ein Ausschnitt aus einem Video des doch etwas kontroversen ASMR-YouTube-Channels Hungry Lips | Screenshot von YouTube aus dem Video „ASMR Hair Brushing and Chewing Gum" von Hungry Lips

„Wenn du dir schon phallische Objekte in den Hals schiebst und mit deinen Titten rumspielst, dann tob dich doch bitte bei Chaturbate aus, anstatt die ASMR-Community hier bei YouTube so darzustellen", beschwert sich ein User in einem YouTube-Kommentar. Dabei handelt es sich nicht nur um einen boshaften Troll, sondern um einen der vielen ASMR-Fans, die darüber verärgert sind, dass die erotische Subkultur immer mehr Einzug in ihrer Community hält. Ihrer Meinung nach ist das Ganze nicht entspannend und genau diese Meinung tun sie in ihren Kommentaren auch kund.

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ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response. Damit wird ein oft dokumentiertes (aber nicht gerade oft verstandenes) Phänomen beschrieben, bei dem manche Leute durch bestimmte Reize ein angenehmes Kribbeln verspüren. Diese Reize können dabei taktiler, akustischer, visueller, olfaktorischer oder irgendeiner anderen funktionierenden Natur sein. Auf YouTube gibt es Tausende Videos, durch die sich die Zuschauer mithilfe von sorgfältig zusammengestellten Bildern ihren Kribbel-Kick holen: Leute, die langsam ihre Haare kämmen, Handtücher zusammenlegen oder irgendeiner anderen unschuldigen Aktivität nachgehen. Wie es im Internet allerdings oft läuft, hat sich auch im ASMR-Kosmos inzwischen eine Art Porno-Genre entwickelt, über das sich Puristen—die jedem Menschen, der ihnen freiwillig zuhört, gerne eifrig erklären, dass ihr Hobby kein Fetisch ist—jetzt aufregen.

Ein bestimmter YouTube-Channel muss dabei besonders viel Kritik einstecken, nämlich Hungry Lips. Dort scheint jedes Video mit einer Präsentation des neuen Outfits der Protagonistin („Hab ich vor Kurzem bei Victoria's Secret gekauft, echt süß") zu beginnen—inklusive Haargezwirbel, Flüsterlauten und Herumfingern am Dekolleté. Die Beleuchtung erzeugt ein warmes Licht, die Locken und der Lippenstift verkörpern die Weiblichkeit der zu sehenden jungen Frau und trotz der unglaublich sinnlichen Atmosphäre passiert während der gesamten Länge des Videos nichts Unanständiges. Dafür betreibt Hungry Lips eine separate Website.

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Eine kurze YouTube-Analyse zeigt, dass die ASMR-Community beim Thema Erotik in zwei Lager aufgeteilt ist. Ein besonders feindseliger Hungry-Lips-Kommentator betont zum Beispiel, das viele ASMR-Künstler „unzählige Stunden mit dem Erschaffen von qualitativ hochwertigen Videos verbringen", nur um dann aufgrund der Inhalte anderer Kanäle fertig gemacht zu werden. Andere User kommen damit klar, dass erotischere Videos eine natürliche Entwicklung des Genres darstellen, und genießen das Ganze (oder ignorieren es einfach, wenn es ihnen nicht gefällt). Der YouTube-User CheekyNinja argumentiert damit, dass sinnlichen ASMR-Videos nichts „Hässliches oder Unanständiges" anhaftet und selbst Leute, die es eigentlich nicht zugeben wollen, ASMR erregend finden.

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Eine Person, die dem Ganzen eher neutral gegenübersteht, ist Robin, ein ASMR-Zuschauer aus England. Er meinte zu mir, dass er ASMR als eine Art Schmerztherapie nutzen würde. „Ich leide am Ehlers-Danlos-Syndrom. Mein ganzer Körper ist davon betroffen und ich habe chronische Schmerzen", erklärte er mir. „Ich habe zwar schon viele Entspannungsübungen durchprobiert, aber ASMR und das Achtsamkeitstraining sind dabei die einzigen beiden, die funktionieren." Das ist nichts Ungewöhnliches, denn ASMR hat sich bei Ängstlichkeit, Schmerzen und Schlaflosigkeit als sehr effektives Gegenmittel erwiesen. Robin erzählte mir, dass er erst vor Kurzem auf die „Erotik-ASMR"-Community gestoßen wäre und die Videos seiner Meinung nach die gleiche Wirkung wie ihre anständigeren Gegenstücke hätten. „Mir ist es eigentlich ziemlich egal, ob mit dem Video nur Clickbait für eine Camgirl- oder Porno-Website betrieben wird", meinte er. „Wichtig ist mir nur, dass das Ganze mein Stress- und Angstlevel mindert sowie meinen Puls und Blutdruck senkt."

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Die ASMR-Community ist noch relativ jung und befindet sich dementsprechend noch in der Entwicklung. Rolf Osterberg, ein schwedischer ASMR-Videoproduzent, vergleicht das erotische Subgenre mit anderen Videoarten (in der Community auch „Trigger" genannt), die die Zuschauer ebenfalls in zwei Lager teilen. „Ich meine, bei uns gibt es auch Vampir-Rollenspiele, Frisörbesuche und Hirnuntersuchungen. Warum also nicht auch Erotik-Videos?" Das ergibt Sinn. Die Liste an Videos, die bei den Zuschauern ASMR auslösen, ist ellenlang und wenn man Rule 34 („Wenn es existiert, gibt es davon auch Pornos") bedenkt, dann ist es eigentlich gar nicht mal mehr so überraschend, dass Erotik inzwischen auch in der ASMR-Community angekommen ist. CheekyNinja ist der Meinung, dass „es viele verschiedene Arten von ASMR gibt. Das hier ist eben eine davon. Wenn ich dem Ganzen einen Namen geben dürfte, dann würde ich es ‚Gentleman-ASMR' nennen."

Die bekannteren und schon lange aktiven Produzenten von „normalen" ASMR-Videos haben sich größtenteils lange nicht zu diesem Thema geäußert, denn sie wollten mit den Kommentar-Kriegen auf YouTube nichts zu tun haben. Ein Channel—ASMRpsychetruth—lud dann jedoch ein ironisches Video mit dem Titel „Vegan Hungry Lips" hoch, das die Zuschauer mit gemischten Gefühlen aufnahmen. Das Anti-Erotik-Lager fand es witzig, viele andere User jedoch eher kindisch.

Ich habe auch mit Hailey gesprochen, die seit 2011 in der Community aktiv ist. Ihr Channel „WhisperingRose" hat über 99.000 Abonnenten und sie gilt in der Szene als eine der „berühmteren" Produzentinnen. „ASMR ist eine solch persönliche Sache, dass niemand vorschreiben kann, was jetzt dazugehört und was nicht", erklärte sie mir. „Letztendlich kommt es immer nur auf die persönlichen Präferenzen an und so lange es entspannend wirkt, kann niemand wirklich etwas dagegen sagen. Ich sehe das Ganze als eine Art Kunstform an und es ist nicht möglich, ‚falsche' Kunst zu kreieren."

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Hailey erzählte mir auch davon, dass sie seit Beginn ihres Channels von den Zuschauern aufgrund ihres „Daseins als großbrüstige Frau" sexuell objektiviert wird. So haben sie schon „anzügliche Kommentare und Drohungen" erreicht—selbst dann, wenn sie im Video nur vom Hals an aufwärts zu sehen ist. Für sie hat sich diese Situation durch das Aufkommen von sexualisierten ASMR-Videos weder verbessert noch verschlimmert.

Als ich sie zu der immer größer werdenden Kluft in der Community befragte, blickte Hailey hoffnungsvoll in die Zukunft: „Die Leute sind schlauer als wir vielleicht annehmen. Diejenigen, die nach ASMR-Videos suchen, werden auch ASMR-Videos finden, und diejenigen, die auf Pornos aus sind, werden dementsprechend auch auf Pornos stoßen. Wir können eigentlich nur hoffen, dass jeder genau das findet, nach dem er auch Ausschau gehalten hat."