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Popkultur

Will uns Sat.1 mit ‚Newtopia‘ eigentlich komplett verarschen?

Aufschlussreiches Gesellschafts-Experiment oder ‚Animal Farm' mit Unterwäschemodels? Wir haben uns die erste Folge des neuen Reality-Formats angeguckt.

„The Revolution will not be televised" sang Gil Scott-Heron in den 70ern und wusste damals noch nicht, dass er mit diesem Satz zur Ikone sozialkritischer Rapper und motziger Verschwörungstheoretiker aufsteigen sollte. „Wenn schon nicht die Revolution, dann doch zumindest eine Utopie der schönen, neuen Welt", dachte sich 45 Jahre später Sat.1 und sendete am Montag die erste Folge der neuen Reality-Show Newtopia—eine Art Big Brother meets Aldous Huxley.

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15 Kandidaten sollen auf einem abgezäunten Areal über den Zeitraum von einem Jahr eine neue Gesellschaft aufbauen. Als Starthilfe gibt es 5.000 Euro, eine Kiste voller persönlicher Gegenstände für jeden, eine Scheune und ein paar Bauernhoftiere. Während der Sender auf der offiziellen Website des Formats zwar ganz unbescheiden vom „größten TV-Experiment aller Zeiten" spricht und sich in seinem Anspruch des ultimativen Gesellschaftsexperiments augenscheinlich sehr ernst nimmt, zeigt allein die Besetzung, dass wir uns hier immer noch im unterdurchschnittlich qualitätsvollen Privatfernsehen befinden.

Die „Pioniere" sind ebenso generisch wie langweilig und sollen zu einem späteren Zeitpunkt rausgewählt und durch neue Kandidaten ersetzt werden können. Es gibt einen Restaurantleiter, der Sachen wie „supergeil" sagt und immer ein bisschen zu euphorisch ist. Einen Hartz-4-Empfänger, der sich sicher ist, dass ohne ihn gar nichts läuft. Eine größenwahnsinnige Bankangestellte, die trotz großer Führungsansprüche an sich selbst schon jetzt deutlich mehr Gossip Girl als Frank Underwood ist, und einen Key-Account-Manager, der bei der Vorstellung seiner selbst erst einmal Farid Bang und Kollegah zitiert. Einsames Highlight ist allerdings der obdachlose Politikwissenschaftler Candy, der sich aus irgendeinem Grund wie „Sändy" aussprechen lässt, auf eine polygame Form des Zusammenlebens hofft und eigentlich zu offensichtlich absurd ist, um kein Schauspieler zu sein.

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Wenn das wirklich die repräsentative Auswahl der Leute sein soll, mit denen man im Zweifelsfall irgendwann eine neue Gesellschaft aufbauen muss, scheint der sofortige Freitod im künstlich angelegten Hofteich das einzig richtige.

Tatsächlich könnte man sich den Drehort Königs Wusterhausen im nicht ganz so schönen Teil von Brandenburg durchaus als Kulisse für ein spektakuläres Endzeitszenario vorstellen. Für eine deutsche Version von The Walking Dead zum Beispiel. Das Problem: bei Newtopia gibt es keine Zombies, nur benachbarte Dorfbewohner, mit denen die Utopianer Handel treiben sollen. Unbedarftes Kühe melken gab es schon bei Bauer sucht Frau, Luxus-verwöhnte Aushilfsmodels, die plötzlich ohne Glätteisen in der Wildnis ausgesetzt sind, beim Dschungelcamp und dümmliche Streitigkeiten, weil man einfach nichts anderes zu tun hat, ist seit jeher die Haupthandlung von Big Brother. Das ist langweilig, das trägt sich schon über zwei Wochen nur mit größter Mühe und wer sich das Ganze über den Verlauf eines kompletten Jahres regelmäßig ansehen soll, ist wohl die größte Frage, die sich zum Sat.1-Mammutprojekt stellt.

Besonders abstrus ist allerdings der Anspruch, eine bessere, eine andere Welt zu schaffen als die, die abseits des abgezäunten Ackers existiert. Eine Welt ohne 24/7-Twitterfeed, Überwachung durch die NSA, Lügenpresse und gesellschaftlicher Ungleichheit. Dass Sat.1 dieses Ziel nicht vor Augen hat, sondern vor allem auf explodierende Einschaltquoten trotz lauem Vorabend-Sendeplatz hofft, ist klar. Dass einige der Teilnehmer mit riesigen Kuhaugen aber wirklich in die Kamera stammeln, dass sie die Chance nutzen wollen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, ist so widersprüchlich, so komplett wahnsinnig, dass man sich wirklich fragen muss, wer hier eigentlich wen verarscht. Zurück zum Ursprung? Weg von einer Zukunft, die immer mehr Orwell'sche Züge annimmt? Und das inmitten der Totalüberwachung, beobachtet von über 100 Kameras, die der zahlungsfreudige Zuschauer nach Bedarf sogar selbst steuern kann? Warum nicht ehrlich sein und zugeben, dass es einem nur noch um Aufmerksamkeit geht? Wenn Newtopia etwas über unser soziales Gefüge aussagt, dann doch wohl, dass mediale Präsenz als Währung mittlerweile wichtiger zu sein scheint als Geld—schließlich werden die Kandidaten für ihre Teilnahme nicht einmal entlohnt.

Vielleicht darf man es aber auch einfach nicht so ernst nehmen und muss das Format als das sehen, was es eigentlich ist. Eine Abwandlung des typischen „Wir sperren nichtssagende Leute mit möglichst pointiert stereotypen Lebensgeschichten irgendwo ein"-Prinzips. Nur dass es dieses Mal eben noch nicht mal eine Dschungeltoilette oder tägliche Challenges mit der Aussicht auf Belohnung gibt. Newtopia ist Discount-Eskapismus für Leute, denen Schwer Verliebt oder DSDS mittlerweile zu offensichtlich menschenverachtend sind. Animal Farm mit Unterwäschemodels, das aller Voraussicht nach deutlich mehr verspricht, als es halten wird. Eine Sache ist Sat.1 neues Projekt aber in jedem Fall nicht: mutig, neu und—um es mit den Worten des Senders zu sagen—„ein großes Abenteuer".

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