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The Off the Deep End Issue

Wieder eine beschissene Nacht in Crack City

Cracolândia ist ein Kind der späten 80er. Die Geschichte besagt, es sei mit einer verlassenen Busstation losgegangen, an der Menschen anfingen, Crack zu dealen und zu nehmen—zu Spitzenzeiten bis zu 2.000 jeden Tag. So ist es, dort zu leben.

Kurz vor der Geburt ihres fünften Kindes begibt sich Priscila Carolino für ihre Vorsorgeuntersuchung ins öffentliche Krankenhaus. Hibbelig und redselig wie sie ist, macht sie sich im Wartebereich sofort bemerkbar, fragt Mitpatientinnen, ob sie deren Bauch anfassen darf und quetscht sie über ihr Liebesleben aus. Nach ihrer Untersuchung tut sie ihren Ärger über die Ratschläge der Ärztin lauthals kund, schreit durch den ganzen Raum und beschimpft sich selbst als fette Kuh.

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Carolino lebt in einem dicht bevölkerten Stadtteil von São Paulo, auch bekannt als Cracolândia—oder Crackland. Sie behauptet, sie habe seit der Schwangerschaft mit Crack aufgehört, rauche nur öfter mal eine Zigarette oder einen Joint.

Brasilien zählt etwa eine Million Crackkonsumenten, die höchste Anzahl weltweit. Und Cracolândia ist für viele Politiker und Wähler ein Symbol für die Drogenepidemie, unter der das Land leidet. Cracolândia, das sind mehrere Häuserblocks im Zentrum der größten Stadt Südamerikas. Zu Spitzenzeiten tummelten sich dort mehr als 2.000 Leute, um Crack-Kokain zu kaufen oder verkaufen.

Seine Sichtbarkeit und politische Bedeutung haben Cracolândia umfassende staatliche Fördermaßnahmen eingebracht. In den letzten zwanzig Jahren griffen brasilianische Politiker und Polizeikräfte hart durch, verhafteten Drogenabhängige und sperrten ganze Straßen ab. Doch nachdem derartige Operationen immer wieder scheiterten, änderte Brasilien seine Strategie im Kampf gegen die Droge.

Das Land bietet Drogenkonsumenten nun Maßnahmen an, die sie rehabilitieren und nicht kriminalisieren sollen. Leutnant William Thomaz, der in Cracolândia Streife fährt, erklärt, dass seine Einheit Crackkonsumenten als Kranke betrachtet und nicht als Kriminelle. (Der Verkauf von Drogen bleibt aber eine Straftat.)

Thomaz und seine Kollegen können Crackkonsumenten nun an ein Programm namens De Braços Abertos (mit offenen Armen) verweisen, das seit Januar 2014 läuft. Zentral ist dabei die Philosophie der Schadensbegrenzung. An der Maßnahme nehmen mehr als 400 Bewohner von Cracolândia teil, auch Carolino.

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De Braços Abertos, eine in Südamerika einzigartige Maßnahme, soll die Abhängigkeit von Crack reduzieren. Die Teilnehmer müssen sich zu Arbeitsmaßnahmen verpflichten und werden dafür in Hotels untergebracht, erhalten Essen und eine medizinische Grundversorgung. Laut Fernando Haddad, dem Bürgermeister von São Paulo, helfen diese grundlegenden Schritte schon, viele der Stressfaktoren zu beseitigen, die Menschen dazu bringen können, Drogen zu nehmen.

Kontroverser diskutiert wird die verpflichtende Arbeitsmaßnahme: die Straßenreinigung im Viertel. Für Haddad ist diese Arbeit Teil der Therapie und hilft den Teilnehmern bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Freitags erhalten sie ihren Lohn und können damit machen, was sie wollen—auch Crack kaufen. Kritiker befürchten, dass dieser Ansatz die Konsumenten in einem Teufelskreis aus Abhängigkeit und Armut gefangen hält. Befürworter der Schadensbegrenzungsphilosophie dagegen sagen, die Jobs unterstützten die Crackkonsumenten dabei, ihren Tagesablauf zu strukturieren, was ihr Verhältnis zur Droge verändern könnte.

Cracolândia entstand in den späten 1980er-Jahren. Als immer mehr Geschäfte und Unternehmen aus dem Stadtzentrum verschwanden, wuchs das Geschäft mit dem Crack. Drogenhändler übernahmen die Kontrolle, auch über die Verteilung von Strafmaßnahmen.

„Straßen wurden von der Polizei nicht mehr überwacht", so Francisco Inácio Bastos, der für die Oswald Cruz Stiftung zu Crack forscht. „Also wurden diese Orte vom Drogenhandel übernommen und zogen bald Konsumenten aus der ganzen Stadt an."

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Brasilien hat eine tausende Kilometer lange, an vielen Stellen nicht kontrollierte Grenze zu Kolumbien, Peru und Bolivien, die alle massenweise Coca anbauen. In den ländlicheren brasilianischen Kleinstädten wird die Cocapaste dann in kleinen Fabriken—und manchmal in Küchen—zu Crack-Rocks minderer Qualität verarbeitet. Über Kleindealer gelangt die Droge nach São Paulo. Diese Zulieferkette ist praktisch unaufspürbar. Als Folge davon ist Crack in Cracolândia reichlich und günstig zu haben—ein Trip kostet gerade mal fünf brasilianische Real oder zwei US-Dollar—und befriedigt somit auch den Bedarf von Drogenkonsumenten mit niedrigem Einkommen.

Die Polizei gibt an, dass die Anzahl der Bewohner heute auf 500 gesunken ist—nicht zuletzt aufgrund von staatlichen Maßnahmen wie De Braços Abertos. Nichtsdestotrotz kontrolliert der Drogenhandel noch den Großteil des täglichen Lebens. So ist das Hotel, in dem Carolino wohnt, bekannt für allerlei illegale Aktivitäten, doch die Polizei darf ohne Durchsuchungsbeschluss nicht ins Gebäude.

Schätzungsweise 30 Prozent der Bewohner von Cracolândia sind Frauen. „Crackkonsumentinnen bezahlen für gewöhnlich ihr Crack mit Sex", so Bruno Gomes, der in Cracolândia eine NGO namens É de Lei leitet. „Viele Männer gehen gern nach Cracolândia, weil die Frauen dort leicht zu haben und billig sind und man mit ihnen machen kann, was man will. Daher sind sie oft Gewalt ausgesetzt."

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Isabelly Santana, eine Transfrau, die seit zwei Jahren in Cracolândia wohnt, hat das miterlebt. „Niemand hier behandelt Frauen gut", sagt sie. „Wir müssen die Klappe halten. Und der Polizei sagen wir auch nichts, denn wer das tut, ist ein Spitzel."

Vertreter von De Braços Abertos sagen, der Lohn, den die Frauen in ihrer Maßnahme verdienen, könnte die Notwendigkeit für Sexarbeit verringern. Aber von Santana weiß ich, dass sie mit Sexarbeit wesentlich mehr verdient als damit, die Straße zu kehren. Bei ihrem Pflichtjob lässt sie sich eher selten sehen, obwohl sie zugibt, dass die Routine ihre Tage strukturiert und ihr Verlangen nach Drogen gemildert hat.

Auf den ersten Blickt wirkt Carolino keineswegs wie eine unterdrückte Frau. Ihre zierliche Statur hält sie nicht davon ab, ihr Verständnis von Recht und Unrecht kundzutun. Als ich sie zum ersten Mal sah, jagte sie gerade mit aufgekrempelten Ärmeln und einem sehr schwangeren Bauch einen Mann mit einem Stock davon.

Unter Carolinos Selbstbewusstsein versteckt sich eine dunkle Vergangenheit, wie es bei jungen Frauen in Cracolândia häufig der Fall ist. Als sie klein war, wurden ihre Brüder ermordet. Sie hatte zwei Beziehungen mit gewalttätigen Männern, was sie letztendlich dazu brachte, aus ihrer Heimatstadt Rio de Janeiro zu fliehen.

Cracolândia beheimatet eine große Anzahl schwangerer Bäuche—womöglich aufgrund der geschlechtsspezifischen Gewalt und dem beschränkten Zugang zu Verhütungsmitteln. Dennoch gibt es in dem Viertel erstaunlich wenige Kinder. Die Hotels in Cracolândia gelten offiziell nicht als fester Wohnsitz, und die Behörden gestatten es obdachlosen Müttern nicht, ihre Kinder zu behalten. So werden die meisten in Cracolândia geborenen Kinder entweder zur Adoption freigegeben oder zu anderen Familienmitgliedern geschickt. Carolino wurde mitgeteilt, dass sie ihr Kind weggeben müssen wird. In letzter Zeit wird allerdings verstärkt der Versuch unternommen, schwangeren Frauen zu helfen.

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„Die Leute denken, dass [Frauen in Cracolândia] schlechte Mütter sind", sagt Dartiu Xavier da Silveira, Drogensuchtforscher an der Universidade Federal de São Paulo. „Das stimmt nicht. Alkohol ist für das Kind viel schlimmer als Crack. Kaum zu glauben, aber wahr. Die meisten von ihnen könnten ihre Babys behalten, wenn man ihnen helfen würde."

Trotz De Braços Abertos glauben die meisten Leute, die Cracolândia kennen, dass das Viertel weiterbestehen wird—aber es könnte sich drastisch verändern. Es gibt Gerüchte über Pläne für eine Stadtteilsanierung, womit die Drogenszene in den Untergrund gedrängt würde. Außerdem haben sich die jüngsten Sozialmaßnahmen durchaus positiv auf das Viertel ausgewirkt. Dennoch gibt es immer noch Probleme: Drogenhändler haben in der Gegend ungeheuren Einfluss, und ein paar Lokalpolitiker interessieren sich mehr für die Wiederbelebung der Innenstadt, als für die Bekämpfung von Drogensucht.

Ein lokaler Priester, der vorsichtigen Optimismus für die Zukunft Cracolândias hegt, hat sich dafür eingesetzt, dass Carolino ihr Baby behalten darf. Nur die Zeit wird zeigen, ob das Baby eine Chance auf ein drogenfreies Leben bekommt.

„Ich möchte diesen Sohn behalten", sagt Carolino und schiebt dabei ihren neuen Kinderwagen vor und zurück. „Für ihn habe ich aufgehört, Crack zu rauchen."

Sarika Bansal und Almudena Toral reisten mit einem Stipendium des International Reporting Project nach Brasilien.