VICE ATRSS feed for https://www.vice.com/dehttps://www.vice.com/de%3Flocale%3Dde_atdeWed, 06 Sep 2023 04:00:00 GMT<![CDATA[Das steckt 2016 in den Kühlschränken von Studenten]]>https://www.vice.com/de_at/article/vdn4vx/das-steckt-2016-in-den-kuehlschraenken-junger-leute-909Wed, 06 Sep 2023 04:00:00 GMT165 Euro geben Studierende in Deutschland im Schnitt monatlich für ihr Essen aus. Da sind Toast mit Ja!-Gouda, das Dreierpack Salamipizza oder 49-Cent-Nudeln mit Ketchup fast vorprogrammiert. Dazu noch zu viele Becher Automatenkaffee und Mate beim Binge-Learning vor Klausuren. Der akademische Nachwuchs ist nicht unbedingt dafür bekannt, besonders gut auf sich zu achten, wenn es um Ernährung geht. Generell wird den Deutschen ja immer zur Last gelegt, dass sie zu wenig für Lebensmittel ausgeben.

Aber ist das wirklich so? Was steckt hinter den Kühlschrank-Türen der Wohnungen und WGs? Lesen die Studenten MUNCHIES? Und haben wir heute unser Verhalten gegenüber Lebensmitteln geändert? Da wir schon probiert haben, von einem Euro am Tag zu leben, sind wir den Fragen fotografisch und in Interview-Form auf den Grund gegangen, haben einen Blick in die Kühlschränke von Studenten geworfen und mit ihnen über ihre Essgewohnheiten gesprochen.

Peter, 28, studiert China Studies

VICE: Hi Peter! Wow, dein Kühlschrank ist ja voll. Was gibst du im Monat für Essen aus?
Peter: Was gebe ich aus, puh. Ehrlich gesagt habe ich mich das noch nie gefragt. Ich glaube, das variiert sehr, ich nehme mir eben, was ich brauche, und bezahle das dann an der Kasse. Monatlich zwischen 200 und 300 Euro vielleicht? Hängt davon ab, wie viele Dinner ich veranstalte, haha!

Was gibst du sonst noch drumherum für Essen aus?
Na ja, wenn viel Pantry im Monat anfällt, kommt da auch noch was zusammen. Ein gutes Sesamöl ist halt teuer. Und wenn ich außerhalb essen gehe, ist das vielleicht ein Hunderter im Monat. Manchmal können das auch 200 Euro sein.

In deinem Kühlschrank ist ganz schön viel Fleisch. Was ist da los?
Das ist ein besonderer Fall heute. Normalerweise ist in meinem Kühlschrank viel Frisches und viel Grünes—eigentlich esse ich gar nicht so viel Fleisch. Und wenn, dann muss es auch gutes Fleischs ein. Ich war gerade über Ostern in der Heimat in Nord-Hessen und habe einen Freund auf seinem Bauernhof besucht, der dort Bio-Fleisch verkauft. Der hat mir ganz viel mitgegeben, Speck und Ahle Wurscht. Und generell: Wenn man in Nord-Hessen ist, kann man sich sicher sein, dass die Eltern und Großeltern fragen, ob man eine Ahle Wurscht mitnehmen will. Und klar will man das! Ansonsten liegen im Kühlschrank noch so vietnamesische Würstchen, die ich neu entdeckt habe.

Du scheinst ein guter Koch zu sein.
Ich koche viel zu oft! Und dann auch stundenlang. Eigentlich jeden Tag, an manchen Tagen auch zwei-, drei- oder viermal. Klingt vielleicht ein bisschen absurd, aber ich steh drauf. Da nehme ich mir dann sehr viel Zeit. Ich kiffe halt auch gerne—kochen und kiffen verträgt sich eben gut. Es gibt nichts Schöneres!

Wovon lässt du dich inspirieren?
Größtenteils von der ostasiatischen und südostasiatischen Küche—also Japan, Korea, China, Malaysia oder Thailand. Ich mag die regionale Küche immer sehr gerne und kaufe danach ein, was saisonal so gerade angebaut wird. Es gibt auch eine fabelhafte Essensszene in den USA, die auf Blogs auch viel über gutes Essen und die richtige Behandlung von Lebensmitteln schreibt—von der lasse ich mich gerne beeinflussen. Ich hänge schon viel auf Food-Blogs ab.

Dann solltest du uns bald mal zu einem Dinner einladen!
Klar, ich koche immer mehr als ich brauche, weil ich furchtbar gerne Leute einlade. Heute Abend um 9? Oder sagen wir besser halb 12, ha ha!

Paul, 24, studiert Schauspiel

VICE: Hi Paul, sag mal, wie viel gibst du monatlich für Lebensmittel aus?
Paul: Oha, du meinst nur, was in meinen Kühlschrank kommt? Ich gebe monatlich zwischen 150 und 200 Euro für Essen aus, welches ich hier mit nach Hause bringe. Außer Haus sind das auch nochmal 50. Oder … eigentlich eher 100, um ehrlich zu sein.

Wohnst du alleine oder in einer WG?
Mit drei netten Frauen in einer Wohngemeinschaft!

In deinem Kühlschrank sind viele Soja-Produkte. Lebst du vegetarisch oder vegan?
Ich bin Veganer, seit einem Monat, um genau zu sein. Davor war ich anderthalb Jahre Vegetarier.

Kochst du oft?
Ja, sehr gern und viel. Ich koche am liebsten verschiedenste Dinge mit Gemüse.

Peet, 26, Angewandte Informatik

VICE: Hey Peet, netter Kühlschrank. Wie oft gehst du einkaufen?
Peet: Ich kaufe täglich ein, entweder nach der Arbeit oder nach der Uni. Meistens überlege ich mir über den Tag, was ich abends essen will, und besorge das dann schnell. Deswegen habe ich auch nicht wirklich viel im Kühlschrank—Nudeln und Reis sind immer da, aber das war's.

Wie viel Geld gibst du in der Woche für Essen aus?
Normalerweise esse ich mittags in der Mensa, da gibt's jeden Tag ein veganes Gericht, und abends koche ich dann was. Richtig essen gehe ich selten, höchstens am Wochenende. Und dann eher Kuchen, hehe. Deswegen komme ich in der Woche auch nur auf maximal 40 Euro, die ich ausgebe.

In welchem Zustand ist deine Küche generell?
Sauber würde ich es hier nicht nennen, aber es ist auch keine totale Katastrophe. Bei Frauentausch würden sie sagen: „Es ist sauber, aber nicht steril." Und man weiß ja, was das heißt.

Was kochst du dir am liebsten?
Am liebsten mag ich Pizza, Ofenkartoffeln mit Gemüse und Sojachunks oder das, was es gerade irgendwo im Angebot gibt. Das ist schön unkompliziert. Aber ich habe auch schon mal für ein Mädchen Rouladen selbst gemacht. Das war ein riesiger Aufwand! Aus der Beziehung ist dann leider trotzdem nichts geworden.

Anthea, 27, studiert Islamwissenschaften

VICE: Hi Anthea. Wie viel gibst du monatlich für Lebensmittel aus?
Anthea: Ganz klar—zu viel!

Isst du eher außer Haus oder kochst du mehr?
Ich kaufe nur bei Kraut und Rüben am Heinrichplatz hier in Berlin ein und ansonsten esse ich beim Asiaten unten im Haus.

Und was schätzt du, wie viel du ausgibst?
Warte, lass mich mal nachdenken. Dadurch, dass ich nur diesen kleinen Bioscheiß einkaufe, gebe ich unheimlich viel für das bisschen, was ich einkaufe, aus. Ich kaufe irre wenig Essen, aber es ist eben auch irre teuer. Weil ich von unterschiedlich viel Trinkgeld lebe, kann ich gar nicht sagen, was ich ausgebe.

Gibst du viel Geld für Alkohol aus?
Ja.

Dein Kühlschrank ist ganz schön dreckig, wie kommt das?
Na ja, er ist kaputt und das Wasser kann nicht mehr durch das Gefrierding ablaufen und staut sich. Ich lagere darin im Moment die Sachen, die weggeschmissen werden müssen …

Kochst du denn häufig?
Nein, eigentlich nicht. Dafür meine Mitbewohnerin umso mehr.

Chris, 29, studiert BWL

VICE: Wie viel gibst Du pro Woche für Essen aus?
Chris: Knapp 100 Euro. Auch wenn mein Budget tight ist, Essen ist mir wichtig.

Na ja … dein Kühlschrank sieht nicht gerade danach aus, um ehrlich zu sein.
Ich esse meistens auswärts, da ich nicht viel zu Hause bin. Daher gibt es in meinem Kühlschrank nicht allzu viel zu entdecken.

Gibts du mehr für Essen oder Alkohol aus?
Meistens mehr für Essen. Klar, das ist stimmungsabhängig, aber gutes Essen kostet halt auch was.

Bist du ein guter Koch?
Definitiv nicht. Mir fehlen die Zeit und die Geduld dazu. Wenn ich Hunger habe, möchte ich essen, und nicht kochen.

Nathalie*, 25, Wirtschaftspsychologie

VICE: Hey Nathalie. Wie viel Geld gibst du in der Woche für Lebensmittel aus?
Nathalie: Bestimmt 80 Euro für Einkaufen und Auswärtsessengehen zusammen. Dazu kommen noch mal 25 Euro für Getränke, vor allem Rotwein. Da kostet eine Flasche 5 bis 8 Euro. Und wenn wir ausgehen, kommen noch mal 20 bis 30 Euro für Getränke dazu.

In welchem Zustand ist deine Küche?
Hier ist es immer sehr aufgeräumt und sauber. Ich hab eine Spülmaschine, da fällt es ja auch nicht so schwer, Ordnung zu halten. Einmal die Woche putze ich richtig gründlich, wische und mache alles schön.

Würdest du sagen, du bist eine gute Köchin?
Ja, auf jeden Fall, ich gebe mir Mühe, abwechslungsreich zu kochen und neue Rezepte auszuprobieren. Italienisch koche ich sehr gern, das geht schnell und ist immer irgendwie anders. Lasagne, Pizza, Pasta, das sind meine Favoriten.

Was ist das Beste, das du jemals selbst zubereitet hast?
Wir haben vor ein paar Wochen eine vegane kanadische Pizza gemacht, mit Süßkartoffeln, Cashewnüssen, Rucola und Ahornsirup. Die Inspiration habe ich von Ron Telesky, das ist der interessanteste Pizzaladen in Berlin und immer eine gute Inspiration.

Gabriele, 22, studiert Kulturwissenschaften

VICE: Wie viel gibst du monatlich für Lebensmittel aus?
Gabriele: Ich würde sagen zwischen 200 oder 300 Euro. Also zusammen mit dem Essen, welches ich draußen zu mir nehme. Wenn ich nur die eingekauften Lebensmittel rechne, sind das wohl so 200 Euro.

Empfindest du das als viel?
Nee, eigentlich ist das OK!

Euer Kühlschrankinhalt sieht sehr gesund aus, wie kommt das?
Weil wir eben gerne kochen, zum Kochen braucht man frische Sachen. Trotzdem kaufen wir ab und zu auch mal drei Packungen Butter, wenn es sich ergibt.

Seid ihr Schnäppchenjägerinnen?
Ja, na ja. Ich bin da nicht so, ich kaufe das, was ich will—und das kann dann auch mal was Teures sein. Aber meine Mitbewohnerin kauft schonmal zwei oder drei Packungen mehr, wenn sie gerade im Angebot sind, obwohl man sie jetzt gar nicht braucht.

Das heißt auch, dass ihr alles teilt?
Ja, wir teilen schon alles. Ist jetzt nicht so, dass man das dann gegenrechnet, meine Mitbewohnerin kauft ein bisschen mehr, weil ihr Freund ab und zu hier rumhängt. Wir teilen und wir kochen oft zusammen. Aber man weiß schon, wenn etwas Besonderes im Kühlschrank ist, dass man fragt. Ist ja auch schöner so, gibt sonst Stress in der WG.

Florian, 24, studiert Jura

VICE: Florian, hältst du deine Küche sauber?
Florian: Ja, das ist mir wichtig. Unordentlich kann es sein, aber ich habe halt gewisse Hygeniestandards.

Was war die beste Mahlzeit, die du jemals an deiner Uni gegessen hast?
Mhm, das war wohl 'ne Quiche—eine erforderliche Abwechslung zu ständig trockenen Pommes und Spaghetti Bolognese.

Was ist dir wichtiger: Alkohol oder Essen?
Auf jeden Fall Essen! Saufen muss ich nicht jeden Tag.

Wie viel gibst du dann pro Woche für Essen aus?
So circa 40 Euro—ich bin nicht so der hungrige Typ.

*Name geändert.

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<![CDATA[Wie es sich anfühlt, das Coronavirus zu haben – und wieder gesund zu werden]]>https://www.vice.com/de_at/article/y3mewb/wie-es-sich-anfuhlt-das-coronavirus-zu-habenThu, 19 Mar 2020 09:46:04 GMTDas Coronavirus breitet sich zunehmend aus. Bislang wurden weltweit 198.193 Menschen infiziert, 7.954 sind daran gestorben. Wenn du diesen Artikel liest, werden diese Zahlen wieder veraltet sein.

Südkorea ist besonders stark betroffen. Die Krankheit hat dort für große Verunsicherung gesorgt. Und das, obwohl die Regierung es geschafft hat, die Sterberate auf einem Minimum zu halten und die allermeisten Infizierten wieder genesen.

Auch Park Hyun ist wieder gesund. Um andere zu größerer Achtsamkeit im Umgang mit dem Coronavirus anzuhalten, hat der 48-jährige Südkoreaner mehrere Facebook-Posts über seine Erfahrung mit der Krankheit verfasst.

"Das wird für einige Zeit vielleicht mein letzter Post sein, weil ich mich weiter darauf konzentrieren muss, meinen Körper von den Schäden des Virus und den Nebenwirkungen der Medikamente zu erholen", schrieb er in seinem bisher letzten Post am 8. März, in dem er seine Erfahrungen als Corona-Patient schildert.

In seinem Beitrag schrieb Park, dass er sich mit dem Coronavirus angesteckt hatte, obwohl er ein gesundes Leben führte. Fünfmal die Woche sei er ins Fitnessstudio gegangen, habe sich regelmäßig die Hände gewaschen und sogar übermäßig Hand-Desinfektionsmittel benutzt. Außerdem habe er in einer Virus-freien Gegend gelebt. Das Alles brachte den Südkoreaner nach eigenen Angaben dazu, eher nachlässig mit den Vorkehrungsmaßnahmen umzugehen. Park beschreibt sein Verhalten vor der Erkrankung als "bescheuert selbstsicher". Das Folgende hat er über den Ablauf seiner Erkrankung geschrieben.

Die Symptome

Es begann am Freitag, dem 21. Februar, mit leichten Halsschmerzen und trockenem Husten, schreibt Park. "Das ist normal, wenn mir das trockene Winterwetter zusetzt."

Er dachte, mit reichlich Wasser wäre die Sache schnell wieder erledigt. Am gleichen Tag wurde in seiner Heimatstadt Busan der erste Corona-Fall bestätigt. Bald spürte Park Druck auf seiner Brust, der tagelang anhielt. Drei Tage nach dem Einsetzen der ersten Symptome konnte er nicht mehr richtig atmen.

Park rief den Coronavirus-Notruf an, aber kam nicht durch. Also versuchte er es beim örtlichen Gesundheitsamt. Dort teilte man ihm mit, dass die Wahrscheinlichkeit, das Virus zu haben, äußerst gering sei. Erst nach dem dritten Anruf wurde er zum Test zugelassen.


VICE-Video: Wie ich mich 30 Tage nur von Soylent ernährt habe


Der Test

Als Park im Krankenhaus ankam, warteten dort schon viele Menschen. "Es gab eine lange Schlange, obwohl es früh am Morgen war", schreibt er.

Man sagte ihm, er müsse sich auf vier Stunden Warten einstellen. Nach 30 Minuten in der Schlange hatte Park allerdings wieder Atemprobleme, fiel in Ohnmacht und schlug hart mit dem Kopf auf dem Boden auf. Als die Ärzte seine Wunde behandelten, testeten sie ihn auch auf das Virus.

Danach begab sich Park in sein Zimmer in Selbstquarantäne, wartete auf die Ergebnisse und informierte alle, mit denen er in den vorigen Tagen Kontakt hatte, über die mögliche Infektion.

Die Diagnose

Am Dienstag, dem 25. Februar, erhielt Park eine Nachricht, dass der Test negativ sei. Doch gerade, als er sich in Sicherheit wähnte, bekam er einen Anruf vom Gesundheitsamt. Man habe ihm die falsche Nachricht geschickt, er sei tatsächlich mit dem Coronavirus infiziert. Park müsse jedoch 24 Stunden warten, bis er ins Krankenhaus kann, weil alle Zimmer in der Quarantäne-Abteilung belegt seien.

Ein paar Stunden später rief eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung an und fragte Park, wo er sich an den vergangenen Tagen aufgehalten habe und mit welchen Personen er Kontakt gehabt habe. Als die Frau erkannte, wie schlecht Parks Zustand war, bewirkte sie eine schnelle Einweisung ins Krankenhaus.

Gegen Mitternacht am gleichen Tag wurde Park in einen Unterdruckraum auf der Quarantänestation der Notaufnahme gebracht. Dort wurde er untersucht, bekam Medizin und Sauerstoff.

Wie es sich anfühlte

"Ich konnte ein bisschen besser atmen, aber es fühlte sich an, als würde eine schwere Metallplatte auf meiner Brust liegen", erinnert sich Park. "Meine Brust und mein Magen brannten von der Medizin."

Sein Zustand schwankte, aber verbesserte sich allmählich. Die Nebenwirkungen der Medikamente waren die ersten beiden Tage noch sehr schlimm, aber sein Körper gewöhnte sich an sie. Er hatte auch keine Wahl, denn bislang gibt es kein spezielles Mittel gegen das Coronavirus. Neben den körperlichen Beschwerden machte die Isolation auch seiner Psyche zu schaffen.

Die Genesung

An seinem achten Tag im Krankenhaus konnte das Virus bei Park nicht mehr nachgewiesen werden und seine Medikamente wurden abgesetzt. Auch am Tag darauf war der Coronatest negativ – Park schien wieder gesund zu sein.

An Tag neun wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Dennoch sollte er weitere 14 Tage zu Hause in Quarantäne verbringen, weil einige Patienten rückfällig geworden waren.

Park geht es laut eigenen Angaben inzwischen viel besser, aber er sagte VICE, dass seine Erholung von der Krankheit immer noch im Mittelpunkt stehe. Auch wenn manche Menschen ihn und seine Familie beschuldigt hätten, ihre Gemeinschaft in Gefahr gebracht zu haben, habe Park vor allem gute Erfahrungen gemacht. Krisenzeiten brächten das Beste in vielen Menschen hervor, sagt er.

"Als die Nachbarn meiner Mutter davon hörten, dass ich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus in einem Zimmer in Quarantäne war, haben sie Essen an die Türklinke gehängt. Ich habe das wirklich zu schätzen gewusst", sagt Park.

Er rät Menschen, ihre Körper nicht zu sehr zu beanspruchen und Menschenansammlungen zu meiden. An diejenigen, die bereits mit dem Virus infiziert sind, hat er folgende Nachricht:

"Bleib so positiv wie möglich. Iss, trink und schlaf gut. Lies keine verwirrenden Artikel oder Posts. Vertrau deinen Ärztinnen und Ärzten und erhole dich. Mache dir nicht zu viele Sorgen um deine Freunde und Familie, die in deinem Umfeld waren. Sie sind stark."

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<![CDATA[Warum Supermarktpersonal spätestens seit der Corona-Krise euren Respekt verdient hat]]>https://www.vice.com/de_at/article/wxekd9/supermarkt-verkaufer-coronaThu, 19 Mar 2020 09:15:28 GMTMeine Mutter ist seit 35 Jahren Verkäuferin und hat Spaß an ihrem Job. Zurzeit aber wird er zur Belastung. "Wir können die Regale gar nicht so schnell wieder auffüllen, wie sie leergeräumt werden", sagt sie. Es wird täglich so ziemlich alles leergekauft, was sich lange lagern lässt: Nudeln, Mehl, Tiefkühl-Gemüse, Aufbackbrötchen, Dosengemüse. Manche Kundinnen kaufen vier Packungen Toilettenpapier, andere bis zu zehn Packungen Mehl und Milch. "Wir hatten nicht mal mehr eine Packung Trockenhefe übrig, obwohl wir die sonst nie verkaufen."

Seit Wochen kommt es zu sogenannten Hamsterkäufen, und das obwohl der Einzelhandel keine Engpässe befürchtet. Die Regale sind leer, die Schlangen vor den Kassen lang. Die Sorge der Menschen vor dem Coronavirus wird deshalb mittlerweile nicht nur zur Belastung für das Gesundheitswesen, sondern auch immer mehr für Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel. Supermarktketten suchen derzeit sogar nach Aushilfen, die sich unkompliziert bewerben können. Spätestens seit der Corona-Krise zeigt sich also, wie wichtig der Beruf meiner Mutter ist.

Im Lohn zeigt sich das allerdings so gar nicht. Die Arbeit im Einzelhandel ist schlecht bezahlt. Das Bruttomonatsgehalt von Verkäuferinnen und Verkäufern liegt laut einer Umfrage von Lohnspiegel.de, einem Angebot der Hans-Böckler-Stiftung in Deutschland, bei einer 38-Stunden-Woche bei durchschnittlich 1.890 Euro (in Österreich etwa 1615€). Zwei Drittel der Befragten gaben an, mit der Bezahlung nicht zufrieden zu sein. Noch dazu ist der Job gesellschaftlich nicht hoch angesehen. Die typische Arbeitskraft im Einzelhandel ist weiblich: 70 Prozent aller Beschäftigten sind Frauen. Viele von ihnen arbeiten in Teilzeit, einige pflegen nebenher Angehörige oder Kinder. Das war bei meiner Mutter lange Zeit auch so.

"Der Regierung scheint es egal zu sein, dass uns so viele Menschen so nahe kommen", sagt sie.

Meine Mutter leidet unter Typ-1-Diabetes. Sie gehört somit selbst zur Risikogruppe. Doch fünf ihrer Kolleginnen sind ausgefallen, weil Kitas und Schulen geschlossen sind. Das bedeutet: Mehr Stunden für alle anderen. In der letzten Woche musste meine Mutter deshalb zwölf Überstunden machen. Einmal kam sie sogar freiwillig zwei Stunden vor ihrem eigentlichen Schichtbeginn, weil die gelieferte Bestellung riesig war. Sie wusste, dass sie nicht genug Zeit haben wird, alles einzuräumen. Da zurzeit immer alle Kassen geöffnet sind, arbeitet nämlich auch weniger Personal auf der Supermarktfläche.


Auch bei VICE: Zwischen Schutz und Panikmache – Kugelsichere Rucksäcke an US-Schulen


Während sich in Ländern wie Italien nur noch kleine Gruppen zur gleichen Zeit in Supermärkten aufhalten dürfen, gibt es in Deutschland und Österreich keine Regulierungen – zumindest noch nicht. Stattdessen wurde seit Tagen über etwas gesprochen, das nun beschlossen ist: Supermärkte können aufgrund der hohen Nachfrage während der Krise auch an Sonntagen öffnen. Meine Mutter hat dafür zwar Verständnis, aber sie arbeitet aktuell bereits an sechs Tagen in der Woche.

"Der Regierung scheint es egal zu sein, dass uns so viele Menschen so nahe kommen", sagt sie. Während Veranstaltungen abgesagt, Fitnessstudios und Universitäten geschlossen bleiben müssen, denkt niemand über die Verkäuferinnen und Verkäufer nach, zu deren Job der Kontakt zu Menschen gehört. "Am Wochenende waren in einigen Gängen manchmal 50 bis 70 Personen." Rund 1.200 Menschen laufen üblicherweise täglich durch den Laden, am Wochenende etwa 1.500. Aktuell sind es aber weitaus mehr. "Ich bekomme Angst, wenn ich darüber nachdenke", sagt meine Mutter.

Die Stimmung im Geschäft ändere sich außerdem von Tag zu Tag. Mittlerweile warten immer mehr Kundinnen und Kunden eine halbe Stunde, bevor der Laden öffnet, vor der Tür. Sie wollen die Ersten sein, die ihren Einkauf erledigen können. Außerdem beschweren sie sich immer mehr über die leeren Regale, oder über die Schlange an der Kasse. "Ich spüre, dass die Menschen Angst haben", sagt meine Mutter. Andauernd werde sie gefragt, ob noch Ware auf Lager sei, oder wann sie wieder geliefert werde. Meine Mutter nimmt es gelassen. Denn es gebe auch Kundinnen und Kunden, die für ihre Lage Verständnis zeigen. Menschen, die sich bedanken und ihr sagen, dass sie froh über ihre Arbeit sind. "Ich habe das Gefühl, dass uns viele Menschen durch diese Notlage mehr wertschätzen und mit anderen Augen sehen."

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<![CDATA[Zu Besuch bei den Geflüchteten im Camp Moria auf Lesbos]]>https://www.vice.com/de_at/article/884bnz/zu-besuch-bei-den-gefluchteten-im-camp-moria-auf-lesbosThu, 19 Mar 2020 09:07:26 GMT"Vielleicht wollte Gott mir zeigen, dass man wirklich in Zelten leben kann", sagt Zainab und guckt mit ihren schwarzen Augen an mir vorbei. In der Grundschule erzählte ihr Lehrer von einem Nomadenstamm im Norden Afghanistans, aber sie konnte das nicht glauben: "In Zelten? Bei Regen? Im Winter?" Sie lacht auf und streicht eine Strähne ihrer Kurzhaarfrisur aus dem Gesicht. Zainab ist 22 Jahre alt und wir sind auf der griechischen Insel Lesbos. Achttausend Meter Meer trennen hier die Europäische Union und die Türkei. Zainab will mir ihr altes Zuhause zeigen: Moria, das Camp auf dem ehemaligen Militärgelände, ausgelegt für 2.200 Menschen. Wer dort keinen Platz bekommt, zieht mit dünnen Zelten in den anliegenden Olivenhain, ohne Schutz vor Regen und Kälte, ohne Toiletten und Strom. Hier leben 20.000 Menschen auf einem Quadratkilometer.

"Im August vergangenen Jahres erreichte unser Schlauchboot den Norden der Insel", sagt Zainab. "Wir haben vor Freude geweint. Wir waren voller Hoffnung, wir dachten: Hier werden ein paar unserer Rechte respektiert, wir können die Vergangenheit hinter uns lassen."


VICE-Video: Eine der tödlichsten Routen nach Europa – Flucht übers Meer


Vergangenheit, das ist für Zainab die viertgrößte Stadt Afghanistans, Masar-e Sharif. "Dort machte ich nie Pläne für die Zukunft, weil es so unsicher war, ob ich sie je erlebe." Sie habe persönlich Gewalt und Drohungen durch die Taliban erlebt, sagt Zainab, allerdings wolle sie nicht mehr darüber reden. "Es war schrecklich, das soll reichen." Die erste Zeit auf Lesbos habe sie mit ihrem Onkel auf der Straße geschlafen, ohne Zelt. "Eine Decke legten wir unter, eine über uns. In Moria gab es nur Platz für alleinstehende Frauen, aber ich wollte bei meinem Onkel bleiben, ich hatte solche Angst. Nach zwei Wochen im Straßengraben entschied ich zu gehen. Es gab keine andere Option."

Eine Halde mit unzähligen kaputten Schwimmwesten
Der Life Jacket Graveyard | Foto: Simon Grothe

Nach dem EU-Türkei-Abkommen von 2016 erreichten weniger Schlauchboote die griechischen Inseln. Doch schon bevor Erdoğan die türkisch-griechische Grenze für Flüchtende im Februar öffnete, kamen immer mehr Menschen an. Besonders in der zweiten Hälfte 2019 gingen die Zahlen trotz des einbrechenden Winters kaum zurück. Derzeit harren etwa 13.000 Menschen an der türkisch-griechischen Landesgrenze aus, werden mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen am Grenzübertritt gehindert.

Videos, die Menschen mit Schusswunden zeigen, wurden von den griechischen Behörden als Fake News bezeichnet. Ein Forscherkollektiv aus London bestätigte jedoch den Tod des Syrers Muhammad al-Arab mit Schussverletzungen an der griechischen Landesgrenze. Zudem haben sich Bürgerwehren gegründet, die mit Hunden und Gewehren patrouillieren. Im März setzte der griechische Premierminister das Asylrecht aus. Wer neu ankommt, wird eingesperrt und ohne Verfahren abgeschoben. Griechenland macht seine Grenze zum rechtsfreien Raum. Und die EU schaut zu.

"Willkommen im Dschungel", sagt Zainab

Auf einem Straßenschild steht Moria in lateinischen und griechischen Buchstaben. Es hat den ganzen Tag geregnet und gestürmt. Das Wasser spritzt, als das Taxi durch die Schlaglöcher ruckelt. Und dann stehen Zainab und ich vor einem Zaun mit Stacheldraht, der alle fünfzig Meter aufgebogen ist. Wir laufen an Obstständen vorbei. Auf einer Plane verkauft ein Junge Nägel, Feuerzeuge, Gaskartuschen – Moria Essentials. Das Camp ist blau und weiß und braun. Müllsäcke, Zelte, Matsch. "Willkommen im Dschungel", sagt Zainab und schlängelt sich durch die Müllberge, vorbei an Frauen mit Wäschekörben, zu einem größeren, weißen Zelt, vor dem Kinder Murmeln flitschen.

Zainab sitzt mit schwarzer Jacke und schwarzer Hose auf Betonstufen
In ihrer Heimat Afghanistan habe Zainab keine Pläne für die Zukunft gemacht, erzählt sie: "Weil es so unsicher war, ob ich sie je erlebe." | Foto: Raphael Knipping

"Als ich in Moria ankam und die Menschen in den Zelten sah, war ich geschockt. Ich habe eine Woche lang geweint. Ich wusste, dass wir in einem Camp leben würden, aber ich dachte nicht, dass es aus Zelten bestehen würde, die Menschen normalerweise für ihre Ferien benutzen. Zelte, die nicht gegen Regen und Kälte geschützt sind, ohne Privatsphäre. Ich dachte, nach ein paar Wochen darf ich in einen Container umziehen, vielleicht zu meinem Onkel, aber dann sprach ich mit Menschen, die seit neun Monaten oder einem Jahr dort zelten. Ich wollte nicht akzeptieren, so lange zu bleiben, aber ich musste. Es gab keine Alternative. Ich habe mich mit den zehn Frauen in meinem Zelt ganz gut verstanden, aber du kannst niemandem in Moria vertrauen. Niemand ist normal da. Niemand hat ein normales Leben, einen normalen Alltag."

Als die Sonne durch die Wolken bricht, wird Moria lauter. Jungs mit Boomboxen laufen über die Hauptstraße, dazu das rhythmische Klingen eines Hammers. Es riecht nach Ruß, als wir an den Öfen im Boden vorbeikommen, in denen alte Männer Brot backen. Über die Jahre haben sich die Menschen organisiert. Moria ist eine Kleinstadt. Es gibt Barbershops, Kioske und Falafel, eingewickelt in griechische Lidl-Prospekte. Es ist eine friedliche, heitere Stimmung. Ein paar Kinder sitzen um eine Feuertonne und reden über deutsche Städte. "Stuttgart is shit", sagt ein Junge.

Ein Straße am Camp, an der Seite stapeln sich die Müllsäcke
Neben dem Camp leben die Menschen in einfachsten Zelten. Eine Müllabfuhr gibt es nicht | Foto: Raphael Knipping

Javad aus Afghanistan: "Justin Bieber gefällt den Taliban nicht"

Javads Vollbart kratzt auf meiner Haut, als er einen Kuss auf die Wange andeutet. Er heißt eigentlich anders, aber seine Identität soll hier geschützt werden. Javad hat sich verändert. Sein WhatsApp-Profilbild zeigt ihn mit einem fein getrimmten Bart und rotem Jackett. Zu Hause in Kabul moderierte er eine tägliche Musiksendung. "Justin Bieber gefällt den Taliban genauso wenig wie mein Tattoo", sagt Javad und streckt mir seinen Hals mit drei Sternen hin. "Nachdem sie mich zusammenschlugen und drohten, meine Kinder zu töten, verkaufte ich mein Haus und mein Auto und betrat das Fernsehstudio nie wieder." Er habe ein vergleichsweise angenehmes Leben in Kabul gehabt, sagt er. "Sowas gibt man nicht leichtfertig auf."

Javad, seine Tochter Zahra und andere Kinder in einem Zelt
Javad und seine Tochter Zahra (Mitte) | Foto: Simon Grothe

Die Lage in Afghanistan ist auch heute noch angespannt. Die Taliban verursachten 2019 so viele Angriffe wie seit zehn Jahren nicht mehr. Für mehr als die Hälfte der 2.563 zivilen Todesopfer von Januar bis September 2019 waren laut einem UN-Bericht die US-Armee und deren Alliierte verantwortlich. Experten befürchten, dass die Taliban nach dem Rückzug der USA ihre Macht weiter ausbauen. Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sind Abschiebungen in Kriegsgebiete.

Javad hat auf vier Holzpaletten ein Zelt gebaut. Auf den Matratzen im Inneren sitzen sieben Kinder und sagen der Reihe nach: "Boat. Shop. Train." Jeden Tag kommen sie zu Javads Unterricht. Auch heute, am Sonntag.

"Die Kinder lachen und spielen, aber alle sind traumatisiert. Sie wissen nicht, was passiert, wohin es geht, was die Zukunft bringt. Jeden Tag werden Menschen in Moria verrückt."

Javads Tochter Zahra ist elf Jahre alt und erklärt in bestem Englisch, dass sie Pilotin werden will. Es klingt weniger nach einem kindlichen Plan als nach einer Feststellung. "I will go the USA, to Canada and to Africa", sagt sie und beginnt ein Klatschspiel mit ihrer Freundin. In der öffentlichen Wahrnehmung geht oft verloren, dass 42 Prozent der Geflüchteten auf Lesbos Kinder sind. Die Generation Moria wächst dort heran.

Nach der Stunde kuschelt sich Javads Tochter in seinen Schoß. Er sagt: "Die Kinder lachen und spielen, aber alle sind traumatisiert. Sie wissen nicht, was passiert, wohin es geht, was die Zukunft bringt. Jeden Tag werden Menschen in Moria verrückt. Ich suche einen Ort, an dem ich mit meiner Familie in Frieden leben und an dem ich wieder als Journalist arbeiten kann. Dieses Land kann Griechenland oder Deutschland heißen, das ist mir egal. Ich möchte nie wieder um das Leben meiner Familie bangen."

Vergangene Woche gab es die erste erfasste Coronavirus-Infektion auf Lesbos

Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen ruft zur dringenden Evakuierung von Moria auf, warnt vor sexueller Gewalt in dem Camp, in dem Frauen in Windeln schlafen, weil sie sich nachts nicht auf die Toilette trauen. Ein Iraner erhängte sich am 6. Januar im Gefängnis von Moria, zwei Geflüchtete wurden seit Beginn des Jahres erstochen. Ärzte ohne Grenzen berichtet immer wieder über Suizidversuche von Minderjährigen.

Zwei Dixi-Toiletten
Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zufolge trauen sich Frauen aus Angst vor sexualisierter Gewalt nachts nicht auf die Toilette | Foto: Michael Trammer

Vergangene Woche gab es den ersten erfassten Coronavirus-Fall auf der Insel. Eine Infektionswelle im Camp würde sich rasend schnell verbreiten. In manchen Abschnitten teilen sich 1.300 Menschen einen Wasserhahn, ohne Seife oder Desinfektionsmittel. Geflüchtete schneidern im Schichtbetrieb Atemschutzmasken, versuchen, mit selbstgemalten Plakaten die Camp-Bewohnerinnen zu informieren. "Wir haben genaue Anleitungen zum Maskenschneidern auf der Website der Weltgesundheitsorganisation gefunden", sagt ein Aktivist dem Spiegel. Während sich die Menschen in Deutschland um dreilagiges Klopapier sorgen, sind die Flüchtenden in Moria auf sich allein gestellt. Wenn in dieser Enge ein Feuer ausbricht, gibt es kaum Fluchtmöglichkeiten, so eng leben die Menschen aneinander. Erst am Montag brach tatsächlich ein Feuer aus, bei dem mindestens ein Kind in einem der Zelte starb.

Seit der Reform des griechischen Asylrechts Anfang dieses Jahres stecken über 41.000 Menschen auf den Inseln Lesbos, Chios, Kos, Samos und Leros fest. Die griechische Regierung verbietet ihnen, die Inseln zu verlassen, um sie bei negativer Asylentscheidung leichter in die Türkei abschieben zu können. Auch die Verfahren werden im Eiltempo durchgepeitscht. Innerhalb von sieben Tagen nach Ankunft sollen Flüchtende, die bis zur Aussetzung des Asylrechts vor zwei Wochen ankamen, ihr erstes Asylinterview haben. Wenige Tage später soll es eine Entscheidung geben. Ich treffe eine Frau, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, weil sie am Tag des Interviews ein Kind gebar. Früher konnte die Abwesenheit begründet werden, nun ist Einspruch kaum möglich. Es wird behauptet, die flüchtende Person hätte nicht mit den Behörden kooperiert, und sie wird abgeschoben.

Ein Schwarzer Mann vor einem behelfsmäßigem Zelt
Manche Geflüchtete sind seit Jahren im Camp – wie dieser Mann aus Nigeria, der seit vier Jahren in Moria lebt | Foto: Raphael Knipping

Aber auch in den Anhörungen sind die Behörden alles andere als kooperativ. Menschen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara beantragen oft ein Asylinterview in ihrer Muttersprache. Das ist ihr Recht, aber da die Behörden keine Übersetzer für diese Sprachen auftreiben, werden sie in den Kolonialsprachen Englisch oder Französisch interviewt. Das griechische Magazin Efsyn veröffentlichte die behördliche Mitschrift des Asylinterviews eines 45-jährigen Senegalesen vom 8. Januar. Es dauerte genau fünf Minuten: von 9:17 Uhr bis 9:22 Uhr. Fünf Minuten, die über seine Zukunft entscheiden. Doch er versteht die Menschen nicht, die entscheiden, sagt wieder und wieder den Namen seiner Muttersprache.

"Guten Morgen."

(Bewerber guckt den Übersetzer an)

"Verstehen Sie den Übersetzer?"

"Wolof."

"Sie sprechen Französisch?"

(Bewerber antwortet nicht)

"Bei Ihrer Registrierung wurde Französisch als Sprache angegeben. Warum?"

"Kein Französisch, nur Wolof."

"Ich möchte Sie informieren, dass unter dem neuen Gesetz das Asylinterview in der Sprache geführt wird, die bei der Registrierung angegeben wurde. (…) Verstehen Sie noch immer nicht den Übersetzer und behaupten, nur Wolof zu sprechen?"

"Wolof, Wolof."

"Das Interview ist vorbei, vielen Dank."

Zwei Tage später erhielt er der Zeitung zufolge die Ablehnung seines Asylgesuchs und die Ankündigung einer Abschiebung in die Türkei. Eine NGO hat seinen Fall übernommen und Einspruch eingelegt.

Viele Inselbewohnende waren fünf Jahre solidarisch – doch die Stimmung kippt

Um die Frist von sieben Tagen einhalten zu können, werden die Fälle Tausender Menschen, die im vergangenen Jahr ankamen, nach hinten geschoben. Mir werden Einladungen für Interviews im Jahr 2021 und 2022 gezeigt. Bis dahin müssen die Flüchtenden in Moria bleiben, ohne Perspektive, ohne Sicherheit. Und die Lage scheint zum Dauerzustand zu werden.

Über fünf Jahre zeigten sich die meisten Inselbewohner solidarisch mit den Flüchtenden. Auch weil sie es als vorübergehendes Phänomen sahen. Mit der zunehmenden Gewissheit, dass Lesbos mit immer größeren Lagern zu einer dauerhaften Außenstelle der europäischen Asylbürokratie wird, wollen sie sich nicht abfinden. In den vergangenen Wochen heizten rechtsextreme Terroristen immer erfolgreicher die Stimmung auf. Stundenlang belagerten Hunderte Menschen die Militärbasis, in die sich die Polizei zurückgezogen hatte, warfen Flaschen, Steine, Feuerwerkskörper, errichteten Straßenblockaden. Am Folgetag wurden die zusätzlichen Einheiten wieder von der Insel abgezogen.

Ein Pick-up-Truck mit zersplitterter Frontscheibe
In den vergangenen Wochen belagerten Menschen die Militärbasis, in der sich die Polizei verschanzt hatte | Foto: Michael Trammer

Seither ziehen rechte Mobs über die griechischen Inseln, erstellen Listen in Facebook-Gruppen mit Wohnorten von NGO-Mitarbeiterinnen. Die deutschen Journalisten Michael Trammer und Raphael Knipping dokumentierten, wie Anwohner Flüchtende in einem Schlauchboot mit Plastikflaschen bewarfen und nicht an Land ließen. Dann wurden sie im Beisein von etwa hundert Anwohnern zusammengeschlagen, Trammers Kamera ins Hafenbecken geworfen. Es gibt hochaufgelöste Fotos von den Gesichtern der Angreifer. Dies zeigt, wie sicher sie sich fühlen.

Auch Äußerungen wie die der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Griechenland als das "Schild" der EU gegenüber Flüchtenden bezeichnet hat, können faschistische Mobs darin bekräftigen, freiwillige Helferinnen, Journalisten und Flüchtende anzugreifen. Europaweit versuchen Rechtsextreme, zur "Verteidigung Europas" zu mobilisieren. Vier deutsche Neonazis wurden auf Lesbos von der Antifa verprügelt und verließen dann die Insel. Weitere Neonazis wurden neben dem angezündeten Community Center "One Happy Family" dabei beobachtet, wie sie sich als Journalisten ausgaben.

"Es wird weitere Proteste geben"

Zahlreiche NGOs haben Lesbos mittlerweile verlassen. Nur wenige Freiwillige blieben zurück, stellten die Arbeit jedoch weitgehend ein. Neu ankommende Flüchtende schliefen tagelang ohne medizinische Versorgung und ohne Zelte am Strand, bis sie ein griechisches Militärschiff nach Athen brachte, um sie von dort aus abzuschieben. Eine weitere Gruppe von etwa 92 Flüchtenden, davon mehr als zehn Kinder, schläft seit einer Woche am nördlichen Strand der Insel. In Moria wird aktuell niemand registriert. Allein die Zufahrt zum Camp war tagelang von Anwohnenden blockiert.

Protestierende vor einer Straßenblockade
Seit Wochen gibt es auf der Insel Proteste | Foto: Michael Trammer

"Es wird weitere Proteste geben", sagt Sami Azizi. Als Community Leader vertritt er einen Teil der Afghanen gegenüber den Behörden. "Es gibt kaum Strom, die Interviews für Asyl liegen so weit in der Zukunft, keiner weiß, wie es weiter geht. Wir leben in ständiger Angst." Jeden Tag werden in Moria die Grundrechte von Menschen verletzt. Kinder spielen barfuß zwischen Müllbergen im Matsch, ohne Zugang zu Toiletten, Strom, angemessener medizinischer Versorgung, geschweige denn Schulen. Fünf Jahre nach 2015, als es so viele Helferinnen gab, dass sie sich anderen Volunteers zufolge um Selfies mit Babys in den Booten kloppten, ist ein würdeloses Leben Alltag an den Außengrenzen Europas.

Zainab hat es vorerst geschafft, das Camp zu verlassen. Sie arbeitet als Übersetzerin in der Arztpraxis einer NGO in der Nähe von Moria. "Ich bin so glücklich. Ich habe mein Leben wieder in der Hand. Ich kann entscheiden. Ich kann das wirklich fühlen. Ich glaube, ich kann es schaffen. Ich muss. Ich habe keinen anderen Weg. Ich möchte Ärztin werden. Ich habe als Kind schon mit so Sachen gespielt. Und ich möchte Gitarre spielen. Das löst all die Anspannung."

Zainab sagt all das mit einer solchen Überzeugung, dass es kaum zu glauben ist, dass sie ihr Asylinterview noch vor sich hat. Am 5. März 2020 kommt nach sieben Monaten Wartezeit der Tag, an dem griechische Beamte über ihre Zukunft richten sollten. Doch der Termin wird nach den Eskalationen der vergangenen Wochen verschoben: auf Dezember. Für die Zwischenzeit hat sich Zainab ein Deutsch-Buch besorgt, Level A1.

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<![CDATA[Warum ich Angst davor habe, allein in Quarantäne zu sein]]>https://www.vice.com/de_at/article/g5x3bq/psychisch-krankheit-angst-corona-isolation-quarantaneTue, 17 Mar 2020 14:21:07 GMTDonnerstag, wenige Tage vor dem Corona-Shutdown: Ich bin freie Journalistin und habe frei. Eines der Büros, in denen ich kurz zuvor noch als Freelancerin gearbeitet habe, ist zu. Ein anderes wird seine Mitarbeitenden am Nachmittag ebenfalls ins Homeoffice schicken. Es sind Vorsichtsmaßnahmen. Doch als ich die E-Mail lese, wird mein Magen schwer. Ich mache mir wegen des Coronavirus zum ersten Mal Sorgen.

Ich bin 27 Jahre alt, körperlich gesund und rauche nicht. Ich habe keine Angst davor, mich mit dem Erreger zu infizieren oder gar zu sterben. Vor den Maßnahmen, die ich im Falle einer Infektion treffen müsste, schon. Ich bin emotional instabil und wohne alleine. Mit meiner Katze. Quarantäne und soziale Distanz würden für mich bedeuten, dass wichtige Anker für meine psychische Gesundheit wegfallen. Und dass meine ohnehin immer auf einem Drahtseil balancierende Stimmung in einen sehr dunklen Abgrund fallen könnte.

Auch für Menschen ohne psychische Probleme ist die aktuelle Isolation eine Herausforderung – egal, ob sie alleine wohnen oder im Homeoffice arbeiten müssen, während zwei Kinder im Schulalter um sie herumtollen. Für psychisch Erkrankte ist eine solche Situation allerdings potenziell gefährlich: Ängste können sich durch die Nachrichtenlage verstärken, Gedankenspiralen können sich ohne Routinen und Ablenkungen wie Sport oder soziale Kontakte in Gang setzen. Das begünstigt depressive Episoden oder Schlimmeres.

Nicht rauszudürfen, schnürt mir den Brustkorb zu

Als ich am Donnerstag aufwache, lese ich den ersten Corona-Liveticker, sehe die leeren Supermarkt-Regale auf Twitter und beobachte quasi live, wie immer mehr Orte des öffentlichen Lebens geschlossen werden. Das trübt meine Stimmung.

Ich weiß, dass ich meinen Partner, meine Freundinnen und meine Familie per Videoanruf leicht erreichen kann und dass es den meisten von ihnen eigentlich gut geht, so wie mir. Aber allein das Wissen, dass ich gerade nicht die Freiheit habe, mich auch draußen auf einen Kaffee zu treffen, zum Sport zu gehen oder mich einfach unter Menschen zu begeben, schnürt mir den Brustkorb zu.


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Meine psychische Gesundheit ist wie ein Baum, und ich bin der Stamm. Wenn der Stamm geschwächt ist – durch Krankheit, PMS, Stress, Müdigkeit oder, wie jetzt, Probleme in der Außenwelt –, ist er manchmal nicht stark genug, um die Äste zu tragen. Dann wird es für mich schwer, die gute Stimmung zu halten. Auch an diesem Donnerstagmorgen merke ich, wie sich die ersten Unsicherheiten und Selbstzweifel wie ein dunkler Filter über meine Gedanken legen.

Es ist möglich, in einer Ausnahmesituation wie einer Pandemie eigene Ängste und Stress zu haben und dabei trotzdem empathisch für Menschen in schlimmeren Situationen zu sein. Das schreibt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem Ratgeber für den psychischen Umgang mit dem Coronavirus-Ausbruch: Dort heißt es etwa, man solle den Konsum negativer Nachrichten eingrenzen und auf sich achten, indem man gut schläft, isst und Übungen macht. Von Alkohol und Zigaretten als Bewältigungsstrategien rät die WHO ab. Und auch in dieser Zeit sollen Menschen mit psychischen Problemen die Hilfe in Anspruch nehmen, die sie brauchen.

Was kann ich zu Hause tun, um mir selbst Freude zu bereiten?

Zum Glück hatte ich an jenem Donnerstag noch einen Termin bei meiner Therapeutin. Ich erzähle ihr, dass ich Angst habe, wegen des Coronavirus allein sein zu müssen. Dass mich die viele Berichterstattung und die Panik zum Thema grundsätzlich eher nerven. Dass ich mir gerade eingestehen muss, angesichts des drohenden Shutdowns nun doch etwas nervöser zu werden. Sie versteht, dass die Situation schwierig ist und rät mir, ganz genau auf mein Inneres zu hören: Was brauche ich, um mich gut zu fühlen? Was kann ich hier und heute selbst tun, um Freude zu haben?

Mit diesem Input gehe ich nach Hause und fühle mich etwas besser. Die negativen Gedanken liegen wie in einem alten Umzugskarton immer noch in meinem Hinterkopf herum, und ich weiß, dass sie jederzeit ausbrechen könnten. Doch ich entschließe mich, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mir positive Gefühle bereiten.

In den nächsten zwei Tagen telefoniere ich mit meiner Familie, putze die Fenster meiner Wohnung, stelle ein paar Klamotten zum Verkauf ins Internet. Ich schaffe drei Sachen, dann habe ich keine Lust mehr und widme mich etwas Aufregenderem. Ich glätte meine Haare, schminke mich, trage Lippenstift auf und laufe zum Supermarkt, um mir viele schöne Lebensmittel für die Isolation zu kaufen. Mein Motto: Wenn schon isoliert, dann mit guten Augenbrauen und ausreichend Snacks.

Ich verpasse den Geburtstag meines Bruders – zur Sicherheit

Ich bin ziemlich sicher, dass ich bei einer zweiwöchigen Quarantäne allein zu Hause auch viele schlechte Tage haben würde. Am Freitag trete ich eine Reise in mein Heimatland Luxemburg nicht an, weil ich nicht weiß, ob ich wieder nach Hause komme. Ich bin traurig, weil ich den 18. Geburtstag meines Bruders verpasse, aber auch erleichtert: Würde ich den Erreger in mir tragen, hätte ich womöglich meine Familie gefährdet. So ist an diesen Tagen gefühlsmäßig alles ein Auf und Ab.

Am Samstag erlebe ich schließlich eine schöne Überraschung – und das Ende meines vorläufigen Alleinseins: Mein Freund reist zu mir, damit wir in dieser Zeit zusammen sind. Isolation zu zweit – das macht es leichter.

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<![CDATA[Wir haben Menschen gefragt, warum sie tonnenweise Klopapier kaufen]]>https://www.vice.com/de_at/article/g5xm87/warum-kaufen-menschen-klopapierTue, 17 Mar 2020 12:02:41 GMTEin Virus, das die Atemwege befällt, bringt das öffentliche Leben nach und nach zum Erliegen. Was tun die Menschen? Sie horten Klopapier. Und das nicht nur in Wien, sondern auf der ganzen Welt. In Niederösterreich kam es wieder zu handfesten Streitereien in einem Supermarkt, aus Hongkong gibt es Berichte über bewaffnete Klopapier-Räuber, in Japan werden Klopapierrollen auf öffentlichen Toiletten nach Diebstählen jetzt mit einer Kette gesichert.

Aber warum sind Menschen auf der ganzen Welt so verrückt nach Klopapier? Klar, niemand möchte mit einer halben Rolle zwei Wochen in Quarantäne überdauern müssen. Ein sauberer Hintern hat bei den meisten, neben Essen und Trinken, schließlich hohe Priorität. Aber anscheinend gibt das Horten den Menschen in Krisenzeiten auch ein Gefühl der Kontrolle. Und: Je größer die gehorteten Gegenstände, desto größer die wahrgenommene Kontrolle, sagte der australische Psychologe Adam Ferrier der Nachrichtenagentur Reuters. Die klobigen Klopapierpackungen eignen sich dementsprechend besonders gut zum Trost. Außerdem haben Dinge, die für unseren Körper gedacht sind, laut Ferrier eine besonders beruhigende Wirkung.


VICE-Video: Ich habe aus meinem Blut Plätzchen gebacken und gegessen


Aber genug Theorie. In Australien ist die Lage vor den Klopapierregalen besonders dramatisch. Unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind im Morgengrauen zu einem großen Supermarkt gefahren und haben Menschen interviewt, die tonnenweise Klopapier gekauft haben. Weil niemand fotografiert werden wollte, gibt es hier nur Bilder ihrer Einkäufe.

Die 65-jährige Lily und ihr Einkaufswagen mit Toilettenpapier

Lily, 65

VICE: Warum kaufst du so viel Toilettenpapier?
Lily: Weil ich mitkriege, wie alle in Panik verfallen. Also verfalle ich auch in Panik [lacht]. Ich würde sagen, dass ich es aus Vorsicht kaufe. Es ist wichtig, weiter auf seine Hygiene zu achten. Gerade mit dem Virus. Es ist es nicht wert, sein Leben deswegen zu riskieren.

Soweit ich weiß, wirkt sich das Virus aber nicht auf die Verdauung aus.
Ja gut, aber … du weißt doch, was ich meine.

Nein, nicht wirklich.
Mein ganzer Freundeskreis ist verrückt wegen Toilettenpapier. Alle. Sogar meine Kolleginnen und meine ganzen Verwandten im Ausland. Alle machen sich große Sorgen wegen der aktuellen Situation.

Hast du schon davon gehört, dass Toilettenpapier bei eBay weiterverkauft wird?
Ja, und das ist furchtbar. Menschen nutzen andere aus, es gibt kein Mitgefühl. Ich würde das sogar als kriminell bezeichnen.

Hayden, 30 Jahre alt, mit seinem Einkaufswagen voll mit Klopapierpackungen

Hayden, 30

VICE: Warum hortest du Toilettenpapier?
Hayden: Ich habe Angst, dass andere vor mir alles leerkaufen und ich keins mehr bekomme. Ich habe außerdem fünf Geschwister, die alle selber Familien haben. Ich kaufe für sie welches mit.

Warum Klopapier und nicht etwas anderes?
Es gibt genügend Lebensmittel, zumindest bis jetzt. Aus irgendeinem Grund sind gerade alle heiß auf Klopapier.

Hast du eine Theorie, warum das so ist?
Ich weiß es nicht, aber aus irgendeinem Grund gibt es gerade eine Nachfrage, also muss ich auch Welches besorgen.

Gab es eine bestimmte Meldung, die dich dazu gebracht hat, Klopapier zu kaufen?
Es waren vor allem die Nachrichten, aber auch der ganze Kram auf Facebook, Instagram, Twitter und so weiter.

Machst du dir Sorgen, dass das Virus noch schlimmer wird?
Bislang mache ich mir keine großen Sorgen. Vielleicht 5/10.

Danny, 21 Jahre, trägt drei Packungen Klopapier

Danny, 21

VICE: Warum kaufst du so viel Klopapier?
Danny: Weil wir alle Idioten sind. Kann man nicht anders sagen.

Glaubst du, diese Klopapierkrise ist ein typischer Fall von Herdenverhalten?
Auf jeden Fall. Ich glaube, das ist viel übertriebene Panik und einfach die generelle Angst, etwas zu verpassen. Auf keinen Fall werden die Menschen das Toilettenpapier so schnell verbrauchen. Oder haben jetzt plötzlich alle chronischen Durchfall bekommen?

Du schleppst aber auch gerade drei Packungen mit dir rum.
Mir ist tatsächlich zu Hause das Klopapier ausgegangen. Außerdem hat der Supermarkt hier eine "Eine-Packung-pro-Kunde-Regelung". Ich bin mit zwei Kumpels unterwegs, der eine schiebt hier den Wagen, der andere sucht gerade noch mehr Lebensmittel. Wir kaufen jetzt möglichst alles, was wir brauchen, damit wir nie wieder in dieses Höllenloch zurückkommen müssen.

Da ist auch ganz schön viel Essen in eurem Wagen. Hortet ihr das oder seid ihr einfach hungrig?
Wir haben Hunger.

Was kauft ihr sonst so?
Einen Haufen Puddingteilchen. Die sind einfach der Hammer hier. Ach, und so eine große Packung Brezeln wollte ich noch holen. Ich bin gleich wieder da.

Ashleys Einkaufswagen mit Klopapier und Windeln

Ashley, 30

VICE: Warum kaufen die Leute gerade so viel Toilettenpapier?
Ashley: Ich glaube, die haben einfach Angst. Sie haben Angst, dass sie ihr Haus nicht verlassen dürfen und es ihnen dann ausgeht. Das ist eine Art Gruppenpanik, die hier gerade stattfindet. Ich kaufe welches, weil wir zu Hause keins mehr haben.

Was ist deiner Meinung nach der Hauptgrund für diese Panik?
Definitiv die Nachrichten. Ich glaube, die Nachrichten haben allen Angst vor dem Coronavirus gemacht. Deswegen machen sie jetzt so bescheuerte Sachen wie das mit dem Klopapier.

Hast du Leute in deinem Freundeskreis, die Klopapier-Panikkäufe machen?
Nicht, dass ich wüsste. Aber bei ein oder zwei Menschen würde ich mich nicht wundern, wenn sie das heimlich machen.

Machst du dir große Sorgen, dass das Virus außer Kontrolle gerät?
Momentan eigentlich nicht – wenn überhaupt, dann wegen der Kleinen hier [sie zeigt auf das Baby in ihrem Einkaufswagen]. Vielleicht würde ich mir mehr Sorgen machen, wenn ich schwanger wäre. Ich mache mir gerade viel mehr Sorgen, dass es vielleicht bald keine Windeln mehr gibt.

Sollten Leute überhaupt etwas auf Vorrat kaufen?
Auf keinen Fall. Wenn ich irgendwas auf Vorrat kaufen würde, dann Lebensmittel, Babynahrung, Wasser und Medizin. Ich verstehe diese ganze Klopapiergeschichte nicht.

Jons Einkaufswagen mit Klopapier, Taschentüchern und Wasserflaschen

Jon, 29

VICE: Was hältst du von diesem ganzen Klopapierfiasko?
Jon: Wir kaufen welches, weil wir fast keins mehr zu Hause haben. Es ist aber schon etwas frustrierend, für eine Packung in der Schlange stehen zu müssen. Keine Ahnung, warum alle es kaufen.

Hast du eine Theorie, warum das so ist?
Es muss mit dem Virus zusammenhängen, aber ich verstehe nicht, warum gerade Klopapier. Ich habe an Orten gelebt, die regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht wurden. Niemand hat dort Klopapier gebunkert. Die Menschen kaufen Wasser, Taschenlampen, Kerzen und solche Sachen. Ich habe noch nie in meinem Leben Klopapier auf Vorrat gekauft. Wenn du glaubst, dass die Welt untergeht, warum brauchst du dafür einen sauberen Arsch? Ich verstehe das nicht.

Hast du Freunde, die wegen des Virus überreagieren?
Ich glaube nicht. Viele von uns arbeiten im Gesundheitsbereich. Wir sind also ziemlich auf dem neuesten Stand. Wir wissen, dass die Sterblichkeitsrate relativ niedrig ist. Es wird uns nicht wirklich umbringen. Es wird für uns einfach wie eine Erkältung sein.

Machst du dir gar keine Sorgen um das Virus?
Überhaupt nicht. Ich warte nur darauf, dass die Flüge noch billiger werden, damit ich reisen kann. Ernsthaft, es könnte mir nicht weniger Sorgen machen. Ich bin allerdings großer Sport-Fan. Mir bereitet viel mehr Sorgen, dass Sportveranstaltungen abgesagt werden.

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This article originally appeared on VICE AU.

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<![CDATA[So verloren sind Geflüchtete auf dem Balkan]]>https://www.vice.com/de_at/article/5dmqeq/gefluchtete-balkan-bosnien-herzegowina-balkanrouteMon, 16 Mar 2020 16:47:28 GMTAls wir vor knapp fünf Wochen in Bosnien-Herzegowina waren, um uns die Situation der geflüchteten Menschen vor Ort anzusehen, war das Corona-Virus noch eine weit entfernte Nachricht aus China. Jetzt ist alles anders.

Trotz der aktuellen Umstände dürfen wir nicht vergessen, was derzeit ein paar Hundert Kilometer von uns entfernt passiert. Wir müssen dahin sehen, wo Menschenrechte verletzt werden. Auch wenn unsere Schulen schließen, wenn wir uns Sorgen um Zukunft und Gesundheit machen und zuhause bleiben bleiben müssen. Wohin sollen sich jene Menschen zurückziehen, die kein Zuhause mehr haben?

In der bosnischen Stadt Bihać, 1.600 Kilometer entfernt von Lesbos, steht eine Gruppe junger Männer vor einem verlassenen Haus. Man kann es nicht wirklich als Haus bezeichnen, es ist eher ein Klotz. Ein Klotz, der sogar tagsüber unheimlich aussieht. Die Fenster starren einen an, leben möchte man hier nicht. Eine Gruppe von rund 20 jungen Männern muss es. Ein paar von ihnen gehen zum Fluss neben dem Betonmonster, waschen sich das Gesicht mit kaltem Wasser, richten sich die Haare zurecht. Der Spiegel, den sie dafür benutzen, ist zerbrochen.

Der riesige Betonklotz ist, wie so vieles in Bosnien-Herzegowina, niemals zu Ende gebaut worden. Ausgerechnet Bosnien, ein vom Balkankrieg gezeichnetes Land mit einem dysfunktionalen, politischen System, soll Geflüchteten auf dem Weg in die EU Schutz bieten.


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Bosnien-Herzegowina ist kein Teil der Europäischen Union, aber das ex-jugoslawische Land grenzt an Kroatien. Viele Geflüchtete durchqueren es, weil sie in EU-Länder wie Italien, Frankreich oder die Niederlande kommen wollen. Weil Slowenien und Kroatien ihre Grenzen dicht machen, stecken viele Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina fest.

Wir haben drei Camps in Bihać und Velika Kladuša besucht, eins davon war ein Wild Camp. Betreten durften wir die offiziellen allerdings nicht. Die Anfrage für eine Presse-Akkreditierung für das Camp Bira blieb unbeantwortet.

Im Zeitraum von Januar 2018 bis November 2019 sollen etwa 40.000 Menschen durch Bosnien-Herzegowina gezogen sein. Im Herbst 2019 sollen sich etwa 7.000 bis 8.000 Geflüchtete im Kanton Una-Sana, in dem auch Bihać liegt, aufhalten. Die Zahlen variieren. Die UNHCR erwartet aufgrund der angespannten Situation in der Türkei und Griechenland für dieses Jahr allerdings 60.000 neue Geflüchtete in Bosnien. Eine Zahl, mit der die Länder an den EU-Außengrenzen nicht alleine fertig werden.

Polizisten greifen Geflüchtete an der EU-Grenze auf und bringen sie zurück nach Bosnien – oft unter Gewalt

Subhan trocknet sich das Gesicht mit seinem Jackenärmel, lächelt freundlich und zeigt auf das Haus. "Tee?" Er ist einer der jungen Männer, die im Betonmonster leben. Der 23-Jährige ist vor zehn Monaten aus Pakistan geflüchtet. Wir folgen Subhan.

Innen liegen überall Schutt und Müll. Lange Gänge, die auch bei Tageslicht im Dunkeln enden. Links ein Raum, den die Geflüchteten als Küche nutzen: Eierschalen, leere Wasserkanister und Kartons am Boden verteilt, in der Ecke eine provisorische Feuerstelle, daneben ein großer Topf mit pakistanischem Tee – mit viel Zucker und viel Milch. Gegenüber liegt der Raum, in dem die rund 20 Männer schlafen.

Ein Geflüchteter in Bosnien-Herzegowina, Foto: Alexandra Stanic
Der 23-jährige Subhan war in Pakistan Mathematiklehrer

Subhan ist vor rund einem Monat in Bosnien-Herzegowina angekommen. "Mit meiner Familie", sagt er und deutet auf die anderen Männer. Subhan sagt, anders als viele andere Geflüchtete, er habe erst ein Mal versucht, die Grenze zu überqueren. Die kroatische Polizei habe ihm und den anderen alles weggenommen: Schuhe, Schlafsäcke, Handys, Dokumente, Geld. "Sie schikanieren und verprügeln uns", sagt Subhan. "Es ist unmenschlich, was hier passiert."

In Pakistan sei Subhan Mathematiklehrer gewesen. Jetzt ist er potenzielle Zielscheibe für gewalttätige Beamte, die Push-Backs betreiben, illegale Abschiebungen. Die kroatische Grenzpolizei verhindert die Flucht in die EU systematisch, bringt Menschen zurück nach Bosnien-Herzegowina, ohne dass sie einen Asylantrag stellen dürfen. Dieses Recht haben Menschen aber laut der Genfer Flüchtlingskonvention, die alle EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet haben.

"Die EU kann nicht so tun, als wüsste sie nicht, was hier passiert."

Maddalena Avon, die seit drei Jahren für das Center for Peace Studies (CMS) in Zagreb arbeitet, schätzt: "Im Jahr 2019 wurden für Bosnien-Herzegowina 6.000 Push-Back-Berichte dokumentiert und veröffentlicht." CMS beschäftigt sich mit Asyl, Integration und Migration und bietet Asylsuchenden unter anderem rechtliche Unterstützung in ihren Verfahren.

"Wir wissen, dass Organisationen und Watch Dogs ihr Bestes geben, um die illegalen Abschiebungen zu dokumentieren", sagt Avon. "Aber wir gehen davon aus, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt." Es könne sogar vorkommen, dass Personen mehrmals Push-Backs nach Bosnien-Herzegowina erleben. Das bedeutet, dass sie immer wieder auf bosnischem Territorium abgesetzt werden, oft unter brutaler Gewalt.

"Wir haben ihnen nicht erlaubt, Asyl zu beantragen. Das waren Befehle unserer Vorgesetzten von der Polizeistation."

Eine Lösung ist nicht in Sicht: Es liege in der Verantwortung der EU, gegen Menschenrechtsverstöße zu ermitteln und vorzugehen, sagt Avon. Der Frühling würde neue Herausforderungen bringen, wie jedes Jahr: "Im Winter suchen weniger Menschen nach Schutz." Danach gehen die Fluchtversuche nach Europa wieder verstärkt los.

Es gibt Berichte von lokalen und internationalen NGOs, die die Push-Backs und Gewalt an der Grenze dokumentieren. Sie nehmen Foto- und Videomaterial von Journalistinnen und Aktivisten und anonyme Aussagen kroatischer Polizisten auf. Einer sagte gegenüber des österreichischen Magazins Profil: "Wir haben ihnen nicht erlaubt, Asyl zu beantragen. Das waren Befehle unserer Vorgesetzten von der Polizeistation."

Eine Gruppe geflüchteter Männer aus Pakistan, Foto: Alexandra Stanic
Die Männer leben in einem leerstehenden Gebäude – ohne Heizung, Strom, Wasser

Menschenrechtsorganisationen werfen der Europäischen Kommission vor, Gewalt und Brutalität von kroatischen Grenzpolizisten zu ignorieren. "Was an der kroatischen Grenze passiert, ist ein systematischer Verstoß gegen Menschenrechte", sagt Maddalena Avon. "Die EU kann nicht so tun, als wüsste sie nicht, was hier passiert."

Und dennoch: Der kroatische Regierungschef Andrej Plenković weist die Vorwürfe zurück und erklärt, Kroatien schütze die EU-Grenze. Für Letzteres bekam er Lob von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Die damalige Präsidentin Kroatiens, Kolinda Grabar-Kitarović, bestätigte im Juli 2019 die illegalen Push-Backs.

Naseer überquerte die Grenze 25 Mal ohne Erfolg

Auch der 25-jährige Naseer lebt in einem verlassenen Haus in Bihać, ein paar Kilometer entfernt vom Betonklotz. Er sagt, er sei vor eineinhalb Jahren aus Afghanistan geflüchtet und wolle weiter nach Italien. Genau so oft wie Naseer es über die Grenze versucht habe, sei er von der Polizei erwischt und illegal zurück nach Bosnien-Herzegowina gebracht worden: 25 Mal.

Sowohl Subhan als auch Naseer betonen, dass die Bedingungen im Camp schlimmer seien als draußen. Das Lager Bira sei völlig überfüllt, sagt Naseer. Ständig würden sich die Bewohner streiten, es soll kein oder zu wenig trinkbares Wasser geben, das Essen sei schlecht, die Luft auch.

"Ich habe in keinem anderen Land so schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht wie hier", sagt der 25-Jährige. "Erst misshandeln die Beamten uns, dann schmeißen sie uns irgendwo in den Bergen Bosniens aus dem Auto", sagt Naseer. "Manchmal verbrennen sie unsere Sachen vor unseren Augen." Das letzte Mal, so erzählt er, habe er er den Grenzübertritt Anfang Februar versucht. "Die kroatischen Polizisten haben uns einzeln gepackt und verprügelt."

Selbst in Bihać könne sich Naseer nicht frei bewegen, weil ihn bosnische Beamte aufgreifen und zum Camp bringen würden – auch wenn er nicht dort lebt. Die Stadt verdrängt die Geflüchteten aus dem öffentlichen Raum. Nicht umsonst lag das umstrittene Camp Vučjak zehn Kilometer entfernt vom Stadtzentrum auf einer ehemaligen Müllhalde. Im Dezember letzten Jahres wurde Vučjak aufgrund der katastrophalen Umstände endgültig geschlossen.

Die Botschaft wirkt dennoch für viele Geflüchtete, mit denen wir sprechen: Refugees not welcome. Sie berichten, dass sie in Cafés nicht bewirten werden und in Supermärkten nicht einkaufen dürfen. Naseer sagt, er könne noch nicht einmal zu Western Union, um dort Geld abzuheben: "Wie soll ich Essen kaufen?"

Auch Helferinnen berichten von Schikanen der Polizei

Naseer ist angewiesen auf die Spenden von Zemira Gorinjac. Von ihr bekommt er Essen und Schuhe. Wir treffen die ehrenamtliche Helferin zu Hause. Flüchtlingsmutter betiteln sie Medien, Mama Zemira nennen sie Geflüchtete. Die Sozialarbeiterin bestätigt die Schilderungen von Subhan und Naseer. Gorinjac steht mit ihrer NGO "Udruženje Solidarnost – Bosnia, Bihać", zu Deutsch "Verein der Solidarität – Bosnien, Bihać", Geflüchteten zur Seite und verteilt Spenden.

Gorinjacs System ist einfach, aber effizient: Zwei geflüchtete Männer aus dem Camp schreiben auf, was die Bewohner brauchen: Sportschuhe, Größe 44. Winterjacke, Größe S. Ein Schlafsack, eine Decke. Medikamente gegen Zahnschmerzen, Husten, entzündete Wunden. Jeder kriegt ein Zettelchen, mit dem er sich dann an einer bestimmten Uhrzeit die Sachen abholen kann.

"Es wäre unmöglich, die Spenden anders zu verteilen, weil sonst Chaos und Schlägereien ausbrechen würden", sagt Gorinjac.

Flüchtlingshelferin Zemira Gorinjac, Foto: Alexandra Stanic
Medien nennen sie Flüchtlingsmutter, Geflüchtete nennen sie Mama Zemira

Die meisten Spenden erhält Mama Zemira derzeit aus Wien, von der Spendeninitiative SOS Balkanroute. "Die bosnische Bevölkerung kann nicht mehr", sagt sie. Während sich die Zivilgesellschaft für die Menschen eingesetzt hat, hat die EU dabei zugesehen, wie Geflüchtete auf einer Mülldeponie festgehalten wurden. Weil sie eine anerkannte NGO hat, bleibt Gorinjac meistens von der Schikane bosnischer Polizisten verschont. "Trotzdem machen sie mir das Leben schwer, indem sie zum Beispiel meine zwei ehrenamtlichen Helfer nicht zu mir kommen lassen."

Die Polizei wisse, wo sie wohnt, sagt Gorinjac – so wie jeder in der Stadt. "Damit meine Freiwilligen zu mir kommen können, um die Kleidung und das Essen in Paketen vorzubereiten, müssen sie einen Umweg von 45 Minuten gehen", erzählt sie. "Sonst greift die Polizei sie auf der Hauptstraße auf und bringt sie zurück ins Camp." Auch mit dem Auto könne sie ihre Helfer nicht abholen, sagt Gorinjac. Die Polizei kenne ihr Kennzeichen und würde sie oft verfolgen.

Vor dem Camp zeigen die Geflüchteten ihre Verletzungen

19 Uhr, Spendenvergabe vor dem Camp Bira. Sobald Gorinjac' blauer VW Polo vor dem Tor des Lagers stehen bleibt, bildet sich eine Traube junger Männer.

"Mama Zemira, Mama Zemira", rufen sie.

"Alle mit Zettelchen rechts anstellen, der Rest kann gehen."

Zemira muss schreien. Die Situation ist hektisch, jeder will mit ihr reden, jeder will etwas abhaben. Ohne ihre beiden Freiwillige würde die Vergabe vermutlich außer Kontrolle geraten.

"Mama Zemira", tönt es immer wieder.

"Ich komme bald wieder, macht euch keine Sorgen."

In dem Getümmel deutet ein junger Mann auf eine etwa zehn Zentimeter große Narbe an seinem linken Unterarm. Kroatische Beamte hätten ihn umzingelt und auf ihn eingeprügelt, sagt er. Daraufhin sei er in Glasscherben gefallen und habe sich die Schnittwunde zugezogen. Ein anderer Geflüchteter vor dem Camp, Asif, 21, ist erzählt, die kroatische Polizei solle ihm Pfefferspray ins Gesicht gesprüht haben. Seine Pupille ist weiß und milchig.

Ein Geflüchteter, der auf einem Auge blind ist
Asif sieht auf einem Auge nichts mehr, weil ihm die kroatische Grenzpolizei Pfefferspray ins Auge gesprüht haben soll

"Sie haben mein Weinen und Flehen ignoriert und mich nicht ins Krankenhaus gebracht", sagt er. "Jetzt bin ich auf meinem rechten Auge blind."

Subhan, Naseer, Asif – nur drei Namen der Geflüchteten, die uns von den katastrophalen Umständen und der Brutalität der Polizisten berichten. 12 Mal, 17 Mal, 25 Mal, 32 Mal – so oft haben viele Geflüchtete versucht, über die Grenze zu kommen. Genau so oft sind sie gescheitert.

"Ein Leben ohne Ziel hat keinen Sinn", sagt der 23-jährige Mathematiklehrer Subhan. Sein Ziel, und das vieler anderer Geflüchteter, ist ein Leben in Freiheit und Sicherheit. Für sie alle liegt das in Europa.

Mama Zehida

Ein verlassenes Fabrikgelände in Velika Kladuša, 50 Kilometer weit entfernt von Bihać. Die Flüchtlingshelferin Zehida Bihorac bleibt vor einem Wild Camp in einer riesigen, offenen Halle stehen. Rund 100 Männer leben hier, sie sind aus Ländern wie Pakistan, Syrien oder Afghanistan geflüchtet. Die Stimmung ist angespannt. Es gibt keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser. Die Halle schützt kaum vor dem kalten, bosnischen Winter.

Es zieht und ist dunkel. So dunkel, dass man die eigene Hand vorm Gesicht nicht sieht. Als wir unser Handylicht benutzen wollen, sagt einer der Campbewohner: "Hört auf damit, das erinnert an die kroatischen Zollbeamten, die uns angeleuchtet haben, bevor sie auf uns einschlugen."

Mama Zehida, Zehida Bihorac, teilt sich nicht nur den Spitznamen mit der Flüchtlingshelferin Zemira Gorinjac in Bihać, sie haben auch das gleiche Auto: einen kleinen, blauen VW Polo. Der Wagen von Zehida ist bis oben hinvoll mit Spenden. Anders als Zemira hat sie allerdings keine Helfer und keine Organisation im Rücken. Nur Freundinnen, die von Zeit zu Zeit einspringen und aushelfen, so gut es eben geht.

"Ich bin von der Willkür der Polizisten abhängig", sagt Bihorac. Die Beamten würden sie oft unnötig lange befragen oder sie sogar verfolgen. "Ich darf weder an öffentlichen Orten noch vorm Supermarkt oder vorm Camp Essen und Kleidung verteilen", sagt Bihorac. Die Hilfsaktionen passieren in Nacht- und Nebelaktionen. "Manchmal fühle ich mich wie eine Kriminelle", erzählt sie. "Als würde ich Drogen verkaufen und nicht Essen verteilen."

Die Verteilungsaktionen sind stressig, die Stimmung angespannt

Zurück im Wild Camp: Links in der Halle sind rund ein Dutzend provisorische Campingzelte aufgebaut. Manche Männer haben ein Feuer gemacht. Überall huschen Menschen vorbei, in der Entfernung jault ein Hund auf. Rechts brennt eine Plastikplane im Feuer.

"Die meisten hier kommen gerade zurück von einem Game", erklärt Bihorac. So nennen Geflüchtete den Versuch, über die kroatische Grenze zu kommen. Game Over, wenn sie die Polizei erwischt und zurückbringt.

"Wir müssen abbrechen", sagt Bihorac, und die Sorge in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Wie kommen wir zu ihrem Auto? Es ist umzingelt von jungen Männern, die auf Bihorac einreden.

"Mama Zehida, Mama Zehida!"

Eine Diskussion zwischen zwei Geflüchteten entsteht. Ein Dritter versucht zu schlichten. "Ihr solltet besser gehen", sagt er. "Kommt morgen wieder, wenn sich die Situation beruhigt hat."

Die Geflüchteten haben Respekt vor Bihorac, weil sie eine der wenigen lokalen Helferinnen ist. Aber die Verzweiflung ist jedem ins Gesicht geschrieben. Bihorac vereinbart mit fünf Männern, mit denen sie zuvor Kontakt hatte, dass sie sich auf einer Schotterstraße neben einem Supermarkt treffen. So sieht ihr Alltag aus: Dutzende Geflüchtete schreiben ihr täglich auf Facebook – jeder in Velika Kladuša kennt Mama Zehida – und Bihorac versucht, das Nötigste zu organisieren.

Die Geflüchteten kontaktieren Bihorac über Facebook, dann schnürt sie Spendenpakete

Sie merkt sich, wer wo lebt. Das ist bei den vielen Geflüchteten, die derzeit nicht in Camps, sondern in verlassenen Häusern, Fabrikhallen oder auf der Straße leben, eine Herausforderung. Von 9 bis 15 Uhr geht Bihorac ihrem Job als Volksschullehrerin nach, danach durchforstet sie ihre Facebook-Nachrichten und packt Spendenpakete.

Geflüchtete leben in einem Container in der Nähe des offiziellen Camps in Velika Kladusa, Foto: Alexandra Stanic
Es gibt keine Hilfe vom bosnischen Staat, keine Essensmarken, keine Stelle, an die sich Geflüchtete wenden könnten

Eins der Pakete geht an ein syrisches Ehepaar, das zusammen mit zwei weiteren Geflüchteten in einem Container etwa 200 Meter vom Camp wohnt. Die 32-jährige Imen und ihr Mann Ibrahim leben seit rund sieben Monaten in Bosnien-Herzegowina. Der Besitzer des Grundstücks lässt die Ärztin und ihren Mann umsonst in dem Container leben. Sie nennen ihn Babo, ein bosnischer Ausdruck für Papa. Das Paar könnte es schlimmer haben, wie es selbst sagt.

"Die Grenzen sind geschlossen, es gibt keine Chance, weiterzuziehen", sagt Imen. "Alles, was wir haben, verdanken wir Mama Zehida." Der Ofen, Decken, Essen, Geschirr, Hygieneprodukte. Es gibt keine Hilfe vom bosnischen Staat, keine Essensmarken, keine Stelle, an die sich Geflüchtete wenden könnten.

Bihorac' letzter Stopp für die Nacht ist eine fünfköpfige, irakische Familie, die bis vor kurzem vor einer Moschee schlief. Ein Bosnier, der in Österreich lebt, habe ihnen angeboten, in sein leerstehendes Haus zu ziehen. "Diese Familie hat vergleichsweise Glück", sagt Bihorac. "Sie haben ein Dach über dem Kopf, Strom, Warmwasser und Menschen, die sich um sie kümmern."

Manchen der Geflüchteten will Bihorac einfach eine Freundin sein

Bihorac komme vor allem vorbei, um eine Freundin zu sein und mit den Kindern zu spielen. Einmal habe es die Familie bei einem Game bis nach Slowenien geschafft, dann habe sie sich selbst der Grenzpolizei gestellt. "Wir hatten drei Tage kein Essen, einer unserer Söhne hatte Haarausfall", erzählt die Mutter. "Wir waren einfach am Ende."

Sie sagt, sie hätten die Polizisten angebettelt, einen Asylantrag in Slowenien stellen zu dürfen. "Aber sie haben uns in ein Polizeiauto verfrachtet und in Bosnien abgeladen." Dabei haben Schutzsuchende das Recht, in dem Land, in dem sie aufgegriffen wurden, einen Asylantrag zu stellen. Einmal mehr ist das Schicksal einer Familie abhängig von der Willkür von Beamten. Derzeit verharrt die Familie in Velika Kladuša. Bis es wieder wärmer wird, bis die Kinder genug Kraft tanken konnten, bis sie wieder Mut für einen weiteren Versuch haben.

"Wir wollen kein Game Over in Bosnien. Wir wollen ein sicheres Leben in der EU."

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<![CDATA[Harald wurde aus Österreich abgeschoben – ja, aus Österreich]]>https://www.vice.com/de_at/article/qjdnkd/abschiebung-oesterreich-deutschland-abgeschoben-antifaThu, 12 Mar 2020 13:28:42 GMTDer letzte Zug verlässt den Hauptbahnhof um 23:13 Uhr. Als die Polizisten Harald um halb 12 in Passau absetzen, fährt nichts mehr. Harald hat kein Geld und kein Handy, und eine Wohnung hat er auch nicht mehr. Zumindest nicht in einem Land, das er betreten darf.

Harald fragt Passanten nach ihren Handys: "Wollen Sie eine lustige Geschichte hören?" Die Masche zieht. Er schreibt seinen Freunden E-Mails von den fremden Telefonen und erzählt, dass er von der Polizei beim Sprayen erwischt und dann abgeschoben wurde. Ja, aus Österreich. Die Leute lachen. Harald findet es gar nicht mehr so lustig.

Eine Abschiebung. Für viele Geflüchtete bedeutet das die Rückkehr in ein Zuhause, das es nicht mehr gibt. Oder eines, das man verlassen musste, weil man es dort nicht mehr aushielt.

Harald ist am Rand von München aufgewachsen. 30 Minuten in die Innenstadt, aber nur fünf Minuten bis zum Waldfriedhof. Auf der Straße spielte er Fußball, er sang im Tölzer Knabenchor, trainierte Handball und spielte Cello am musischen Gymnasium. Dass ein Deutscher abgeschoben wird, von Österreich nach Deutschland, klingt wie ein schlechter Witz. Wie ist das möglich? Und ist das überhaupt rechtens?


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Das österreichische Innenministerium hält Harald für eine "erhebliche Gefahr für das Grundinteresse der österreichischen Gesellschaft, nämliches jenes an Ruhe, Ordnung und Sicherheit". So steht es mehrfach in seinem Abschiebebescheid. Dort steht auch, dass er nur in Österreich lebe, um Straftaten zu begehen. Er sei ein führendes Mitglied der anarcho-linken Szene.

Vier Jahre lebte er in Wien, bis er zurück in seine Heimat geschickt wurde. Seit etwa fünf Monaten schläft Harald jetzt wieder in seinem Kinderzimmer. Bis vier Uhr morgens, dann muss er für seinen Job an der Tanke aufstehen. Jetzt ist es 13 Uhr und Harald zählt die Einnahmen aus seiner Schicht. Ein Zwei-Meter-Mann vor fünf Metern Zigaretten. Seine braune Locken hängen ihm in die Augen, auf seiner Oberlippe eine kleine Narbe, die sich beim Lächeln verzieht. Schichtende. Als er geht, packt er noch zwei Sackerl trockene Brezen ein, für die Pferde seiner Schwester.

Harald studierte Politikwissenschaft in Wien, arbeitete als Sicherheitsmann in Museen. Er spielte Handball und sang im Chor. Er lebte im 3. Bezirk, fuhr überall mit dem Fahrrad hin. Und ja, er war bei der Antifa.

"Blut an euren Händen" sollte auf der Mauer stehen

Im September zeichnete sich ab, dass die Türkei einen Angriff auf die kurdische Hochburg Rojava plante. Was tun? Die Idee: "Blut an euren Händen" sollte an die Mauern des Rheinmetall-Partners MAN Military Services gesprüht werden. Auf einem Banner sollte stehen: "Rheinmetall entwaffnen". So sollte ein Zeichen gesetzt werden.

Das Unternehmen liegt in einem Industriegebiet in Wien-Liesing. In Sichtweite befindet sich ein Straßenstrich. Ein zivile Streife fuhr dort Patrouille, als sie Harald und seine Genossen sahen. So nennt er sie. Wie viele sie waren, das will er nicht sagen.

Harald will vieles nicht sagen. Oder zumindest will er es nicht lesen.

"Als Sie dann von der Polizei bei der Begehung der Straftaten angetroffen wurden, haben Sie mit erheblichem Widerstand versucht zu flüchten und sich der Amtshandlung zu entziehen. Dabei sind Sie frontal auf einen Polizeibeamten zugelaufen und haben diesen mit voller Wucht zu Boden gerissen. Danach haben Sie diesen Beamten einen Knieschlag verpasst und versucht mit den Händen zu schlagen. Sie haben danach versucht ihre Flucht fortzusetzen, wurden aber anschließend durch einen weiteren Beamten gestoppt."

Harald zitiert den Polizeibericht, wenn er von den Geschehnissen dieser Nacht erzählt. Weil er nichts Falsches sagen will, aber auch weil es ihm leichter fällt, darüber zu sprechen, als sei das gar nicht er. Sein Atem wird kurz, er bittet um eine Pause.

Die Nacht hat er in einer Zelle verbracht, am nächsten Mittag ist Harald dann verhört worden. Er verweigerte die Aussage. Zwei Stunden später holten sie ihn wieder aus der Zelle. Harald dachte, dass sie ihn nun freilassen. "Nee, Hausdurchsuchung", sollen die Polizisten gesagt haben.

Harald in München
Weil Fabian sprayte, musste er Österreich verlassen

Sechs oder sieben Wagen fuhren daraufhin zu seiner WG im 3. Bezirk, erzählt Harald. Polizisten in schuss- und stichsicheren Westen durchsuchten sein Zimmer. Sie fanden: Eine Maske. Eine Sonnenbrille. Eine Baseball-Kappe. Einen Tacker. Einen Erste-Hilfe-Kasten. Pyrotechnik. Ein Seil. Vorschnitte zum Sprayen.

"Da haben sie schon mehr oder weniger gejubelt", sagt Harald. Die Polizisten sollen ihn aufgefordert haben, ein paar Sachen einzupacken. Er tat wie befohlen. T-Shirts, Unterhosen, Socken. "Weißt du, wohin es jetzt geht?", soll ein Polizist gefragt haben. "In U-Haft, schätze ich mal", sagte Harald. "Nee, Sie werden abgeschoben", sagte der Polizist. Harald lachte laut auf. Aber der Polizist scherzte nicht und Harald, der dachte, dass er fürs Gefängnis packt, vergaß sein Portemonnaie.

Der Pressesprecher des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) bestätigt, dass Harald "aufgrund der gesetzten strafbaren Handlungen, bei denen er auch auf frischer Tat betreten wurde, selber eine erhebliche Gefahr und der weitere Aufenthalt in Österreich eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt".

Dass Harald für seine Straftat weder angeklagt, geschweige denn verurteilt ist, ist für seine Abschiebung zwar zu berücksichtigen, aber nicht das einzige Kriterium. Ausschlaggebend sei "das persönliche Verhalten", sagt Professorin Ulrike Brandl von der Universität Salzburg. Die Behörde entscheidet im Einzelfall, ob jemand die Sicherheit der österreichischen Bevölkerung gefährdet – und ob er sich noch im Land aufhalten darf. Die Gründe, die das BFA für die Beurteilung heranziehen kann, beziehen sich auf das persönliche Verhalten der betreffenden Person. Welches Verhalten dich deinen Aufenthaltstitel kosten kann, entscheidet also die Behörde.

"Irgendwo wird's wohl ein Münztelefon geben"

Die Polizisten brachten Harald schließlich nach Wiener Neustadt, ins Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Der Amtsleiter befragte ihn. Wer war dabei? Was war Ihr Ziel? Wie lange haben Sie die Aktion geplant? Aber auch: Haben Sie Familie in Österreich? Haben Sie Freunde in Österreich? Haben Sie einen Job? Wie lange schon? Was studieren Sie?

So erzählt es Harald.

Er wollte keine Fragen beantworten. Nach etwa einer Dreiviertelstunde brachten sie ihn in den Flur, erinnert er sich. Dort setzte er sich auf einen Stuhl, flankiert von vier Polizeibeamten. Dann wurde er wieder reingerufen und der Amtsleiter legte ihm ein Blatt Papier vor. Darauf stand, dass sich Harald die nächsten zehn Jahre nicht in Österreich aufhalten darf, und dass er jetzt nach Deutschland gebracht wird.

Harald sagte: "Ich habe mein Portemonnaie nicht dabei und kein Handy, wie soll ich in Deutschland weiterkommen?" Der Amtsleiter soll ihm zwei Euro in die Hand gedrückt und gesagt haben: "Irgendwo wird's wohl ein Münztelefon geben."

Etwas verstehen und etwas realisieren, das sind zwei verschiedene Dinge. "Verstanden, dass ich abgeschoben werden soll, habe ich schon nach der Hausdurchsuchung", sagt Harald. Realisiert hat er es, als er in einem Polizeiauto mit 170 Stundenkilometern in Richtung Grenze bretterte.

Die Polizisten brachten ihn in eine kleine Gemeinde im Landkreis Passau, direkt hinter der Grenze. Zwei deutsche Polizisten holten Harald ab und brachten ihn zum Passauer Hauptbahnhof. Ab da war Harald allein.

Von einem Pizzaboten wollte er sich eine Pappschachtel leihen, zum Trampen. Der Mann gab ihm stattdessen 25 Euro für die Fahrt nach München. Harald verbrachte die Nacht in verschiedenen Bankfilialen. Am frühen Morgen kehrte er zum Bahnhof zurück. Er kaufte ein Zugticket. Von den zwei Euro des Amtsleiters eine Nussecke. Dann fuhr er nach Hause.

Das Oberverwaltungsgericht hat sein Einreiseverbot aufgehoben. Das Bundesministerium für Fremdenwesen und Asyl hat jedoch Berufung eingelegt: Sie wollen mit allen Mitteln verhindern, dass Harald Österreich je wieder betreten darf. Ihre Chancen stehen schlecht – weil Harald kein Gewalttäter ist. Doch die Polizei ermittelt noch gegen ihn: wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Anfang Februar wird in München Fasching gefeiert. Harald bewegt sich wie blind durch die schrill kostümierten Menschen, sie weichen dem Riesen aus. Er hält sich sehr gerade und drückt die Brust ein wenig raus, fast steif wandelt er durch die feiernden Massen. Er erkennt jemanden, grüßt, scheint zu zögern, ob er hingehen soll, der Typ grüßt kurz und dreht sich weg.

Auf dem Papier hat Harald wieder ein Leben in München. Er hat eine Wohnung, einen Job, ein Orchester, in dem er spielt, er engagiert sich weiterhin in einer Solidaritätsgruppe für Kurdistan. Aber die meisten seiner Freunde, die sind halt in Wien. Zöge er wieder nach Österreich, fürchtet er, könnte er jederzeit wieder verhaftet werden.

"Einfach, weil sie es können", sagt Harald. Auch deshalb kehrt er erstmal nicht zurück.

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<![CDATA[Eine Psychologin erklärt, was Pornos über uns verraten]]>https://www.vice.com/de_at/article/k7envy/was-pornos-ueber-uns-verratenWed, 11 Mar 2020 16:21:46 GMTRourke hält seinen Hintern in die Kamera. Er ist schmal gebaut, trägt weiße Spitze und spielt mit einem lackierten Finger an seinem Poloch. Dann tritt Zilv ins Bild, groß, muskulös, mit unzähligen Tattoos.

Rourke und Zilv sind Pornostars und waren die meistgesuchten schwulen Hobby-Pornodarsteller auf Pornhub im letzten Jahr. Ihre Videos werden millionenfach aufgerufen. Sie alle funktionieren nach Schema F: Der feminine Rourke lässt sich von Zilv gnadenlos durchknallen und sagt immer wieder: "Ja, gib's mir, Daddy." Die beiden trennt ein Altersunterschied von sechs Jahren, sie kommen aus Essex und sind verlobt, so steht es zumindest in ihrem Profil. In ihren selbstgedrehten Sexfilmen leben Zilv und Rourke ihre Fantasien aus – und damit auch die der Zuschauer. Denn so funktioniert Porno, egal ob homo oder hetero: Er ist eine Fantasie.

Die Psychologin Ulrike Schneider-Schmid erklärt das so: "In Pornos menschelt es sehr. Einerseits kann man die Wünsche und Fantasien einer Gesellschaft ablesen, andererseits aber auch die Dinge, die im Alltag verboten sind." Wir haben die Berliner Psychologin in unser Büro eingeladen, um mit ihr Pornos zu schauen. Denn wir wollen etwas über unsere Gesellschaft, unsere Wünsche und unser sexuelles Verlangen lernen.

1. Verbote machen geil

Anna und Elsa aus Frozen in einem als Märchen getarnten Lesben-Porno, Berlin Tag und Nacht-Darsteller und einfache "Sex mit dem Handwerker"-Filme begegnen uns auf Pornhub. Oder, wie Schneider-Schmid sagt: "Alle Aspekte des menschlichen Lebens findet man in Pornos." Aber: Pornos sind dennoch Fantasien und die bekommen den besonderen Kick, wenn sie zwar im realen Leben stattfinden könnten, aber so für den Zuschauer nicht auslebbar sind.

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Psychologin Ulrike Schneider-Schmid und unser Autor Sebastian Goddemeier haben sich im VICE-Konferenzraum eingeschlossen, um Pornos zu gucken

"Es gibt so viele sexuelle Spielarten, exhibitionistische Züge, Fetische oder etwaige sexuelle Praktiken. Man hat vielleicht nicht immer den Partner, der solche Vorlieben teilt. Da kommt dann die Fantasiewelt der Pornos ins Spiel." Nicht jeder, der Pornos schaut, in denen eine Stiefmutter von ihrem Sohn gevögelt wird, würde auch seine eigene Stiefmutter flachlegen wollen. "Alles, was anders ist, alles, was verboten ist, das interessiert uns. Da wollen wir Infos! Das ist eine andere Art von neuronaler Erregung, die dann zur sexuellen Erregung beisteuert."

Denn es seien vor allem Verbote, so Schneider-Schmid, die die sexuelle Lust verstärken. Diese Verbote und Tabus werden in Pornos benutzt, damit der Zuschauer sie nicht selbst brechen muss. "In Pornos werden Tabus abgetastet. Was ist verboten? Die Stiefschwester, die mich bittet, in ihr zu kommen, zum Beispiel. Oder Sex am Strand."

Die Verbote sind übrigens nicht immer politisch korrekt, im Gegenteil: Interracial Porns seien laut Schneider-Schmid in den USA besonders beliebt, zum Beispiel Titel wie "White housewife gets kidnapped by five black guys". Alles an Klischees werde bedient.

2. Wir wollen uns mit den Darstellern identifizieren können

Nicht nur die Fantasie an sich, auch die Identifikation ist ein wichtiger Faktor im Porno: Im letzten Jahr liebten die Deutschen vor allem deutsche Pornos. Am häufigsten wurden die Begriffe "Deutsch" und, weil wir auch Englisch können, "German" gesucht. Warum? Schneider-Schmid sagt: "Wenn man 'Deutsch' in der Suche eingibt, werden sehr natürliche, ungestellte und amateurhafte Filme vorgeschlagen. Man sieht die Billigcouch, die man vielleicht vom Nachbarn kennt, Zigaretten liegen rum, Bierflaschen. Es wirkt sehr authentisch und sehr nah."


Auch bei VICE: Der Kampf der Mormonen gegen Pornografie


Pornos, die aussehen, als seien sie in der Nachbarwohnung aufgenommen worden, wirken für den Zuschauer realer. Die Fantasie vermische sich mit dem, was man aus dem eigenen Leben kennt. Projektion und Identifikation vermischen sich: "Wenn man nun deutsche Pornos sucht, kann es sein, dass man etwas sucht, das dem eigenen Leben entspricht, aber um Aspekte wie Dirty Talk, Analsex oder einen Fetisch ergänzt wird, die im eigenen Leben fehlen."

3. Wir wollen mit Macht spielen

Ein weiterer Punkt der Pornografie ist die vermeintliche Erniedrigung: Von der Startseite des Pornoportals schauen uns gleich mehrere Frauen entgegen, die auf Knien auf den Samenerguss ihres Partners warten. Wie weit ist die sexuelle Erniedrigung mit dem Feminismus und der Emanzipation der Frau im Jahr 2020 vereinbar?

Für Ulrike Schneider-Schmid ist das kein Widerspruch. "Auch Frauen wollen manchmal die Kontrolle abgeben, sich hingeben, sich als Objekt fühlen. Sie wollen das Gefühl bekommen, begehrt zu werden." Dieses Verhalten spräche sogar eher für einen Zugewinn an weiblicher Selbstermächtigung: "Es ist ja nichts mehr emanzipatorisch, als zu sagen: 'In diesem Moment gebe ich mich bewusst hin und ich habe die Entscheidung, zu sagen, was ich möchte.' Ambivalenz zwischen Hingabe und Dominierung ist sehr wichtig." Auf Platz drei der meistgesuchten Begriffe bei Pornos befindet sich übrigens der Suchbegriff "Femdom", also dominante Frauen, die Männer beherrschen.

Eine Langzeitstudie des Wiener Instituts für angewandte Tiefenpsychologie hat gezeigt, dass 27,5 Prozent der Frauen Erregung dadurch erfahren, jemandem ausgeliefert zu sein. Bei Männern waren es 26,2 Prozent. "Das heißt, dass das Gefühl, jemandem ausgeliefert zu sein, durchaus Erregung auslöst."

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Durch Pornoseiten scrollen – eigentlich NSFW.

Den Wunsch nach Erniedrigung kann man aber auch tiefenpsychologisch erklären, und zwar mit dem Ödipuskomplex. Sigmund Freud erklärte darin den Wunsch eines Sohnes, mit seiner Mutter zu schlafen. "Unbewusste, verschobene, verdrängte Wünsche, bestraft zu werden oder zu bestrafen, kommen in Pornos oft zum Tragen." All das liege in der Kindheit und in den Beziehungen zu den Eltern begründet. Hier kommen auch MILF-Pornos ins Spiel. "Das sind verdrängte Liebes- und Hassimpulse, die man dadurch sublimiert und auslebt." Gleiches gilt für Daddy-Filme.

Im Beispiel von Zilv und Rourke spielen Erniedrigung und Sperma eine große Rolle. Rourke wird gewürgt, hat hier und da Zilvs Fuß im Gesicht und bekommt eine Spermaladung nach der anderen ab. Natürlich findet Rourke das alles supergeil und schreibt auf Twitter an ihre 250.000 Abonnenten: "Ich liebe es, wenn Daddy meinen Rachen mit seinem dicken, saftigen Schwanz fickt, während ich hübsch und süß dort liege für meinen Mann. Daddys süßes, kleines Boytoy sein, das er benutzen und missbrauchen kann. Ich liebe meine Belohnung, den Geschmack seines leckeren, warmen Spermas." Ein Tweet, der viele Spektren des Pornos vereint.

4. Wir sind Tiere, wollen fruchtbar sein und befruchtet werden

Wir klicken weiter, suchen uns durch die Filme, um Auffälligkeiten zu finden. Dabei fällt unser Blick auf die Frauen: Sie sehen sich alle sehr ähnlich. Große Brüste, schmale Taille, breite Hüften. Was bedeutet das?

Zuerst einmal sagt das mehr über die Macher der Pornos, als über die Frauen selbst: "Frauen haben in den Augen der Männer eine gewisse Weise auszusehen", sagt Schneider-Schmid. Die Gründe dafür findet man allerdings in der Biologie: Der durchschnittliche Körper einer Pornodarstellerin vereint gewisse Aspekte, die auf eine hohe Fertilität der Frau hindeuten: große Brüste, breites Becken, schmale Taille. "Das ist absolut archaisch, aber das ist eben auch Porno." Vielleicht sind all diese Attribute ein Grund dafür, wieso die Kardashians so erfolgreich sind. Sex sells – vor allem unterbewusst und triebgesteuert.

Was die Frauen mit den breiten Becken, den großen Brüsten und den schmalen Taillen abbekommen, ist eine Menge Sperma. Sperma, Sperma, Sperma. Ü B E R A L L. In jedem Film. Und wenn es um Sperma geht, ist es egal, ob der Film hetero- oder homosexuell ausgelegt ist. Cumshots so weit das Auge reicht, ungeschützter Verkehr und Creampies. Warum? Einerseits liege das daran, dass es schwer sei, Gefühle in Pornos zu visualisieren: "Dass Cumshots so beliebt sind, liegt daran, dass die Macher sehr eingeschränkt sind, emotionale Zustände darstellen zu können. Der Cumshot visualisiert den Orgasmus."

Der andere Grund ist aber auch hier die Biologie: "Es geht ganz einfach ums Befruchten." Durch das Sperma wird der tief liegende Trieb des Menschen nach Fortpflanzung getriggert. Darauf weisen Filme wie 'Ich habe mein Tinder-Date beim ersten Mal geschwängert' oder 'Ich soll die Frau meines besten Freundes schwängern' hin. "Das ist wieder ein Tabu, das gebrochen wird", sagt Schneider-Schmid.

Ungeschützten Geschlechtsverkehr in Pornos sieht Schneider-Schmid allerdings nur ungern: Die Zuschauer würden sich damit zwar keiner Gefahr aussetzen und ihr Fantasien befriedigt bekommen, die Darsteller allerdings seien sehr gefährdet. "Die einzigen Male, bei denen ich Kondome gesehen habe, waren auf den Gay-Seiten. Vielleicht herrscht dort ein höheres Bewusstsein für Geschlechtskrankheiten."

5. Pornos schaffen Bilder einer idealen Welt

Pornos werden hauptsächlich von Männern konsumiert. Doch ein Drittel der Pornokonsumenten auf Pornhub sind mittlerweile Frauen. Die Effekte sind allerdings für beide nicht ausschließlich positiv. Ja, sie stimulieren unsere Fantasien und unser Begehren – aber sie machen uns auf Dauer nicht glücklicher.

"Ein hoher Pornokonsum wirkt sich negativ auf die sexuelle Zufriedenheit im realen Leben aus", sagt Schneider-Schmid. Die Videos werden als Skripte verwendet und die eigene Fantasie und das Gefühl gehen verloren. Das eigene Körperbild verschlechtert sich, Gender Attitudes werden implementiert, und die Wahrscheinlichkeit, Casual Sex ohne Kondom zu haben, steigt. Außerdem vermitteln Pornos oft das Bild einer toxischen Maskulinität. "Manche Konsumenten nehmen die Pornos als Vorlage für das reale Leben." Das gelte auch für die Demütigung, die sie darin sehen können.

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<![CDATA[Coronavirus: Ich habe einen Tag lang wie ein Prepper gelebt]]>https://www.vice.com/de_at/article/akwyv4/coronavirus-prepping-prepper-hamsterkaufe-vorbereitenFri, 06 Mar 2020 10:13:28 GMTDass Desinfektionsmittel überall ausverkauft sind, finde ich nicht weiter schlimm. Ich sitze zu Hause mit zwei vollen Handdesinfektionsgels, einmal mit Kamille, einmal mit Aloe Vera, und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben in meiner Zwangsstörung bestätigt. Die ist auch der Grund, warum ich schon Hände waschen kann, ganz ohne Anleitung, schon vor dem Aufruf der Behörden. Wenn Männer jetzt ihre Hand an meine Hand drücken und sagen: "Oh, du hast aber kleine Hände." denke ich: "Ja, danke. Dafür hat's auf deiner mehr Platz für Corona."

Aber irgendwann werden meine zwei Handdesinfektionsgels aufgebraucht sein und ich werde mich auf andere Weise vor Corona und den daraus entstehenden Folgen schützen müssen. Also starte ich ein Experiment: Einen Tag lang leben wie ein Prepper.

Desinfektionsspray kann nicht schaden
Desinfektion, Einwirkzeit: 1 Minute

Ein britischer YouTuber führt mich in seinem Video durch das Pandemic Preparedness Pack, ein PDF-Dokument, das er entworfen hat, damit sich jeder auf die Konsequenzen des Coronavirus vorbereiten kann. Er hat die klassische Ausstrahlung von limitierter Kompetenz des Durchschnitts-IT-Typen. Man würde ihm vertrauen, wenn es darum geht, die Bitcoins, die bei deinem Drogenkauf aus dem Darkweb vor zehn Jahren übriggeblieben sind, auf einem alten Laptop wiederzufinden. Die richtige Größe Hose kaufen kann er aber nicht. Trotzdem denke ich mir, wenn schon Pandemie, dann mit ihm.

Forscher gehen davon aus, dass es bestimmt noch ein Jahr dauern soll, bis ein Impfstoff auf den Markt kommt. Deshalb ist auch nicht klar, für wie viel Zeit in Quarantäne ich mich vorbereiten soll. Gut wäre es natürlich für den Fall, dass die Zeitdauer länger als zwei Wochen ausfallen soll, sich selbst versorgen zu können. Ich lese den Erfahrungsbericht einer Amerikanerin, die sich freiwillig 19 Tage einer Quarantäne unterzogen hat, um herauszufinden, worauf man achten muss. Sie betont, wie nützlich es ist, eigene Hühner auf dem Grundstück zu haben. Einen Hof auf dem Land habe ich nicht, aber einen Innenhof mitten in Neukölln. Aber erstmal gehe ich in den Supermarkt, da muss ich schnell hin, denn auf die Idee sind schon viele gekommen.

So sieht ein perfekter Prepper-Einkauf aus
Der perfekte Prepper-Einkauf

Ich schnappe mir einen Einkaufswagen. Wenn ich alle drei Jahre mal beim Yoga bin, desinfiziere ich meine Matte schon vor der Stunde nicht nur danach. Das ist mir peinlich, denn es ist wie, Matthias Schweighöfer heiß zu finden oder Mark Forster zu hören, etwas, das man nur heimlich machen sollte. Das ist das Gute an Corona. Denn spätestens jetzt ist es gesellschaftlich akzeptiert, den Griff des Einkaufswagens vor der Nutzung mit Flächendesinfektion einzusprühen. Obwohl ich es eine Minute einwirken lasse, fühlt sich der Griff dreckig an. Das muss der.

Ich erinnere mich an Luca aus meiner Kindergartengruppe, der immer Sand gegessen hat. Ich fand das eklig. Die Mutter fand das nicht weiter schlimm: "Das stärkt doch die Abwehrkräfte!" Ich frage mich, ob Luca jetzt Corona hat oder, ob wir mal alle besser Sand gegessen hätten.

Vom Coronavirus merkt man im Supermarkt wenig. Außer Toilettenpapier und Pasta ist alles noch in akzeptablen Mengen vorhanden. In Neukölln hat man wohl weniger Angst.

Wurst im Glas zerbricht leider schnell
Lange haltbar, aber hat sich trotzdem nicht lange gehalten: Wurst im Glas

"Tins of Beans, Tins of Veg, Tins of Fruit Salad, Tins of Meat …" Die Hälfte der Nahrungsmittel auf meiner Liste kommt aus der Dose. Ich fange an, die Dosen, Haferflocken und H-Milch in meinem Einkaufswagen zu stapeln. Frische Früchte und Esswaren aus dem Kühlregal sind verboten, falls die Infrastruktur zusammenbricht und der Strom ausfällt.

Doch als ich mich mit meinem Einkauf ein paar wenige Meter vom Supermarkt entferne, fordert das Coronavirus schon das erste Opfer: Ein Würstchen-Glas rutscht vom übervollen Einkaufswagen und zerbricht auf dem Pflaster.

Als Nächstes kümmere ich mich um die Gesichtsmaske. Nachdem über die letzten Tage in allen Beiträgen zum Coronavirus eine Apothekerin zu Wort gekommen ist, um zu bestätigen, dass die Gesichtsmasken tatsächlich ausverkauft sind, versuche ich es im Baumarkt. Doch auch hier waren vorausschauende Prepper schneller. Das finde ich auch irgendwie OK. Meine Prepping-Experience ist ein bisschen wie Fahrradfahren ohne Helm. Wenigstens sehe ich cool aus, wenn ich sterbe.

Jetzt fehlt nur noch das Huhn.

Feinstaubmasken sind ausverkauft
Schlechte Zeiten für Leute, die wirklich eine Atemschutzmaske brauchen.

Mein Recherche führt mich zum Artikel Self-Sufficiency Superstars – Pickin’ a Chicken auf einer Prepping-Webseite. Weil ich mich über die vergangenen Stunden schon immer mehr zur Doomsday-Prepperin entwickelt habe, stellt selbst die Aufgabe, in einer Großstadt wie Berlin Hühner zu finden, kein Problem mehr für mich dar. Ein Freund mit einer Agentur in Mitte sagt mir, er würde welche in seinem Innenhof halten.

Während der ersten Minuten hätte mir ein Huhn fast ins Auge gepickt. Doch nach diesen Startschwierigkeiten sind Alberta und ich direkt ein Herz und eine Seele. Mit ihr an meiner Seite fühle ich mich direkt etwas vorbereiteter für den Extremfall. Ich entscheide mich dennoch dafür, sie nicht mit nach Hause zu nehmen – auch wenn sie meine Dosen verteidigt hätte, und ich sie zur Not hätte verspeisen können. Ich weiß ja nun, wo ich sie finde. In der Not.

Und doch: Ich will Epidemie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Pandemie-Guide des Vertrauens prophezeit nicht nur Zwangsquarantäne, sondern den kompletten Zusammenbruch der Gesellschaft, was wiederum einen hohen Grad an Gewalt und Kriminalität zur Folge hat. In einem Waffenladen suche ich nach Experten.

Das Huhn greift unsere Autorin an
Alberta brauchte ein bisschen, bis sie sich an unsere Autorin gewöhnt hatte

Das einzige Geschäft dieser Art in Neukölln führt keine scharfen Waffen, sondern nur Airsoft-Gewehre, doch wie es sich herausstellt, sollte das kein Problem sein. Ich frage den Verkäufer, ob er mir sagen kann, wie ich am besten das Frühstücksfleisch und die Bohnen verteidige. Oder wie ich den Kaffee-Jogurt mild von irgendeiner Pilates-Tante mit zu kurzem Pony zurückerobere. Seine Antwort überrascht mich:

"Soweit wird es kommen. Man wird sich verteidigen müssen. In Berlin haben viele Leute Waffen, weißt du? Ich habe keine Waffe. Am Ende lachen aber die, die Waffen haben."

Während er mir Modelle von Waffen, die im Zweiten Weltkrieg benutzt wurden, zeigt, frage ich ihn, wie er sich denn verteidigen will.

"Ich habe ja wie gesagt keine Waffe. Ich werde mir wohl im Baumarkt eine Sense holen müssen."

Eine Zwille hilft
Eine Steinschleuder sei "unentbehrlich", sagt der Mann aus dem Waffenladen

Bevor ich den Laden verlasse, zeige ich seinem Kollegen und ihm die Liste an nötigen Waffen und Schutzgegenständen aus dem Pandemie-Ratgeber. Beide lachen. "Mehrere Waffen auf dieser Liste fressen sich gegenseitig auf. Klar, das sind schon viele nützliche Dinge dabei. Aber das kann man ja auch nicht alles tragen." Eine Empfehlung geben sie mir:

"Eine Katschi, also eine Steinschleuder, ist schon unentbehrlich. Die kannst du auch mitnehmen, falls du im Notfall das Haus verlassen musst."

Sense und Steinschleuder, alles klar. Mit diesem Ratschlag fühle ich mich in der Lage, meine Hühner und die 9 Liter haltbare Milch zu verteidigen.

Ein perfektes Preppermenü
Das McPrepper-Menü

Nun ist es Zeit für mein erstes Essen als Prepperin. Ich staple den Einkauf auf meinem Küchentisch und öffne ein paar Dosen. Wie sieht eine ausgewogene Prepper-Mahlzeit aus? Die Gerüche, die aus den verschiedenen Dosen strömen, vermischen sich zu einer Kombination aus Katzenfutter und Essig. Die merkwürdige Auswahl an sorgfältig drapierten Häufchen auf meinem Teller sagt mir, dass Tapas während der Apokalypse ein großes Ding sein werden. Wenn Jamie Oliver sagt "Eat the rainbow", dann meint er genau das. Ich frage mich, ob Pfirsiche aus der Dose Skorbut wohl aufhalten können.

Ob das alles was bringt, wird sich noch zeigen. Ich bin vorbereitet. Mit einem Prepping-Ratgeber kann sich jeder vorbereiten. Vielleicht wäscht man sich aber einfach öfter die Hände und macht im besten Fall eine Gewohnheit daraus. Die kann man nämlich nach dem Coronavirus immer noch brauchen.

Nicht happy aber satt: Unsere Autorin Anna Dreussi
Preppen macht auf Dauer einfach nicht glücklich

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