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Einbürgerung

Der Mythos der sittsamen Schweizerin kann Frauen die Einbürgerung zur Hölle machen

Weil sie unehelichen Sex haben oder sich gegen Kirchenglocken wehren, wird gut integrierten Ausländerinnen auch heute noch die Staatsbürgerschaft verweigert.

Foto von VICE Media Stell dir vor, du wirst bestraft, wenn du dich nicht der Mehrheitsmeinung der Gemeinschaft beugst oder zugibst, nicht nur in deiner Ehe Sex zu haben. Was sich liest wie das Regelwerk einer Klosterschule aus den 50ern, sind geschriebene und ungeschriebene Gesetze, an die sich Ausländerinnen hierzulande besser halten sollten, wenn sie eine Schweizer Staatsbürgerschaft in Betracht ziehen. Der Missstand zeigt sich in seiner hässlichsten Form gegenüber Prostituierten. In der Schweiz arbeiten laut einer aktuellen Studie des Bundesamts für Polizei bis zu 22.000 Frauen als Sexarbeiterinnen, mehr als die Hälfte von ihnen sind Ausländerinnen.

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Diskriminierung vor Gericht

Prostitution ist in der Schweiz zwar seit Mitte des Zweiten Weltkriegs legal, doch vor Gericht wird der Beruf der Sexarbeiterin auch im Jahr 2017 noch immer stigmatisiert. Müttern wird das Sorgerecht entzogen oder verheirateten Prostituierten, von denen es laut der Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration FIZ nicht wenige gibt, werden bei der Einbürgerung Steine in den Weg gelegt. Die Juristin Rahel Beyeler vom Anwaltsbüro Advocomplex beschäftigt sich seit sieben Jahren mit Fällen von Prostituierten, die bei der Einbürgerung oder der Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung benachteiligt werden. Typischerweise wird im Fall einer verheirateten Sexarbeiterin auf das Fehlen einer intakten ehelichen Gemeinschaft gepocht: "Die Behörden vermuten jeweils, dass eine Sexarbeiterin neben ihrer Arbeit kein tatsächliches Eheleben führen kann und an diesem nur festhalte, um rechtliche Vorteile zu erlangen", erklärt sie VICE. "Es liegt klar eine strukturelle Diskriminierung vor."

Das sieht auch Rebecca Angelini, Mediensprecherin der FIZ, so: "Weshalb sollten Sexarbeiterinnen nicht fähig sein, ein gewöhnliches Familienleben zu führen? Die Frauen, die zu uns in die Beratung kommen, sind oft Alleinernährerinnen und fast immer Mütter. Es sind Menschen mit grosser Verantwortung und grossem Verantwortungsgefühl."

Entscheid aus Genf könnte Wandel bringen

Auch wenn wir in einer liberalen Gesellschaft leben, hinken Gesetze veränderten Lebensrealitäten oft nach. Bis 1988 stand im Zivilgesetzbuch, dass die Ehefrau den Haushalt zu führen habe. Und bis vor gut zehn Jahren galt eine Vergewaltigung in der Ehe nicht als Delikt. Dank einem neuen Gerichtsurteil aus der Westschweiz könnte sich zumindest bei der Praxis von Einbürgerungen von Sexarbeiterinnen endlich etwas ändern. Das Bundesgericht hob im November 2016 einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration auf, das festhielt, dass Prostitution nicht mit der Treue- und Beistandspflicht einer Ehe vereinbar sei und einer französischen verheirateten Prostituierten und Geschäftsführerin eines Bordells daher die erleichterte Einbürgerung verweigerte. "Ich erhoffe mir vom Urteil, dass ähnliche Fälle künftig seriöser abgeklärt werden. Auch erhalten künftige Beschwerdeführerinnen unter Umständen Argumente, auf die sie sich berufen können", sagt Juristin Rahel Beyler. Bis sich die Praxis aber nachhaltig ändert, wird es wohl noch Jahre dauern.

Eine Sexarbeiterin | Foto von Tomas Castelazo | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

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Flugblatthetze und sture Dorfbewohner

Die Ungleichheit bei Einbürgerungen betrifft längst nicht nur Sexarbeiterinnen und Gerichtsfälle. Ein Blick in Kantone, in denen Gemeindeversammlungen über Einbürgerungen entscheiden, zeigt die Diskriminierung in einer perfiden Art und Weise auf. Wie die Luzerner Zeitung berichtet, wurde im Dezember 2016 eine Frau im Kanton Luzern dazu gebracht, ihr Einbürgerungsgesuch zurückzuziehen. Die ansässige SVP hatte Flugblätter verteilt, in denen empfohlen wurde, ihre Einbürgerung abzulehnen. Als Begründung wurde unter anderem aufgeführt, dass die Frau "sehr viel Alkohol konsumiert" und  "zu jeder Tages- und Nachtzeit männliche Besucher empfängt". Im Anschluss an die Aktion habe die Frau, die laut dem zuständigen Gemeindepräsident über einen tadellosen Strafregisterauszug verfügt, sich nicht mehr im Stand gefühlt, an der Gemeindeversammlung zu erscheinen.

Wie demütigend diese Abstimmungen sein können, bekam die Holländerin Nancy Holten zu spüren. Zweimal wurde ihr Einbürgerungsgesuch bereits von der Gemeinde Gipf-Oberfrick abgelehnt. Holten spricht perfekt Deutsch, ist nicht vorbestraft und bezieht keine Sozialhilfe. Es gibt also keine sachlichen Gründe, die einer Einbürgerung im Weg stehen würden. In einem Kanton, bei dem nicht das Volk über ihre Einbürgerung entscheiden würde, wäre dies schon längst geschehen. "Scheinbar darf ich als geborene Ausländerin in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin, nur brav ja und Amen sagen und nichts in Frage stellen", sagt Holten zu VICE. Sie vermute, dass die mehrmalige Ablehnung ihrer Einbürgerung auch damit zu tun habe, dass sie eine Frau sei, die offen ihre Meinung sage. Die Holländerin ist dank der ausgiebigen Berichterstattung der Lokalmedien im ganzen Kanton bekannt dafür, dass sie Schweizer Traditionen in Frage stellt. So empfindet die Veganerin Kuhglocken als Tierquälerei und würde Kirchtürme gerne zum Verstummen bringen. Für ihre Nachbarn ist das offenbar Grund genug, ihr den roten Pass zu verweigern.

Foto von der Autorin

Der Mythos der sittsamen Schweizerin ist anscheinend nicht aus den Köpfen mancher Zeitgenossen zu bringen. Wie eine angehende Schweizerin nicht sein darf, scheint viel klarer zu sein, als wie ein Schweizer sein soll. Das zeigt sich auch auf einem aktuellen Plakatsujet zur Initiative zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation. Das Plakat macht mit einer verschleierten Frau Stimmung gegen die Vorlage. Es gibt so nicht nur eine verzerrte Darstellung der gesellschaftlichen Realität wieder, sondern zeigt auch, dass es sich für Parteien zu lohnen scheint, mit einer Vorstellung davon, was eine Schweizerin ist und was nicht, auf Stimmenfang zu gehen.

Nancy Holten hofft, vom Regierungsrat eingebürgert zu werden. So geschah es 2015 im Fall der Pakistanerin Aisha Mohammad in der Aargauer Gemeinde Erlinsbach. Die Gemeindeversammlung stimmte zuvor vier Mal gegen ihre Einbürgerung, obwohl es auch in ihrem Fall an einer sachlichen Grundlage fehlte. Einbürgerungswilligen Ausländerinnen der unbequemen Sorte bleibt scheinbar nur ihre Sturheit, um den Schweizer Pass zu bekommen. Immerhin eine Urschweizer Eigenschaft.

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