Der Traum von Freiheit stirbt gerade in Ruinen an der serbisch-ungarischen Grenze

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Auf der Flucht

Der Traum von Freiheit stirbt gerade in Ruinen an der serbisch-ungarischen Grenze

Hunderte Geflüchtete warten in zerfallenden Fabrikhäusern darauf, den Grenzzaun nach Ungarn zu überqueren – wo Grenzpolizisten Jagd auf sie machen.

Alle Fotos vom Autor; die Namen der Geflüchteten und ihrer Angehörigen wurden auf Wunsch geändert "Früher war mein Kopf voll bunter Geschichten", sagt Jamal, 32, aus Afghanistan. Vorige Woche wollte er durch den Zaun über die Grenze nach Ungarn und dann weiter nach Österreich, Deutschland, Spanien oder nach England, wo ganz bestimmt einer lebt, den er von früher kennt. Aus seiner Heimat, der Provinz Kundus, diesem wundersamen, warmen, grünen Land. Doch nun ist Jamal weit weg von Zuhause, seit eineinhalb Jahren schon, und alles kommt ihm so dunkel und düster vor.

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Das Lachen der Polizisten und das Hecheln ihrer Hunde

Jamal sitzt am Feuer in der Ecke einer alten Ziegelfabrik irgendwo im Norden Serbiens, der Rauch ist schwarz, der Himmel verhangen und die Erde voller Schlamm. Er drückt mit dem Finger auf seine Brust. Zwei Rippen sind gequetscht, das habe ihm der Arzt gesagt, ein guter Arzt. Jeder Atemzug fällt ihm schwer, Jamal verzieht das Gesicht. Er, der niemals klagt, sagt: "Es sticht den ganzen Tag und die ganze Nacht. Husten darf ich nicht." Der Arzt, ein Italiener, heisst Andrea Bona und arbeitet für einige Wochen als Freiwilliger hier oben an der Grenze. Oft fährt er bei der verlassenen Ziegelfabrik vorbei, verarztet Notfälle. Er schreibt sich die Geschichten der jungen Männer aus Afghanistan und Pakistan auf oder spielt auf seiner Ukulele "Don't worry, be happy".

"Mein Herz ist hart." Seit Herbst 2015 ist Jamal, ein Afghane aus dem Kundus, auf der Flucht. Sieben Monate schon steckt er in einer alten Ziegelfabrik in der Nähe von Subotica im Norden Serbiens fest.

Nein, Jamal ist kein Einzelfall, sagt Andrea, darüber berichten jetzt auch Médecins Sans Frontières. Er kramt sein Handy hervor, fährt mit dem Daumen im Sekundentakt über das Display, zwanzig, vielleicht auch dreissig Mal, alles Bilder von aufgeschlagenen Lippen, von Blutergüssen an den Beinen, von geschwollenen Augen und verdrehten Armen. Die ungarische Regierung streitet alles ab, Andrea aber weiss aus erster Hand: "Wer hier illegal über die Grenze geht, wird garantiert von der ungarischen Polizei geschnappt, malträtiert und nach Serbien zurückgebracht. Es wird immer schlimmer mit diesen Grenzjägern."

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Auch Jamal gab nach seinem letzten Versuch, die Grenze zu überqueren, bei einer Hilfsorganisation in Serbien zu Protokoll:

"Wurden am frühen Morgen von Polizisten entdeckt. Mussten uns in den Schlamm legen, mit dem Gesicht nach unten. Weiss nicht, wie lange, aber lange, das Gesicht im Dreck, ich hatte kaum Luft. Dann heftige Fusstritte in meine Lenden, die Polizisten johlten, ich hörte das Hecheln der Hunde. (Habe Panik vor Hunden.) Die Polizisten brüllten 'Welcome to Europe, we will kill you!', dann liessen sie die Hunde auf uns los, ich hatte sofort Schmerzen an beiden Unterschenkeln und grosse Angst. Wieder Gelächter der Polizisten."

Orbáns Rechnung geht auf

Die Grenzjäger passen gut zu der Einwanderungspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Schon im Sommer 2015 liess er im ganzen Land Plakate aufhängen, auf denen Migranten kriminalisiert und zu einer Gefahr für die "christliche Identität Europas" erklärt wurden. Kurz darauf setzte Orbán im Parlament ein neues Einwanderungsgesetz durch und zog an der Grenze zu Serbien einen durchgehenden Zaun hoch, 175 Kilometer lang, drei Meter hoch, darüber ein Nato-Draht.

Seit der Schliessung der Balkanroute im März 2016 wird es selbst für die registrierten Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen Grenze jeden Tag enger. Durchquerten davor Tausende das Land, werden heute noch fünf Migranten pro Werktag nach Ungarn gelassen. Die Übrigen warten in der Transitzone unmittelbar an der Grenze, wo sie Asyl beantragen dürfen. Sie kommen in Serbien in einem der 17 offiziellen Flüchtlingscamps unter oder sind illegal im Land und vertrauen sich für 1.500 bis 2.500 Euro den Schleppern an. Oder sie versuchen es auf eigene Faust, so wie Jamal, wieder und wieder – und geraten an die Grenzjäger. Anfangs wurden diese aus Polizeischülern rekrutiert, jetzt dürfen alle mittun, die von den ungarischen Behörden als unbescholten eingestuft werden, sich fit genug fühlen für eine sechsmonatige Ausbildung und nicht kleiner sind als 1.60 Meter.

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Orbáns Rechnung geht auf. Was grosse Teile der serbischen Bevölkerung bereits nach dem Bau des Grenzzauns vor eineinhalb Jahren befürchteten, ist nun wahr geworden: Ihr Land wird für die Geflüchteten zur Sackgasse und die serbische Regierung ist heillos überfordert. Einige munkeln sogar, sie unterlasse bewusst Hilfe, um die Menschen rasch wieder loszuwerden. Für 6.000 Migranten hat Serbien Unterkünfte bereitgestellt, jetzt spricht die UNHCR schon von insgesamt fast 8.000. Dreissig bis fünfzig Prozent von ihnen sind minderjährig, und das Flüchtlingshilfswerk macht schon lange kein Geheimnis mehr daraus: für Asylsuchende sei Serbien kein sicherer Ort. Stattdessen befürchtet man ein neues Griechenland, ein "Slum der Heimatlosen", und das mitten in Europa.

Jamals Schwur

Früher sei sein Kopf voller bunter Geschichten gewesen, sagt Jamal, jetzt aber vergesse er all seine Erinnerungen. Der Afghane fürchtet, dass ihm die Gesichter verschwimmen – von seinen Freunden, seiner Familie – und die Worte zu dünnen Strichen werden und die Stimmen zu Luft. Den ganzen Tag sitzt er herum, starrt ins Feuer, hört seinen Gedanken zu. Über 200 sind sie allein hier in der Ziegelfabrik, leben im Durchzug und im Dreck, verlieren ihre Würde und wohl auch die letzte Hoffnung. "Mein Herz ist hart", sagt Jamal.

Nicht die Hiebe der Polizisten seien das Schlimmste gewesen, nicht der Pfefferspray und auch nicht die Hundebisse. Todesangst hatte Jamal um sein Handy. "Ich wusste, die ungarischen Polizisten werden es mir wegnehmen und kaputtschlagen." Er lag auf dem Boden, sein Gesicht im Dreck, und er dachte an Nesrin. Er betete: "bismillahir rahmanir rahim, wenn sie mir nur mein Handy lassen, der einzige Kontakt zu Nesrin." Aber vergebens.

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Essensausgabe in einer verlassenen Ziegelfabrik nahe der serbisch-ungarischen Grenze. Mehr als 200 Geflüchtete leben hier, alles allein reisende Männer. Für sie ist die Chance auf eine legale Einreise nach Europa besonders gering. Die meisten versuchen es auf eigene Faust oder vertrauen sich für viel Geld den Schleppern an. In vielen Fällen vergebens.

Nesrin ist Jamals Schwägerin, verwitwet und in Trauer seit jenen Tagen, als die Taliban nach Kundus kamen und auch seinen Bruder Sami töteten ("sein Gesicht haben sie ihm weggeschossen") und Mutter Xezal zu Jamal sagte: "Geh fort." Jamal hatte der Schwägerin Nesrin beim Abschied geschworen, er werde für sie und Samis Söhne sorgen, wenn er dann in Europa sei. Das war im Herbst 2015.

Jetzt sitzt Jamal am Feuer in dieser alten Ziegelfabrik im Norden Serbiens, und er weiss, es geht nicht mehr voran, er kann nicht mehr zurück. Jamal fragt sich, was weiter weg ist: diese zwanzig Kilometer an die ungarische Grenze nach Europa oder die 6.000 Kilometer zurück nach Kundus in den Norden Afghanistans?


Hamza, 22, aus Pakistan, ist seit drei Jahren und vier Monaten auf der Flucht. Seine Familie wurde von den Taliban vertrieben, sagt er. Zukunft sieht er keine mehr, aufgeben kann er trotzdem nicht.

Fayaz, Mitte 20, aus Afghanistan: "Kennst du Krieg? Nur weil du Gewehre hörst oder Panzer, heisst das noch nicht, dass auch weisst, wie das ist: sterben. Ich habe den Krieg erlebt, bin ihm entkommen. In Sicherheit bin ich aber noch lange nicht."

Aus den Augen, aus dem Sinn. Immer mehr Hilfsorganisationen kritisieren auch die serbische Regierung. Sie wolle keine Hilfe leisten, denn sie hoffe, so die Migranten rasch wieder loszuwerden. Bisher ein Trugschluss.