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Wie wird man 30 Millionen Euro in einer Nacht los?

Seit auf YouTube Mitschnitte aufgetaucht sind, in denen der türkische Premier Erdoğan seinem Sohn mutmaßlich befiehlt, riesige Mengen Geld aus dem Haus zu schaffen, dreht sich in der Türkei alles um eine Frage: Sind die Aufnahmen echt oder nicht?

Seit am Montagmorgen eine Aufnahme im Internet auftauchte, die mutmaßlich von einer Unterhaltung zwischen Recep Tayyip Erdoğan und seinem Sohn Bilal gemacht wurde, nehmen die schlechten Nachrichten für den türkischen Premierminister kein Ende. Gestern ist ein zweiter Mitschnitt aufgetaucht, in dem die beiden Erdoğans darüber diskutieren, ob ihnen 10 Millionen Dollar als Bestechungsgeld genügen.

Die am Montag anonym auf YouTube veröffentlichte Aufnahme hat in der Türkei eine heftige Kontroverse ausgelöst. Die Unterhaltung scheint sich darum zu drehen, wie die Familie Erdoğan versucht, geheime Gelder zu verstecken.

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„Du musst alles, was du im Haus hast, wegschaffen, verstanden?“, hört man Erdoğan seinem Sohn befehlen. „Was soll ich denn haben, Vater? Hier ist nur dein Geld im Safe“, erklärt der leicht überfordert wirkende Bilal.

Eine Abschrift auf Englisch gibt es hier.

Das YouTube-Video besteht aus den Mitschnitten von vier verschiedenen Unterhaltungen zwischen den Erdoğans, die alle am 17. und 18. Dezember entstanden sein sollen, genau in den Tagen, als die türkische Staatsanwaltschaft völlig überraschend Hausdurchsuchungen bei mehreren Kabinettsmitgliedern durchführte. In der ersten Unterhaltung, die gegen acht Uhr morgens stattgefunden haben soll, warnt Erdoğan seinen Sohn vor den Ermittlungen und erzählt, dass die Häuser der Söhne von einer ganzen Reihe von Kabinettsmitgliedern bereits von der Polizei durchsucht wurden.

Im Laufe des Tages und am folgenden Morgen ruft der Premierminister immer wieder bei seinem Sohn an, um zu fragen, ob der das Geld mittlerweile verstecken konnte. „Das meiste habe ich geschafft, es sind nur noch 30 Millionen Euro übrig”, sagt Bilal seinem Vater. „Den Rest werde ich erledigen, wenn es draußen dunkel ist.“

via @serhansayar: Erdoğan hat vier Kinder. Dass er jedem drei empfiehlt, liegt offenbar an seinem Sohn Bilal.

— Deniz Yücel (@Besser_Deniz) 25. Februar 2014

Die vermeintliche Unterhaltung hat in politischen Kreisen und den sozialen Medien einen Sturm ausgelöst. Allerdings ignorierten die größten Nachrichtensender der Türkei die Meldung anfangs, aus Angst vor der Reaktion des Premierministers. Kurz nach ihrer Veröffentlichung gab Erdoğans Büro eine Stellungnahme heraus, die die Aufnahmen als „komplett falsch“ und das „Produkt einer unmoralischen Montage“ verurteilte.

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Trotzdem soll sich Erdoğan in einem außerplanmäßigen Treffen mit dem türkischen Geheimdienstchef Hakan Fidan beraten haben, wie seine sichere Leitung abgehört werden konnte. Die Verschlüsselungssoftware für seine Leitung soll jetzt ebenfalls erneuert werden, berichtet die Tageszeitung Vatan.

Erdoğan-Fans in Berlin

Am Dienstag berichtete die regierungsnahe Zeitung Sabah, die Aufnahmen seien einem „weltberühmten Tonstudio in den Vereinigten Staaten“ zur Prüfung gegeben worden. Das Studio habe dann einen Bericht geschrieben, in dem die Aufnahmen als Fälschung bestätigt werden. In dem Bericht war jedoch weder der Name des Studios noch weitere Details aus dem Bericht enthalten.

Also fragte ich Omer Adiyaman, einen regierungsnahen Journalisten, der die Nachricht von dem Tonstudio verbreitet hatte, auf Twitter nach dem Namen. Er schrieb mir zurück, er wüsste den Namen noch nicht, „aber die Meldung ist wahr und kommt aus einer vertrauenswürdigen Quelle.“ Gleichzeitig haben mehrere Tonexperten erklärt, dass sie die Aufnahmen für echt halten. Der unabhängige Nachrichtensender Arti 1 TV ging sogar Erdoğans Terminkalender für den 17. und 18. Dezember durch und bestätigte, dass der Premier zur Zeit der Telefonate keine öffentlichen Termine gehabt hatte.

Trotz der Zweifel an der Echtheit der Mitschnitte hat Kemal Kilicdaroglu, der Chef der größten Oppositionspartei CHP, die Aufnahme während seiner wöchentlichen Rede im Parlament abgespielt, so dass die großen Nachrichtensender ihre Live-Übertragung beenden mussten. Kilicdaroglu hat Erdoğan zum Rücktritt aufgefordert (was er in letzter Zeit ziemlich häufig getan hat) und behauptet, seine Partei habe die Echtheit der Aufnahmen von „drei oder vier verschiedenen Quellen“ bestätigt bekommen.

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Weiter angeheizt wurde die Debatte von einem Bericht auf odatv.com, in dem von der Existenz von Videoaufnahmen die Rede ist, die LKWs beim Abholen von Geld aus Erdoğans Villa auf der asiatischen Seite Istanbuls zeigen. Der Besitzer von odatv.com Soner Yalcin schrieb in seiner Mittwochskolumne, er habe von einem Oppositionspolitiker Gerüchte über einen Videofeed gehört. Bis jetzt sind diese Bilder noch nicht aufgetaucht.

Erdoğans Unterhaltung mit seinem Sohn ist der letzte in einer Reihe von schweren Schlägen gegen die Regierung, die mit den Korruptionsermittlungen Mitte Dezember angefangen haben. Seit der Premierminister Polizeichefs und Staatsanwälte entlassen hat, um die Ermittlungen von seiner Familie fernzuhalten, scheint sich der Kampf ins Internet verlegt zu haben. Die Regierung Erodgan hat neue Gesetze durchgedrückt, die es ihr erlaubt, Internetseiten zu blockieren und von Providern Nutzerdaten abzufragen.

Die meisten Mitschnitte wurden von einer anonymen Gruppe namens „Haramzadeler“ auf YouTube hochgeladen, was übersetzt ungefähr „Die Söhne von Dieben“ bedeutet, und die scheinen nicht aufhören zu wollen. Wenn irgendwo ein Video von Geldtransporten auftaucht, wird weithin angenommen, dann wird es von ihnen kommen.

Größter Dieb der Welt?

Unter den älteren Veröffentlichungen sind Unterhaltungen zwischen Erdoğan und türkischen Bau-Tycoons, in denen es um Baugenehmigungen, Projekte und die Deko für eines von Erdoğans Sommerhäusern geht—bis hin zu den Klos, die dort installiert werden sollen. In anderen Aufnahmen kann man Erdoğan dabei zuhören, wie er Senderchefs das TV-Programm diktiert oder verlangt, dass sie unliebsame Journalisten feuern.

Die Echtheit dieser ersten Veröffentlichungen wurde vom Büro des Premierministers nie in Frage gestellt. Die letzten beiden Aufnahmen, die auch die brisantesten Informationen enthalten, werden jedoch vehement angegriffen. Erdoğan (und viele Beobachter) machen für die Veröffentlichung der Bewegung Fethullah Gülens nahestehende Ermittler verantwortlich. Am Montag berichteten regierungsnahe Medien von einer beispiellosen Abhöraktion, bei der bis zu 7000 Individuen inklusive des Premierministers und seiner engsten Berater abgehört worden sein sollen. Die Polizei hat das bestritten und darauf verwiesen, dass sie überhaupt nicht ausreichend Mittel für Unternehmungen dieses Ausmaßes habe.

Unabhängig davon, ob die Aufnahmen echt sind oder nicht, erlebt die Türkei gerade eine der tiefsten Krisen, die die Republik je aushalten musste. Irgendeine sehr gut organisierte Gruppe möchte Erdoğan vom Thron stoßen, und der wiederum ist bereit, sämtliche demokratischen Institutionen der Türkei zu demontieren, um sich an der Macht zu halten. Die türkischen Bürger können bei dem Spektakel nur zusehen und sich hin und wieder mit etwas Tränengas beschießen lassen.