Walliser Kampfkühe sind die letzten Gladiatoren
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Walliser Kampfkühe sind die letzten Gladiatoren

Wo die Römer dem Pöbel früher Brot und Spiele anboten, kämpfen heute Eringer-Kampfkühe um die Ehre ihrer Besitzer – und um den Inhalt ihrer Portemonnaies.

Alle Fotos von Jojo Schulmeister Breitbeinig steht Barone im Ring des antiken Amphitheaters in Martigny, ihre Gegnerin hat sie mit einem starren, stechenden Blick anvisiert. Die Augen unter ihrer Stirnlinie funkeln böse. Den Kopf hält sie gesenkt, ihre Hufe scharren bedrohlich im Sand. Jede Faser ihres 628-Kilo-Körpers ist angespannt. Doch wie die Herbstsonne spärlich durch den Nieselregen drückt, nehmen Barones Drohgebärden ein abruptes Ende, die Kampfkuh geht zum Angriff über. Mit roher Körperkraft stösst Barone ihre Stirn auf den Kopf ihrer Widersacherin, verkeilt die eigenen mit den gegnerischen Hörnern und drängt die unterlegene Kontrahentin langsam aber stetig in Richtung Seitenlinie.

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Wo die Römer einst Gladiatorenkämpfe austragen liessen, ringen heute rund 200 Kampfkühe der Walliser Eringerrasse in einem nach Gewichts- und Altersklassen unterteilten Wettkampfsystem um die Ehre ihrer Besitzer—und um deren Geldbeutel. Die Kuhkämpfe ziehen jedes Jahr Tausende Besucher aus allen Altersklassen und sozialen Schichten an. Man isst Raclette und trinkt Fendant, den lokalen Walliser Weisswein. Die Schaulust des Publikums scheint sich seit der Römerzeit nicht merklich verändert zu haben. Als Barone ihre Kontrahentin nach einem kurzen Kampf in die Flucht schlägt, geht ein breites Raunen durch die Ränge des Amphitheaters. Brot und Spiele bedeutet in der helvetischen Tradition Käse und Kampfkühe.

Alter Hase im Kuhkampf-Business

Unter den kritischen Blicken der Zuschauer kehrt Barone triumphierend zu ihrem stolzen Besitzer, dem rundbäuchigen Bridy Jean-Maurice aus Leytron, zurück. Geduldig hatte Bridy den Kampf vom Ringrand aus beobachtet, doch nun brechen bei ihm die Emotionen durch, ungehalten fängt er an zu jubeln. Mit seinen 62 Jahren ist er einer der erfahrensten Züchter der Region und ein alter Hase im Walliser Kuhkampf-Business.

Beobachtet den Kampf seiner Kuh vom Ringrand aus: Bridy Jean-Maurice, 62

2012 gewann eine Kuh aus Bridys Stall gar das Finale in Martigny und damit den begehrten Titel Königin der Königinnen. Dieses Jahr entschied er sich jedoch dazu, die kampferprobte Barone in den Ring zu führen. Mit ihren elf Jahren gehört die Eringer Kampfkuh bereits zu den älteren Semestern. Dass sie sich trotz ihres Alters für die Endrunde ihrer Gewichtsklasse qualifizieren konnte, macht ihren Besitzer besonders stolz. "Barone hat es noch immer drauf, es gibt nichts Schöneres," schreit Bridy in den Himmel, als ich ihn auf dem Weg durch die alten Katakomben in die Stallungen hinter dem Amphitheater abpasse.

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Es sei ihr letzter Wettkampf, erklärt Bridy dann etwas wehmütig, er habe sie dieses Jahr auch gar nicht mehr zur Alp gebracht. Sie könne nun friedlich in Pension gehen und ihren Lebensabend geniessen. Für ehemalige Königinnen werden in Zuchtkreisen Kaufpreise von mehreren Zehntausend Franken geboten. Für Bridy stand es jedoch ausser Frage, die besten Kühe seines Stalls gegen schnelles Geld zu verkaufen. Man braucht nicht lange, um zu erkennen, dass Züchter und Kuh ein starkes Band verbindet. "Ich bin zusammen mit diesen Kühen aufgewachsen, sie bedeuten mir sehr viel." Bridy spricht über Barone eher wie über eine Tochter, als über ein Nutztier.

Brachiales Brauchtum: Kuhkampf im Amphitheater von Martigny

Die Kuhkämpfe haben im Wallis eine lange Tradition. Obwohl die Eringer Kühe nicht gerade für eine überwältigende Milchproduktion bekannt sind, sind die leichtfüssigen "Schwarzen" den Wallisern Bergbauern nicht zuletzt wegen ihrer Kampflust ans Herz gewachsen.

So eigenwillig und dickköpfig wie die Züchter selbst

Es scheint, als seien die Kühe so eigenwillig und dickköpfig wie die Züchter selbst. Ob sich die Kühe denn beim Kämpfen keine gefährlichen Verletzungen zuziehen würden, möchte ich von Bridy wissen. "Ach was, das Kämpfen macht den Kühen nichts, es liegt ihnen im Blut," versichert mir der Unterwalliser.

"Die Dominanzkämpfe zwischen Eringerkühen treten natürlich auf und dienen dazu, die Rangordnung innerhalb der Herde auszumachen," bestätigt Barbara König, Professorin für Verhaltensbiologie an der Universität Zürich, auf Anfrage gegenüber VICE. Dasselbe Verhalten könne auch bei Mäusen oder bei Elefanten beobachtet werden.

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Brot und Spiele: Ein Verkäufer streicht Raclette

Ich genehmige mir ein Raclette inklusive Fendant und setze mich in die unteren Ränge des Amphitheaters, um mir das Finale anzuschauen. Bertrand, ein älterer Herr mit einer sich pellenden Schnapsnase lächelt mich gutmütig an und bietet mir einen Apfel an. Seit er ein kleiner Junge sei, komme er schon hierher. Die Kuhkämpfe hätten nicht nur für ihn, sondern für die gesamte Walliser Bergkultur einen sehr hohen Stellenwert. Wie das ganze entstanden sei, möchte ich von ihm wissen. "Früher haben die Bauern ihre Kühe gemeinsam auf eine Alp geführt und kämpfen lassen. So konnten sie herausfinden, welche Kuh über das beste Erbgut verfügt," erklärt Bertrand etwas nostalgisch. Daraus seien dann irgendwann regionale Wettkämpfe wie dieser hier entstanden.

Die Tiere kämpfen freiwillig

In Martigny laufen die Kämpfe so ab, dass alle Kühe einer Gewichts- oder Altersklasse in der Arena in einem Rumble-System (alle gegen alle) gegeneinander antreten. Die Fläche der Arena entspricht einem halben Fussballfeld. Sie ist gross genug, damit sich die kämpfenden Kuhpaare grossräumig verteilen können. Wenn sich eine dritte Kuh in einen Zweikampf einmischt, treiben Rabatteure—kräftige Männer in roten T-Shirts—die Kühe mit Stöcken auseinander. Zudem führen sie auf Anweisung der Jury Kühe zueinander, die noch nicht miteinander gekämpft haben. Ein gefährlicher Job, denn die auf der Weide harmlos wirkenden Kühe mutieren im Kampf zu unberechenbaren Furien.

Gefährlicher Job: Ein Rabatteur treibt mit einem Stock Kühe auseinander

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Die Tierhalter müssen die Kämpfe vom Ringrand aus beobachten, währenddessen die Jury von einem Zelt in den Rängen aus den Überblick über den Punktestand der einzelnen Kühe behält. Das Punktesystem ist simpel: Ein gewonnener Zweikampf gibt einen Pluspunkt, ein verlorener einen Minuspunkt. Hat eine Kuh drei Minuspunkte gesammelt, scheidet sie aus dem Turnier aus.

Die Tiere kämpfen freiwillig. Ängstliche Kühe, die einer Konfrontation ausweichen, erhalten direkt einen Minuspunkt und werden nicht zum Kampf angestachelt. Dementsprechend schnell scheiden sie aus dem Turnier aus. Übrig bleiben in jeder Kategorie die sieben stärksten Kühe, die in einer Endrunde die finale Rangordnung untereinander ausmachen. Die Krönung der Veranstaltung ist das Finale der Finale. Darin treten die Siegerinnen der unterschiedlichen Kategorien gegeneinander an, um die Königin der Königinnen auszumachen. Dabei kommt es auch schon einmal vor, dass ein Leichtgewicht eine Kuh aus einer höheren Gewichtsklasse besiegt. Nach dem Kampf werden alle Kühe einer Dopingkontrolle unterzogen, die vor 15 Jahren von misstrauischen Züchtern angefordert wurde. Wie die Dienststelle für Veterinärwesen des Kanton Wallis auf Anfrage gegenüber VICE erklärte, sei jedoch noch nie eine Kuh positiv auf die drei geprüften Substanzen (Kortison, Annabolika und nicht steroidale Entzündungshemmer) getestet worden.

Kritik am Unterhaltungscharakter

Auf Aussenstehende mag dieses brachiale Brauchtum befremdend wirken. So treffe ich auf ein Pärchen—er aus Martigny, sie aus Indien. Obwohl Kühe in ihrem Heimatland als heilig gelten, wollte er seiner Freundin die Tradition seines Heimatorts nicht vorenthalten. Auf meine Frage, was sie von den Kuhkämpfen halte, konnte sie allerdings nur mit einem Kopfschütteln reagieren. Die Kämpfe seien ihr zu brutal. Sie fände es jedoch "erfreulich" zu sehen, dass auch vermeintlich entwickelte Länder wie die Schweiz, die in Indien als fast schon unerreichbarer Hort der Zivilisation hochgehalten würden, in ihrer Kultur gewisse archaische Elemente beibehalten hätten. Lucia Oeschger von der Tierschutzorganisation Vier Pfoten dagegen, kritisiert gegenüber VICE weniger die Brachialität, sondern den Unterhaltungscharakter der Kuhkämpfe: "Generell sehen wir Veranstaltungen, bei denen Tiere nur zur Unterhaltung respektive zur Belustigung des Volkes eingesetzt werden, kritisch."

Besucht die Kuhkämpfe seit seiner Kindheit: Bertrand aus Martigny

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Auch ich konnte mich der fesselnden Wirkung, welche die rohe Kraft der Kühe im Kampf der Königinnen auf Beobachter ausübt, nicht entziehen. Die Kuhkämpfe im Wallis sind aber keine Zirkusshows, in denen Tiere in Käfigen durch die Gegend ziehen und jeden Abend dieselben fünf Tricks vorführen müssen. Die Eringerkühe werden vom Publikum sowie von ihren Haltern fast schon ehrfürchtig behandelt. Zudem frönen sie das Jahr durch einem gelassenen Leben auf den entlegenen Weiden in den Walliser Alpen—wo sie auch abseits der schaulustigen Aufmerksamkeit des Fendant trinkenden Publikums ihren Dominanzkämpfen nachgehen.

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