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Der Fußballer, der ins Gefängnis musste, weil er talentiert war

Im Westen bekommen Fußballer für gewöhnlich Schwierigkeiten mit der Polizei, wenn sie ihr Auto schrotten oder Sex mit minderjährigen Prostituierten haben. Mahmoud Sarsak hingegen wurde verhaftet, weil er ein guter Fußballer war—ein palästinensischer...
Simon Childs
London, GB

Im Westen bekommen Fußballer für gewöhnlich Schwierigkeiten mit der Polizei, wenn sie ihr Auto schrotten, Sex mit minderjährigen Prostituierten oder Schlägereien in teuren Nachtclubs haben. Mahmoud Sarsak hingegen wurde nur verhaftet, weil er ein recht talentierter Fußballer war—ein palästinensischer Fußballer. Er wurde im Juli 2009 von den israelischen Sicherheitsbehörden bei der Überfahrt vom Gazastreifen ins Westjordanland festgenommen und erst nach einem 96-tägigen Hungerstreik im Juli 2012 wieder freigelassen. Die Israelis beschuldigten ihn, ein Mitglied der militanten Gruppe „Islamischer Dschihad“ zu sein, und sagten, dass er einst eine Bombe gezündet habe, die einen israelischen Soldaten verletzt haben soll. Aber sie hatten keine Beweise dafür und konnten trotz drei Jahren Folter und Inhaftierung kein Geständnis erzwingen. Die Palästinenser vermuten, dass er nur verhaftet wurde, weil die Israelis Angst hatten, dass Mahmoud bald das Interesse bekannter Vereine wecken werden würde und beim Jubeln sein Trikot ausziehen könnte, um seine Pro-Palästina-Nachrichten zu propagieren. Denn Mahmoud spielte bereits mit 14 Jahren in der palästinensischen Liga und war dort somit der jüngste Spieler aller Zeiten.

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Der Streit fachte diesen Juni erneut auf, als Israel die U21-Fußball-Europameisterschaft austrug und damit für Bestürzung im pro-palästinensischen Lager sorgte. Das Turnier wurde auch im Stadion von Beitar Jerusalem ausgetragen, einem Verein mit einer unverblümten, rassistischen Fangemeinde, die muslimische Spieler ablehnt.

Bei seinem Besuch in Großbritannien traf ich Mahmoud und seinen Übersetzer, Ayman Abuawwad, um Minztee zu trinken und über Fußball und seine schrecklichen Foltererfahrungen in einem israelischen Gefängnis zu reden.

VICE: Hallo Mahmoud. Kannst du mir was über deine Fußballkarriere erzählen—bevor du eingesperrt wurdest?

Mahmoud Sarsak: Ich wuchs in einem Flüchtlingslager im Gaza-Streifen auf. Dort gab es einen Fußballklub, beim dem ich oft trainierte. Alles begann dort. Dann wurde ich in die palästinensische Jugendnationalmannschaft, in die A-Nationalmannschaft und ins Olympia-Team berufen. Ich war Mittelstürmer und Rechtsaußen.

Wer waren deine Vorbilder?

Del Piero, Zidane und Mohamed Aboutrika, einer der populärsten ägyptischen Fußballspieler.

Um ehrlich zu sein, alles, was wir jemals über den Gazastreifen gehört haben, ist, dass es eine riesige offene Vollzugsanstalt ist, die gelegentlich bombardiert wird. Was für eine Rolle spielt Fußball im dortigen Leben?

Fußball ist ein entscheidender Teil der palästinensischen Kultur im Allgemeinen, vor allem aber für Flüchtlinge. Das Leben in einem Flüchtlingslager bedeutet nicht, dass du keinen Sport ausüben kannst.

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Gibt es eine Liga-Struktur? Wie funktioniert das alles?

Mir fällt kein Land ein, das zwei separate Liga-Strukturen hat. Wir haben, auf Grund der geographischen Trennung, eine im Westjordanland und eine im Gazastreifen. Die im Westjordanland ist ein bisschen besser organisiert und geregelter, weil es mehr Stabilität gibt. In Gaza sind wir schon froh, wenn wir alle vier Jahre eine Meisterschaft ausspielen können. Wir werden von Angriffen, Überfällen, Luftangriffen und dem ganzen Rest unterbrochen.

Mahmoud mit dem London Gaza FC

Gab es Situationen, in denen ihr nicht spielen konntet, weil das Spielfeld zerstört wurde?

Im Jahr 2009 und 2012 hat Israel Fußballstadien zerstört. Ich glaube, sie wollen verhindern, dass Palästina ein positives Gesicht zeigt und sich in die internationale Gemeinschaft integriert.

Ist Fußball ein großer Zuschauersport in Palästina?

Die Mittel sind knapp und es ist gefährlich für die Leute, sich in Gruppen zusammenzufinden, insbesondere in Gaza. Trotzdem sind die Palästinenser treu ergebene Fußballfans—sie gehen einfach hin, komme, was wolle. In Gaza gibt es einen großen Klub im Rafah-al-Shati-Flüchtingslager und einen in Shejaia. Auch sind die Palästinenser verrückt nach der spanischen Primera División. Sie verteilen sich gleichmäßig auf Barcelona und Real Madrid.

Denkst du, dass Israel es gezielt auf dich abgesehen hat, weil du Fußballer warst?

Weißt du, die ganze Sache war ziemlich bizarr. Ich habe einen Vertrag erhalten und durfte in der Nationalmannschaft des Westjordanlands professionell spielen. Ich fragte in Israel wegen einer Durchreisegenehmigung an, und sie wurde gewährt. Ich war am letzten Checkpoint in Erez, im Norden des Gazastreifens, und wurde für ein Treffen mit dem Geheimdienst aus der Warteschlange geholt. Nach dem Treffen beschlossen sie, mich ins Ashkelon-Gefängnis zu bringen, um mich zu untersuchen.

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Was passierte dort?

Ich wurde 45 Tage ohne Anklage festgehalten, gedemütigt und gefoltert. Sie konnten nichts aus mir heraus bekommen. Schließlich kamen sie mit dem Vorwurf, dass ich ein „Ungesetzlicher Kombattant“ war.

Was bedeutet das?

Das Merkwürdige am „Ungesetzlicher Kombattant “-Gesetz ist, dass es ein israelisches Gesetz ist, das nur für Nicht-Palästinenser gilt. Zum Beispiel könnten libanesische Bürger in Israel oder an der Grenze gefangen genommen werden und widerrechtliche Kämpfer genannt werden.

Das ist seltsam. Wo kam das her?

Es ist seltsam. Ich glaube, sie konnten sich nichts Besseres einfallen lassen.

Also, warum denkst du, haben sie das getan?

Ich weiß es nicht. Im Gefängnis war ich schockiert, als ich so viele Träger von Doktortiteln und Profi-Fußballer sah—der Ort war voll von talentierten Palästinensern. Ich denke, das ist Teil der israelischen Strategie. Sie wollen verhindern, dass palästinensische Talente der Welt ein glänzendes und zivilisiertes Gesicht zeigen.

Ich denke, ein palästinensischer Pirlo würde der Sache gut tun. Tut mir Leid, dass ich dich daran erinnern muss, aber könntest du mir sagen, wie sie dich gefoltert haben?

Sie verwenden bei jedem Menschen verschiedene Foltermethoden. Mich verhörten sie einige Tage und ließen mich nicht schlafen. Ein Verhör ging 14 Stunden lang. Ohne Unterbrechung. Dann fesselten sich mich für ein paar Stunden an einen Stuhl und ließen mich in einem Raum mit lauter Musik zurück, so dass ich nicht schlafen konnte. Auf diese Weise mussten sie nicht wieder von vorne anfangen.

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Scheiße.

Manchmal, wenn sie mich an einen Stuhl fesselten, verwandelten sie den Raum in eine Tiefkühltruhe. Die Zimmertemperatur lag bei minus 12 oder minus 15 Grad und sie ließen mich eine halbe Stunde da drin. Als ich fast in Ohnmacht gefallen bin, haben sie mich in ein Krankenhaus gebracht, um mich wieder zu beleben, so dass sie die Befragung vorsetzen konnten.

Was für Fragen haben sie dir gestellt?

Sie wollten, dass ich etwas zugebe, das ich nicht getan habe, weil das die ganze Sache national und international rechtfertigen würde.

Ich habe gehört, dass sie die Anschuldigung bis zu deiner Entlassung mehrmals vortrugen und es dich verrückt machte, sie zu widerlegen. 

(Mahmoud sieht sichtlich frustriert aus) Ich saß ohne Anklage im Gefängnis. Als ich entlassen wurde, gab es keine Anklage, keine Anschuldigungen, nichts. Die zionistische Lobby versucht immer, Israel wie ein zivilisiertes Land aussehen zu lassen, das sich an Menschenrechte hält, das den Frieden liebt und so weiter. Israel bat sogar einige europäische Länder danach, mich nicht ins Land zu lassen, weil ich ein „Terrorist“ bin. Sie versuchen, alle Palästinenser zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen, damit sie nicht in die westlichen Medien gelangen.

Wie liefen die drei Jahre deiner Inhaftierung ab?

Die ersten 45 Tage waren die härtesten. Es gab geistige, körperliche und verbale Folter. Dann war ich acht Monate lang mit Anderen in einer Gefängniszelle. Danach riefen sie mich wieder, um mich für 12 weitere Tage zu foltern und zu verhören. Es geschah drei oder viermal während meiner gesamten Gefangenschaft.

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Wann hast du damit angefangen zu versuchen, da rauszukommen?

Da gab es einen, Zacharias Issa. Er war in einer Zelle und er hatte Krebs, und sie halfen ihm nicht. Er starb in seiner Zelle. Das war ein Wendepunkt. Ich begann, darüber nachzudenken, und sagte mir: „Ich muss mir selbst helfen, weil niemand sonst mir helfen wird.“ Die FIFA hat mir an dieser Stelle zum Beispiel nicht geholfen.

Also, was hast du getan?

Ich hab einen 96-tägigen Hungerstreik abgehalten, um der Welt zu zeigen, dass es Menschen in Zellen gibt, die in Vergessenheit geraten sind. Für einen Athleten und seinen Körper ist das nicht das Beste. Ich verlor die Hälfte meines Gewichts und meine Muskeln waren geschädigt.

Nach diesen 96 Tagen wurdest du recht sang- und klanglos freigelassen.

Der Hungerstreik gab national und international den ausschlaggebenden Impuls. Die FIFA und UEFA begannen, Druck auszuüben. Große Fußballer wie Eric Cantona, Abou Diaby, Frédéric Kanouté und Lilian Thuram starteten eine internationale Unterschriftenkampagne und Petition, um meine Freilassung zu erwirken.

Wie fühlte es sich an, wieder frei zu sein?

Während meines Hungerstreiks kam ich dem Tod sehr nahe. Und als ich wieder draußen war, fühlte ich mich wie neugeboren. Ich war so glücklich, meine Freiheit wieder zu haben und meine Familie sehen zu können. Im selben Moment war ich aber auch traurig darüber, meine Brüder leidend im Gefängnis zurückzulassen.

Deine Karriere wurde auf Eis gelegt, aber war sie auch für immer ruiniert?

Mir wurden drei Jahre meines Lebens genommen. Ich war zwischen 21 und 24 im Gefängnis—für einen Fußballer sind das einige der besten Jahre, weil man jung und agil ist. Ich war sowohl in Bezug auf meine Gesundheit als auch psychisch geschädigt. Nach dem Gefängnis brauchte ich acht Monate, um körperlich in der Lage zu sein, wieder trainieren zu können. Ich hab die Hoffnung nie verloren. Ich gehe wieder trainieren und versuche, meine Karriere weiter zu verfolgen, wenn ich kann.

Cool. Viel Glück, Mahmoud. Danke für deine Zeit.