Auszüge aus "Der Reisende"

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DIE LITERATURAUSGABE 2017

Auszüge aus "Der Reisende"

"'Bin ich Schneewittchen oder was?' Das waren meine ersten Worte auf dieser gebrochenen, vereisten, scheißverstrahlten Welt."

Fotocollagen: Maximiliane Leni Armann

Aus der Literaturausgabe 2017.

Einen Wirbel besuche ich regelmäßig. Er führt in ein Hotelzimmer, in dem die Vorhänge immer zugezogen sind. Die Lampen lassen sich nicht einschalten, aber das Bett ist warm, und im Fernsehen läuft immer dasselbe Programm: Zusammenfassungen von Sportereignissen. Der Sport selbst interessiert mich Nüsse, und ich bekomme ohnehin nicht viel davon mit, weil der Ton nicht funktioniert. Ich warte vielmehr immer, bis nach den Zusammenschnitten die Nachrichtensprecherin wieder im Bild erscheint. Es ist Magnolia.

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Sie blickt mir genau in die Augen, zwinkert kaum, ihre Lippen bewegen sich, ihre Zähne blitzen manchmal auf. Kein Lächeln. Ihr Haar ist zu einem strengen Fischgrätenzopf zusammengebunden. Sie legt Papierblätter von einem Stapel auf den anderen, und dann folgt ein Schnitt auf ein Rugbyspiel an Bord eines Schüttgutfrachtschiffs. Rennautos, die an blühenden Bäumen zerschellen. Stabhochspringer, die zu einem Regenschauer aus Lava zerfließen. Seepferdchentrabrennen. Ich gehe zur Minibar und schenke mir etwas Schmerzhaftes ein, lasse mich wieder ins Bett fallen. Kampfhubschrauberpolo. Und dann endlich wieder Magnolia, die ihre Lippen bewegt.

Damals, in den letzten Minuten meines ersten Lebens auf der alten Welt, war ich davon überzeugt, dass Ihr, liebe Theresa und liebe kleine Rosalia, schon vor mir gestorben seid. Ich war mir sicher, dass der Hubschrauber, der Euch in Sicherheit bringen sollte, in einem Atompilz verschwunden ist. Ich bin auf dem Appellplatz des Gefängnisses gestanden. Um mich herum wurde auf die fliehenden Häftlinge geschossen. Ich sah dem Hubschrauber nach.

Der Himmel war verdammt blau, und Ihr zwei wart nur noch ein kleiner Punkt über dem Horizont. Dann war der Punkt so klein, dass ich ihn nur noch ahnen konnte. Er verschwand mit den Punkten der anderen Evakuierungshubschrauber, tauchte hinter den Horizont. Ich blickte weiter in die Ferne, fühlte Euch, hielt in meinem Geist Eure Hände fest. Es sind wieder Bomben gefallen. Lichtblitze, Druckwellen, Donner. Zuerst von der Hauptstadt aus, dann vom Gebirge her. Dort, wo ich Euren Punkt geahnt hatte, erhob sich die pilzförmige Wolke einer Atomexplosion.

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Es wurde ruhig. Die Wachleute ließen es sein, auf die ausgebrochenen Häftlinge zu schießen.
Auf Wiedersehen Welt, dachte ich, ich scheiß auf dich, ich will dich nicht mehr. Welt, verpiss dich.

Und dann war ich weg. Meine Seele zerstreute sich wie Staubzucker, den man bei zu starkem Wind auf einen schwarzen Kuchen streut. Der Kuchen bleibt schwarz wie er ist, und der Zucker ist bei den Vögeln zu Hause oder sonstwo in der ferneren Umgebung. Ich sah und hörte und fühlte auf jeden Fall nichts mehr, außer dass ich nicht dort war, wo ich hingehörte, und dass ich nicht mehr ganz war. Es war wie bei starken Kopfschmerzen oder in einem Fiebertraum, wenn das Gehirn aus dem Schädel wandert und platzt, sich zu winzigen Tröpfchen zerstäubt und die Luftfeuchtigkeit im Wohnzimmer erhöht.

Ich habe keine Ahnung, wie lang ich in diesem Zustand des Nichtsseins die Atmosphäre bewohnt habe, aber irgendwann war so ein Kribbeln und Kratzen da, wie Sand, der am Grund eines Flusses vom Wasser stromabwärts getrieben wird, bis er an einem Damm hängenbleibt, das Flussbett verschlammt und von Baggern herausgeschaufelt werden muss. Die einzelnen Körner wanderten von überall her zusammen, nach und nach wurde ich ganz, wurde ich aus Nichts wieder Etwas. Ich konnte wieder denken, wusste, dass eine höhere Macht mit mir etwas anstellte, und ich hoffte, dass Gott oder sonst irgendetwas Nettes und Liebes mich an einen Ort brachte, wo ich Euch wiedersehen könnte, in den Himmel oder in die Hölle oder in ein Schattenreich, wo es die Seelen nur nach Milch und Schafsblut dürstet, egal wohin, Hauptsache zu Euch.

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Ich hörte eine Stimme sprechen und war mir sicher, dass Gott es war, der mich zu sich rief. Wie ein schnüffelnder Hund dem süßen Geruch von frischen Knochen nachspürt, folgte ich der Stimme, schwebte über die eisige Erde, über Flächen, wo Hitze herrschte, über die Narben der Welt, an den zuckenden Wirbeln vorbei.

»Bist du Herman? Willkommen bei den Toten, Theresa und Rosalia haben auf dich gewartet, sie sind dort drüben bei den Seelen, die jemand einmal wirklich geliebt hat«, meinte ich zu hören.
Je näher ich dem Ursprung der Stimme kam, desto widerwilliger folgte ich ihr. Ich traute ihr nicht mehr. Nur war es inzwischen zu spät. Da hatten sich schon zwei Augen geöffnet, und ich wusste, dass es die meinen waren, und ich wusste, dass ich in keinem Himmel war, sondern an eine verfluchte irdische Bahre gefesselt. Eine grelle Operationslampe blendete mich, ein Mann und eine Frau beugten sich über mich, aber die Frau warst nicht Du und der Mann war sicher nicht Gott. Ich wollte schreien, dass sie mich am Arsch lecken und wieder in die Lüfte entlassen sollen. Ich wollte nicht wieder auf der Erde sein. Ich wollte zu Euch ins Totenreich.

Zerrissene Nacht

»Jetzt mischt das Quecksilber in den Saft aus Schwefel und magnetischem Bernstein, damit die Seele an den Leib gebunden sei«, sagte der Wächter der Zeit.

Ich wandte all meine Kraft auf, um meine Seele zum Verlassen der zwei Augen zu zwingen, aber ich konnte ja nicht einmal zwinkern. Die Lampe ist die Sonne, du bist im Weltraum, Herman, wollte ich mir einreden, aber es half nichts, weil ich allzu gut wusste, wie die Lampen aussehen, mit denen einem der Zahnarzt die löchrigen Zähne beleuchtet.
»Den Eierschneider«, hörte ich den Wächter sagen, und da wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit auch Ohren hatte.

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Ich roch den Schwefel und wusste, dass ich eine Nase und eine Lunge hatte, ein Herz war wahrscheinlich auch schon da. Der Kampf war verloren.

»Die Dessertgabel«, sagte wieder der Wächter der Zeit, und die Frau reichte ihm das so bezeichnete Werkzeug.

Ich erkannte es an der Bewegung ihres Kopfes, ihre Hände sah ich nicht. Da waren Stiche an irgendeinem Teil irgendeines Körpers zu spüren, der der meine sein sollte. Da waren Lippen, die sich meinem Gesicht näherten.

»Magnolia, er gehört jetzt dir«, sagte die Stimme des Wächters.
Die Lippen küssten mich auf die offenen Augen, schlossen die Lider, es war wieder dunkel, es wurde warm.

»Bin ich Schneewittchen oder was?«
Das waren meine ersten Worte auf dieser gebrochenen, vereisten, scheißverstrahlten Welt.
»Wie heißt du?«, fragte Magnolia, die Frau, die mich geküsst hatte, die Frau, die seitdem auf mich aufpasst. »Das geht dich einen Dreck an«, antwortete ich.
»Jauchze und frohlocke, denn ich habe dich wieder ins Leben gerufen!« sagte der Wächter der Zeit. »Du bist der dritte und letzte Reisende.«

***

Ondřej Cikáns neuer Roman „ Der Reisende – Band 1: Du bist die Finsternis "  wird am 3.3. 2017 um 19:00 im Wiener Literaturhaus präsentiert (moderiert von Fritz Ostermayer , mit Musik von Hans Wagner und Pippa Galli ). Maximiliane Leni Armann hat eine Serie von Fotocollagen für den Roman geschaffen.