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Jesus Sibiriens

Es gibt nur einen Grund für eine Reise nach Sibirien: Wissarion und seine bizarre Sekte, die „Kirche des letzten Testaments".
Vissarion (aka Sergey Anatolyevitch Torop, aka the Teacher), founder of the Church of the Last Testament.

Die Mysterien des Lehrers

Von Rocco Castoro

Wissarion (aka Sergej Anatoljewitsch Torop, alias Der Lehrer), Gründer der „Kirche des letzten Testaments“ Ich bin seit zehn Stunden in Russland und nehme den Express­zug zurück zum Flughafen. Es ist August in Moskau und ich schwitze außergewöhnlich heftig und bin jetzt auch noch spät dran. Wenn ich den Flug verpasse, werde ich sehr wahrscheinlich nicht rechtzeitig zum großen „Fest der Fruchtbarkeit“ in Petropawlowka sein und dort mit einem Sibirier sprechen können, der aussieht wie Jesus und glaubt, dass er das Wort Gottes verkündet. Es geht nur ein Flug pro Tag und ich habe keine Ahnung, wie ich mich am Telefon mit Wladiwostok Airlines verständigen soll, der größten Fluggesellschaft Sibiriens. Wenn ich nicht rechtzeitig da bin, muss ich umbuchen und das bedeutet, ich werde eine Frau namens Tamriko—mit der ich bisher nur E-Mail-Kontakt hatte—bitten müssen, einen ihrer Kollegen zu überreden, zur unchristlichen Zeit von 4 Uhr morgens aufzustehen, drei Stunden bis zum Abakan Airport zu fahren, um dort einen neugierigen amerikanischen Besucher abzuholen und ihn in eine abgelegene und tief religiöse Gemeinde von 4.000 Einwohnern zu bringen, mitten in den Wäldern der Taiga. Das wäre auch an jedem anderen Tag an der Grenze der Zumutbarkeit gewesen und ich musste schon einmal wegen unvorhersehbarer Visaprobleme darum bitten. Wenn ich nicht in 30 Minuten beim Check-in bin, werde ich allerfrühestens am 18. August ankommen. Das ist der höchste Feiertag der „Kirche des letzten Testaments“. An diesem Tag hat vor zehn Jahren ein 29-jähriger ehemaliger Polizeibeamter und talentierter Maler namens Sergej Anatoljewitsch Torop seine Wiedergeburt als Wissarion ausgerufen. Seither hat er eine „geeinigte Religion“ aufgebaut, ein unüberschaubares Gemisch aus christlichen, buddhistischen, hinduistischen, heidnischen und anderen Glaubensrichtungen. Nahezu alles, was Wissarion jemals gesagt oder gedacht hat, ist im unendlichen „Letzten Testament“ festgehalten, das mittlerweile zehn Bände und mehrere Tausend Seiten umfasst. Seine über 5.000 Anhänger halten ihn für eine Art Messias, auch bekannt als „Der Lehrer“. Sie glauben, dass das Universum zwei Ursprünge hat (einer ist die Natur, der andere die menschliche Seele), dass es einen außerirdischen Geist (also Aliens) gibt und dass der Untergang der Welt bevorsteht. Das jedenfalls habe ich aus den paar Schriften verstanden, die mehr schlecht als recht ins Englische übersetzt worden sind. Auf der Zugfahrt gehen mir die Eindrücke meines Kurztrips durch Moskau im Kopf herum: Vieles dort ist grau, ein bisschen braun und merkwürdig effizient. Tatsächlich komme ich pünktlich in Wnukowo an und renne zum Gate. Als ich das Ende der kleinen Warteschlange erreicht habe, schaue ich auf eine neonbeleuchtete Bar hinter mir. Ich hatte gehofft, mir noch ein Bier holen zu können, denn dort, wo ich hinfahre, ist Alkohol nicht erlaubt. Stattdessen denke ich daran, wie beschissen ich dran wäre, wenn das hier der JFK-Flughafen wäre, und dass ich in den nächsten Tagen aufpassen muss, nicht dauernd „Scheiße“ zu sagen, denn Fluchen ist in der Kirche ebenfalls verboten. Genauso wie Tabak, Fleisch und wahrscheinlich noch viel mehr. Tamriko hatte mich aber vor meiner Ankunft vor allem auf die ersten zwei Verbote hingewiesen. Vier Stunden, ein graues Stück Hähnchen und zwei sonderbare Zitronenkekse später, lande ich mit einer halben Stunde Verspätung um 7.30 Uhr in Abakan. Ich gehe in die winzige Empfangshalle. Es riecht komisch. Alles sieht aus, als sei es von einer gigantischen sowjetischen Flughafenbaumaschine zusammengesetzt worden, die überall die gleichen Flughäfen hingesetzt hat, die nun in Vergessenheit geraten sind und verrotten. Das Schlimmste ist, dass ich niemanden mit einem Schild sehe, auf dem ROCCO steht. Tamriko hatte mir versichert, dass ein Typ namens Ruslin mit diesem Schild auf mich warten würde. Zu erschöpft, um mich aufzuregen, setze ich mich hin und warte 15 Minuten, bis plötzlich ein großer, etwa 20-25 Jahre alter Mann mit drahtigem blonden Haar und einem Pappschild unterm Arm den Sicherheitscheck passiert und den Raum durchsucht. Noch bevor ich das Schild lesen kann, weiß ich, dass er das ist—ein Typ, den man sofort erkennt. Ich stehe auf und gehe zu ihm rüber. Ruckartig dreht er mir seinen Kopf zu. „Rocco“, sage ich, während ich auf meine Brust zeige. Er schaut mir direkt in die Augen und starrt mich ein paar Sekunden lang an, bevor er das Schild vor sich hält. Ich nicke. „Ja“, sagt er und zieht sich etwas über den Kopf, das irgendwie muslimisch aussieht. Ohne ein Wort zu sagen, verlassen wir das Gebäude und gehen zum Parkplatz. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Am Auto angekommen—einem Kombi mit Allradantrieb, das Steuer auf der rechten Seite—treffe ich eine Frau, die ich für seine Freundin oder Ehefrau halte. Sie ist jung und auf eine eigenartige Weise hübsch, sie lächelt, als sie sich vorstellt. Leider werde ich mir ihren Namen niemals auch nur ansatzweise richtig merken, geschweige denn aussprechen können. Ich habe nicht einmal versucht, ihn in mein Notizbuch zu schreiben.
Vorne im Auto unterhalten die beiden sich ein paar Sekunden lang leise, dann zeigt der Mann auf eine Thermoskanne in der Konsole. „Kaffee?“ Ich nicke. Er gießt ihn in eine Tasse, während die Frau im Fußbereich herumwühlt und ein Einweckglas herauszieht, dessen Inhalt aussieht wie Kleister. Sie schüttet etwas in die Tasse und gibt sie mir. Beide starren mich an, bis ich einen Schluck trinke. Falls das Gift oder Gehirnwäschesaft war, hat es ziemlich gut geschmeckt. Ich trinke schnell aus und ohne ein Wort zu wechseln, bleiben wir noch eine Minute sitzen. „Wir fahren“, sagt der Mann und dreht den Schlüssel um. Ich bemerke ziemlich schnell, dass Ruslin und seine Frau entweder nicht viel Englisch sprechen oder aber—aus welchem Grund auch immer—keine Lust haben, mit mir zu reden. Ich beschäftige mich derweil damit, meinen 3G-Internetstick, den ich in Moskau gekauft habe, auf meinem Laptop zu installieren. Ich schaffe es, eine Verbindung herzustellen und versuche mit vielen Unterbrechungen einen Videochat mit meiner Freundin aufzubauen, dann einen iChat. Ich erzähle ihr, das alles gut läuft, dass ich ungefähr seit 26 Stunden wach bin und mache Witze über den eigenartigen Kaffee, der mir verabreicht wurde, von zwei Leuten, die offensichtlich Mitglieder einer Sekte sind und mich nun zum entlegensten Ort Sibiriens fahren. Dann ist die Verbindung weg. Der Blick vom Tempelberg auf die Wohnstätte der Morgendämmerung Wir machen einige kleine Pausen, um Essen und andere Vorräte zu besorgen, draußen sieht es aus wie eine russische Version des ländlichsten Tennessee. Das klingt vielleicht fies, aber es kommt wohl hin. Überall sieht man orange Westen und Arbeitsanzüge, die Läden habe keine Reklame und ich bin mir fast sicher, dass wir auch noch an einem Ort halten, der in riesengroßen Mülltüten Secondhand-Klamotten verkauft. Die Landschaft ist weit und wild. Zwischendurch halten wir an einem Haus, die junge Frau steigt aus, Ruslin bleibt im Auto. Sie kommt mit einer großen Kanne zurück, wahrscheinlich Milch. Das beruhigt meine Sorge darüber, was ich wohl vorhin getrunken habe. Eine Stunde später verlassen wir den Highway, fahren etwa eine halbe Stunde lang abwechselnd über Feldwege und Asphaltstraßen, bis es schließlich nur noch Feldwege sind. Ruslin kurbelt die Fenster hoch, damit wir nicht am Staub ersticken und steigt auf das Gaspedal. Der Motor und die Steine, die unter das Auto knallen, machen so viel Lärm, dass man sich nicht mehr unterhalten kann, also schweigen wir die gesamte Fahrt und brüten bei 35 Grad Hitze vor uns hin. Als wir nach Petropawlowka einbiegen, begrüßen uns Schilderskulpturen, die an den Eingang eines kleineren Orlando-Vergnügungsparks erinnern. Aber es ist schön hier. Der Himmel ist klar, es gibt Seen, Bäume, üppige Gemüsegärten und unendlich viel Gras, umsäumt vom Sayangebirge. Einige Hundert Gebäude in verschiedenen Größen sind in die Landschaft getupft, die meisten von ihnen sind in einem Stil gebaut, der typisch für die Gemeinde ist. Ich kann den Tempel erkennen, den ich bereits auf Fotos gesehen habe. Er ist vor ca. zehn Jahren von Wissarion und seinen Anhängern gebaut worden. 1.000 Meilen fernab der Zivilisation haben sie ein unfruchtbares Schlammloch in ein sich selbst versorgendes Dorf verwandelt. Ungefähr 4.000 Gläubige leben zwischen Petropawlowka und der „Wohnstätte der Morgendämmerung“, einem Ort, an den sich Wissarion und seine engsten Jünger zurückgezogen haben, weil Petropawlowka ihnen zu hektisch geworden war. Es ist, als sei ich in einem Tolkien-Roman gelandet. Wir halten vor dem deutschen Haus—eine Art spirituelles Resozialisierungszentrum, das von Ruslin und Birgit geleitet wird, einer Deutschen, die Studenten, Wissarioniten aus dem Ausland und spirituell Neugierige unterbringt. Auch Tamriko arbeitet hier, sie ist aber nicht da. Ich stelle mich Birgit vor und sie fragt mich, ob ich Hunger habe. Ich sage ihr, dass ich lieber schlafen als essen würde, und sie zeigt mir mein Zimmer oben im Haus. In eineinhalb Stunden soll ich wieder unten sein, um die anderen Gäste zu treffen und mit Wladimir zu sprechen, einem Wächter Wissarions und wichtigen Gemeindevorsteher. Er wird uns erklären, wie sich die Gäste in der Wohnstätte der Morgendämmerung verhalten sollen. Außerdem erfahre ich, dass ich weder heute noch morgen hier übernachten werde, was mir neu ist. Ich bedanke mich mit einem „Spah-sie-bahh“ bei Birgit, das in etwa so klingt, als hätte ich kürzlich einen Schlaganfall erlitten. Nach ganzen 45 Minuten Schlaf—der erste Schlaf seit 30 Stunden—werde ich von einem Typen geweckt, der auf dem Bett über mir seine Sachen auspackt. „Entschuldigung, wenn ich dich geweckt habe.“ Ich weiß, dass ich nicht mehr aufstehe, wenn ich jetzt noch einmal einschlafe. Er heißt Maciej, ist Pole und studiert Anthropologie und Religion an einer Universität in Slowenien. Er erzählt mir, dass er mit der Transsibirischen Eisenbahn und einem sowjetischen Monsterbus hierher gekommen ist. „Im Zug wurde mir erzählt, dass den Besuchern hier eine Gehirnwäsche verpasst wird. Die Leute haben versucht, mich davon abzubringen, hierher zu fahren. Ich glaube allerdings nicht, dass es gefährlich ist.“ Wir gehen runter zum Mittagessen—es gibt frische Kartoffeln und Grünzeug—und treffen unsere Mitbewohner, unter ihnen zwei Anthropologiestudentinnen, ein deutscher Fotograf und dessen Ehefrau. Tamriko ist jetzt auch da und zu meiner (positiven) Überraschung ganz anders als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie ist erst 24 und erzählt mir, dass sie noch vor einem Jahr als Anwältin für Zivilrecht in Moskau gearbeitet hat. „Ich habe mich nicht wohl gefühlt in Moskau“, sagt sie, „mein Job hat mir nicht mehr gefallen. Als ich hierher kam, hatte ich sofort ein sehr gutes Gefühl und wollte hier leben.“ Wissarion kennt sie, seitdem sie 18 ist. Ihr Onkel hat sie in seine Schriften eingeweiht. Ihre Eltern—im Kommunismus aufgewachsen und nicht religiös—waren zunächst nicht damit einverstanden, dass sie ihren Job aufgibt und Moskau verlässt. „In meiner Familie wurde nicht über Gott oder so was gesprochen. Aber ich war schon immer eine aufgeschlossene Person. Es war für mich völlig OK in eine katholische Kirche zu gehen oder zu den Baptisten. Aber als ich von Wissarion hörte, dachte ich: ,Wow, wenn das stimmt, dann ist das wirklich interessant. Ich muss mir seine Bücher besorgen.‘“ Später erst erfahre ich, dass Tamriko Wissarion noch nie persönlich getroffen hat. Irgendwie hat sie jedoch für mich ein Interview mit ihm arrangiert. Es ist sein erstes seit drei Jahren, eigentlich wollte er nicht mehr mit Journalisten sprechen. Tamriko hatte mir anfangs erzählt, dass es äußerst unwahrscheinlich wäre, dass Der Lehrer jemanden von den „Gewöhnlichen“ empfange, aber ich blieb hartnäckig und mehrere Wochen vor meiner Reise mailte ich meine Fragen. Fünf Tage vor meiner Abreise schickte mir Tamriko eine Mail, dass Der Lehrer das Treffen bestätigt habe und dass es hoffentlich übermorgen stattfinden wird. Warum mir diese Ehre zuteil wird, hat sie mir nicht erklärt, aber das ist OK. Nach dem Essen treffen wir Wladimir, einen kräftigen und energischen Mann mit grauem Pferdeschwanz und einer Kopfbedeckung, die genauso aussieht wie die von Ruslin. Er erklärt uns, wie wir uns als Gäste in der Wohnstätte der Morgendämmerung verhalten müssen, vor allem diejenigen, die Fotos oder Filme machen wollen, also ich und der deutsche Fotograf mittleren Alters, der am anderen Ende des Tisches sitzt. In zwei Stunden fahren wir ab, sagt er, und gibt uns Tipps, was wir tun sollen, falls wir auf einen Bären stoßen. Anscheinend werde ich bei einer Familie in der Wohnstätte der Morgendämmerung untergebracht oder ich schlafe im Gras unter den Sternen (einen Schlafsack habe ich vergessen)—wie dem auch sei, ich werde tief und fest schlafen. Die vielen freundlichen Gesichter der Kirche des letzten Testaments und einige Besucher Ich kann noch etwa eine Stunde Schlaf rausholen, bis ich erneut von meinem Zimmergenossen geweckt werde, der mir sagt, dass es losgeht. Ich brauche ein bisschen, bis ich angezogen bin und alles eingepackt habe, weil ich so wahnsinnig müde und noch im Halbschlaf bin und das an einem Ort, der selbst aus einem Traum stammen könnte. Mit offenen Schuhen renne ich die Treppe runter, vergesse beinahe den Schlafsack, den Tamriko mir ausgeliehen hat, die nicht mitfährt, und quetsche mich in eine rostige, aber augenscheinlich unverwüstbare Karre aus der Sowjetzeit, die vollgepackt ist mit meinen neuen Freunden aus dem deutschen Haus und ein paar anderen unbekannten Gesichtern. Die Fahrt ist noch holpriger als die heute morgen, aber unser geübter Fahrer—der so aussieht, als hätte er Erfahrung mit russischen Panzern—navigiert uns geschickt um jedes Schlagloch und alle Matschkuhlen, die so groß sind, dass sie locker als kleine Teiche durchgehen könnten. Ich versuche einen Smalltalk mit meinen Mitfahrern, aber es ist so laut und unbequem, dass man schreien muss. Im Sitz neben mir sitzt ein junger blonder Mann mit Baseball-Cap. Seine Augen—durchdringend und grün-braun—erinnern mich an die von Ruslin. Nervös rollt er etwas in den Fingern, das aussieht wie ein Rosenkranz. Später erfahre ich, dass das der Sohn von Wissarion ist, aber es ist offensichtlich, dass er kein Interesse hat, mit mir oder irgendjemand anderen im Van zu reden. Eine Stunde später erreichen wir den Stützpunkt des Bergpfades, der voll ist mit parkenden Autos und Besuchern. Sie sind extra zum Fest angereist, das ein Äquivalent des Osterfestes ist. Letztes Jahr, erzählte man mir, seien ungefähr 2.000 Pilger hierher gekommen. In diesem Jahr scheinen es noch mehr zu werden. Der Bergaufstieg ist nur halb so anstrengend, wie ich dachte. Der Weg ist mit Holzbrettern ausgelegt und man muss auch keine Felsen erklimmen. Trotzdem haben einige Schwierigkeiten, mit dem zügigen Tempo von Wladimir mitzuhalten und deshalb legen wir ab und zu eine Pause ein. Ich schlendere durch meine Gruppe und frage einige Mitreisende, warum sie hierher gekommen sind. Eine Frau, etwa in ihren Fünfzigern—ein einziges großes Lächeln und leuchtende Augen—erzählt mir, dass sie jahrelang die Welt durchquert habe und dabei auf einer Art Mission sei, auf der sie alle Religionen kennenlernen und ausüben und das Wort Gottes verbreiten wolle. Außerdem erzählt sie, dass eine Bekannte von ihr einen Fernseher erfunden habe, der die Seele des Zuschauers übertragen kann. Sie ist nicht das erste Mal da und ermuntert auch andere hierher zu kommen, die meiste Zeit aber verbringt sie in Indien. Ein Paar aus Schweden redet viel über die Umwelt und darüber, dass sich der Schöpfer in allem zeigt und dass es deshalb moralisch verwerflich ist, Fleisch zu essen. Ich bekomme Appetit auf einen Hamburger und ein Bier. Ein anderer—etwa Anfang 20—hat überall auf seinem Gesicht kleine rechteckige Schnitte, ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Nach 30 Minuten erreichen wir vorzeitig das Ende des Bergpfades und Wladimir weist uns an, zu einem fernen, kleinen grünen Gebäude zu gehen—einem provisorischen Zollhäuschen. Dort sollen wir uns in einer Reihe aufstellen. Der Bedienstete in der Hütte nimmt unsere Namen auf und lässt uns durch. Schweigend laufen wir zum Stadttor, ein schmales Gerüst mit einem Giebeldach aus Kiefern, bei dem eine kleine Gruppe der vermutlich Dorfältesten auf uns wartet. Sie grüßen Wladimir und sprechen kurz mit ihm. Ich höre das Wort „Amerikaner“ heraus, und einer der Männer gibt mir und Nina, einer Frau Mitte 30, die auch im Van saß und sehr gut Englisch spricht, ein Zeichen, ihm zu folgen. Wohin, weiß ich nicht. „Wohin gehen wir?“, frage ich. „Zum Haus“, antwortet Nina. Ich lache nervös. Wir laufen zu einem kleinen Wohnhaus und werden überschwänglich von einer Frau im Rock auf Russisch begrüßt. Nina erzählt mir, dass die Frau Marina heißt und dass wir die nächsten zwei Tage bei ihr wohnen werden, zusammen mit zwölf anderen Gästen. Erst jetzt bemerke ich, dass Nina mein Guide und meine Übersetzerin sein wird, es sieht so aus, als würden die Leute hier davon ausgehen, dass man solche Dinge von alleine mitbekommt … Marina zeigt uns unsere Schlafplätze im ausgebauten Dachgeschoss. Nur ein Vorhang trennt uns vom Wohnbereich, in dem sie und ihr Mann leben. Marina beharrt darauf, dass wir sofort nach unten zum Mittagessen gehen. Es gibt einfaches Essen, kalte Gemüsesuppe, Käse, Butter, Kartoffeln und schwarzen Tee. Nina übersetzt und Marina erklärt uns die Umgebung, wo die Toiletten sind, die Duschen, und die Taschenlampen, die es einfacher machen, all diese Orte zu finden. Ich frage Nina, warum Wissarion seinen Anhängern eine Gemüsediät verordnet (in den Anfangstagen der Gemeinde musste man sich sogar strikt vegan ernähren. Weil es aber schlechte Getreideernten und Beschwerden über kranke Babys gab, lockerte Wissarion diese Vorschriften). Nina erklärt mir, dass das Fleisch „Todesinformationen“ enthalte. Ich wechsele schnell das Thema und wir sprechen über ihre Familie. Ich versuche, meine Schale Suppe ganz aufzuessen, schaffe es aber nicht und gebe sie Marina zurück. Ich hoffe, sie empfindet das nicht als Beleidigung. Plötzlich taucht ein Mann auf, der sich als „Slawa“ vorstellt und uns breit angrinst. Nina und ich sollen ihn um Punkt sieben vor Marinas Haustür treffen, wenn wir der abendlichen Messe beiwohnen wollen. Das tun wir dann auch. Die Messe besteht aus einigen Hundert Menschen, die beten und um etwas knien, das aus der Ferne einem ägyptischen Kreuz ähnelt. Als ich näher komme, sehe ich, dass es ein christliches Kreuz mit einem Kreis in der Mitte ist, umrundet von Engelsskulpturen. Nina erklärt mir, dass der Kreis die allumfassende Einheit des Glaubens symbolisiert und macht dann eine Geste, als würde sie sich bekreuzigen, nur dass sie anschließend mit den Händen noch einen Kreis um ihren Kopf und Oberkörper beschreibt. Sie weist auf die 14 unterschiedlichen Straßen hin, die vom Zentrum der Siedlung abgehen: „Die Zahl 13 hat eine besondere Bedeutung im Neuen Testament. Wir haben allerdings 14 Straßen, die Zahl 14 steht für das Jenseits.“ Eine Glocke schlägt 14 Mal und alle schließen die Augen und beginnen zu beten. Nach dem letzten Glockeschlag drückt mir ein Fremder eine dünne gelbe Kerze in die Hand und zündet sie für mich an. Die Dunkelheit senkt sich herab und selbst der standhafteste Atheist müsste zugeben, dass dieser Anblick so rein und schön ist wie nur wenige Dinge in dieser Welt. Nach etwa einer Stunde der Gesänge und Segnungen setzte ich mich auf einen Stein und nicke ein, den Kopf in die Hände gestützt. Kurz darauf weckt mich Nina und wir kehren zu Marinas Haus zurück. Ich schlafe wie ein Murmeltier. Die Prozession zum Tempelberg am Tag der Fruchtbarkeit Bei Sonnenaufgang wache ich auf. Heute ist der große Tag, das „Fest der Fruchtbarkeit“, und Tausende Gläubige aus aller Welt sind extra deshalb hierher gereist. Sie alle wollen die Ansprache ihres Meisters auf dem Tempelberg sehen. Viele von ihnen sind konvertiert, nachdem sie Wissarion Anfang bis Mitte der 2000er auf einer seiner Missionen in Russland, Europa und anderen Erdteilen getroffen haben. Es gibt jedoch nur wenige Amerikaner unter ihnen. Um 8 Uhr morgens stehen wir wieder am Kreiskreuz, so als sei die Messe von gestern nie zu Ende gegangen, aber heute stehen hier rund dreimal mehr Leute als gestern, und es kommen immer noch mehr zu den Toren herein. Ich starre in Richtung des Pfades, der zum fernen Tempelberg führt—Wissarions Wohnsitz—und verlasse die Messe, um mir die Siedlung anzuschauen. In den letzten Jahren waren schon einige Journalisten hier und die meisten stellten diesen Ort so dar, als ob das Leben dort primitiv und beschwerlich wäre. Aber obwohl ich mir sicher bin, dass der sibirische Winter so hart ist, wie man sich kaum vorstellen kann, scheint die Versorgung in der Siedlung ganz gut zu sein. Die meisten Häuser haben Solarenergie, manche Internet und TV-Satelliten und in den vielen sorgfältig angelegten Gärten wachsen ungewöhnlich große Früchte. Langsam kann ich den Reiz dieses Ortes nachvollziehen. Bislang schien ja auch jeder, den ich hier getroffen habe, extrem glücklich und mit der Entscheidung, aus dem normalen, als hoffnungslos erlebten Leben auszusteigen und hier einen Neuanfang zu machen, im Reinen zu sein. Aus irgendeinem Grund habe ich den Eindruck, dass einige der Bewohner von der Lebensweise begeisterter sind als von der Religion, aber weil man das eine nicht ohne das andere bekommt, machen sie gerne mit, was auch immer von ihnen verlangt wird. Die meisten allerdings verehren Wissarion und seine Lehren aus ganzem Herzen. Vielleicht haben sie recht, die Menschheit kann nicht auf die selbstzerstörerische Art weiterleben wie bisher und wir sollten noch einmal neu anfangen. Wenn der Weltuntergang tatsächlich nahe ist, dann wird man für die Übergangszeit kaum einen besseren Ort als die sibirischen Berge finden. Mittlerweile hat Nina mich ausfindig gemacht, um mich darauf hinzuweisen, dass die Prozession zum Tempelberg in 20 Minuten losgeht, also gehen wir zum Tor zurück, wo sich immer mehr Menschen versammeln. Auf dem Gelände stimmen Musiker, darunter viele Kinder, ihre Geigen und man hört Töne von Blasinstrumenten. Kurz darauf zieht die Prozession los, ein paar Tausende strömen durch die Tore und schließen sich den Musikern an. Als die ersten Reihen den Eingang zum Tempelpfad erreichen, halten wir an. Mitten auf dem Weg beginnt es zu regnen, aber das scheint niemanden zu stören und es ist trotzdem ein schöner Tag. Als wir das Kloster erreichen, scheint wieder die Sonne und wir gehen bis zu einem kleinen Tempel, der auf einer Lichtung versteckt ist. Hier passiert wieder dasselbe: Gesänge, Glocken, Anrufungs- und Beschwörungsformeln und viele weiße Kutten. Ich versuche mitzumachen, aber ich war nie ein Fan von Gottesdiensten. Danach werde ich auf eine Tour ins Kloster eingeladen—ein eindrucksvolles zweistöckiges Holzhaus, in dem Wissarion lebte, bevor er es dem Vorsteher des Klosters, Andrej, und seiner Klasse, die aus acht minderjährigen Mönchen besteht, übergeben hat. Andrej erzählt mir, dass er sich im Leben immer fehl am Platz gefühlt habe, hier in der Gemeinde aber fühlte er sich sofort zu Hause. Ich frage ihn nach der Gründungszeit der Gemeinde, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. „Das Universum hat diesen Ort lange vor dem Ende der Sowjetunion vorbereitet“, antwortet er. „Er ist vollkommen unberührt von der menschlichen Zivilisation.“ Dann beschreibt er mir den Tagesablauf der Jungen, der ausschließlich aus Gesängen, Gebeten, Studien und viel Sport zu bestehen scheint. Später fragt er mich, was ich über die Gemeinde denke und ob ich hierher ziehen möchte. Ich antworte ihm, dass ich den Ort zwar sehr faszinierend finde, aber nicht weiß, was ein Großstädter wie ich hier tun sollte. „Du bist Schriftsteller“, sagt er, „dein Beruf ist interessant für uns, denn wir wollen neue Werke schreiben, in denen es keine negativen Charaktere mehr gibt.“ Um das Thema zu wechseln, frage ich ihn, ob ich vielleicht mit einem der jungen Mönche sprechen könnte. Er sagt ja und wir gehen nach oben, in das Zimmer, in dem Wissarion früher ein Atelier hatte. Ich lerne John kennen, einen Schüler der dritten Klasse, der viel erwachsener wirkt als die meisten 16-Jährigen, die ich sonst so kenne. Ich frage ihn, was seine Lieblingsbeschäftigung und sein Lieblingsfach ist. „Anderen behilflich sein“, sagt er, fast mechanisch. Nachdem ich ihn weiter gelöchert habe, gesteht er immerhin, das er gerne baut und zwar „mit Elektrowerkzeugen und gasbetriebenen Maschinen“. Er weigert sich, persönliche Fragen zu beantworten und gleich beginnt auch schon die Feiertagspredigt, also verabschieden wir uns und ich laufe mit Nina zu einer mächtigen, aus einem Felsen gemeißelten Bühne, vor der Tausende Gläubige auf den Lehrer warten. Die Spannung steigt. Als dann kurz vor Sonnenuntergang ein Hohepriester Wissarions auf der Steinplattform erscheint, schiebt sich die Menge nach vorne. Er bereitet sie vor und heizt ihnen mit einer langen Predigt ein. Dann setzt er sich auf einen Stuhl, alle verstummen und warten auf den großen Auftritt des Lehrers. Wissarion erscheint in der Ferne und geht, wie ein guter Showstar, ganz langsam auf die Bühne zu und mustert dann die Menge. Er nimmt auf einem königlichen Thron Platz, der von einem roten Dach bedeckt ist, das aus Samt zu sein scheint. Wissarion zieht das Mikrofon ran, atmet etwa 20 oder 30 Sekunden hinein und beginnt mit der Predigt. Ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt. Schon nach zehn Minuten stößt er das Mikrofon zurück, erhebt sich langsam, geht den Weg zurück, den er gekommen ist und verschwindet hinter einer Kurve. Nina fasst mir die Kernaussage seiner Predigt zusammen: „Er hat gesagt, dass er sehr froh darüber ist, dass wir gekommen sind und auf dem rechten Weg bleiben. Wir sollen weiterhin umsichtig und entschlossen sein, sodass wir auch das nächste Jubiläum zusammen feiern können.“ Sie ergänzt noch ein paar andere Bemerkungen, aber sie scheinen alle gleichermaßen sinnentleert. Vielleicht ist das auch nur mein Problem, denn alle anderen strahlen vor Glück. Ich halte willkürlich ein paar Leute an und stelle ihnen Fragen über Wissarion. Sie antworten mehr oder weniger immer dasselbe: „Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, war mir klar, dass ich ihn mein ganzes Leben lang gesucht habe.“ Hab ich was verpasst? Wissarion hält seinen Anhängern eine Predigt zum Fest der Fruchtbarkeit. Slawa, der Guide, der uns in der Wohnstätte der Morgendämmerung empfangen hat, begleitet Nina und mich den Berg herunter, zurück zum Haus von Marina. Er erzählt uns, dass er vor einigen Jahren in den Himmel geschaut und drei glühende, dreieckige Gebilde gesehen hat. „Außerirdische?“, frage ich. Er wiegelt ab, was es war, interessiert ihn nicht. Er teilt mir mit, dass mein Treffen mit Wissarion, das schon zweimal verschoben wurde, morgen Früh stattfinden wird, und zwar auf dem Tempelberg, im Haus des Lehrers. Ich wünsche ihm eine gute Nacht, gehe nach oben und schlafe sofort ein. Am nächsten Tag werden wir pünktlich von Slawa abgeholt. Der Weg dauert länger, als geplant, also gehen wir schneller und ich beginne wieder zu schwitzen wie in dem Zug in Moskau. Ich werde also bei dem Mann, den viele als einen Gott verehren, wie ein totaler Schluffi aufkreuzen. Sein Haus ist übersät mit Stuck und in einem anderen Stil gebaut als die restlichen Häuser des Dorfes. Ich bin völlig verwirrt, der Ort sieht aus wie der Teil einer Gated Community in Florida. Draußen begrüßt uns Wladimir und führt uns auf die Veranda, wo wir Wadim treffen, den offiziellen Biografen des Lehrers. Wissarion kommt durch die Verandatür. Ich hatte ein bisschen gehofft, er würde irgendetwas Alltägliches, Bequemes tragen oder einen Pyjama, aber natürlich trägt er eine weiße Kutte. Er verzichtet auf die langatmige Inszenierung von gestern und streckt seine Hand aus, die sehr groß und aufgedunsen ist. Aus der Nähe sehe ich, dass er ein wenig älter und kräftiger ist, als ich dachte, aber er scheint eine sehr gesellige Person zu sein. Wir setzen uns, ich nehme rechts neben ihm Platz. Nina übersetzt. „Warum haben Sie unser Treffen zugesagt“, frage ich, „ich weiß, dass sie seit einiger Zeit keine Interviews mehr gegeben haben.“ „Ich weiß es nicht genau, bereuen Sie es schon?“, lacht er. Ich erzähle ihm, dass ich 29 Jahre alt bin, also genau in dem Alter, in dem er sein religiöses Erweckungserlebnis hatte und hoffe, dass er mir davon erzählt. „Es ist sehr schwer, das in Worte zu fassen, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann.“ Während der 45-minütigen Konversation stellt sich heraus, dass ihn ein „Gefühl“ in dieses Land führte, dass mein Leben in New York „kein Leben“ ist, dass jedes Ding auf dieser Welt seine „eigene Energie“ hat, dass auch „außerirdische Geister eine Seele haben“. Er erzählt über die Fallen der modernen Wissenschaft und darüber, dass er „eine Person in meiner Seele erfühlen“ kann, die aber einen „unbestimmten Umriss“ hat. Ich erstarre in Ehrfurcht, als eine Fliege auf seinem Ärmel landet und er ihre Flügel streichelt. Sie bleibt sitzen. Am Spannendsten ist das, was er von seinem angeblichen Wissen über den bevorstehenden Weltuntergang erzählt: „Je weniger ein Mensch weiß, desto weniger Verantwortung trägt er. Es ist sicherer, wenn man einen Fehler macht und die Ursache für diesen Fehler nicht kennt, statt einen Fehler dauernd zu wiederholen, weil man sich an den falschen Regeln orientiert.“ Wladimir gibt mir ein Zeichen, zum Ende zu kommen, aber ich riskiere es und stelle ihm ein paar persönliche Fragen, etwa was sein Lieblingsessen ist oder ob er die Beatles mag. Er beißt nicht an und umgeht die Fragen: „Ich habe keine Vorlieben. Es wäre schwierig zu erklären, wie die Welt für mich funktioniert.“ Am nächsten Tag verlasse ich Petropawlowka, Ruslin fährt mich genau den gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich frage mich, wie oft er diese Strecke wohl pro Jahr zurücklegt und ob es ihm etwas ausmacht. Nachdem ich im Hotel Siberia in Abakan eingecheckt habe, schalte ich meinen Laptop an, logge mich ins russische Internet ein und sehe, was ich alles in der letzten Woche verpasst habe. Ich werde begrüßt von Schlagzeilen über gewalttätige Unruhen auf der ganzen Welt, habe mehr als 750 E-Mails von meiner Arbeit, eine Kreditkartenrechnung und eine Gmail-Nachricht von meinem Mitbewohner, in der steht, dass unser alkoholabhängiger polnischer Nachbar an Delirium Tremens gestorben ist. Ich klappe den Laptop zu und lege mich hin. Ich schließe meine Augen und fühle, wie ich in den Schlaf sinke. Ich muss kichern, als ich mir vorstelle, was ich antworte, wenn sich jemand mal wieder darüber beschwert, dass alle um uns herum korrupt sind, Geld böse ist und unsere Probleme unlösbar: „Na ja, es gibt einen Ort in Sibirien, da kannst du hingehen …“

Fotos von Jason Mojica