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Die Renaissance der Spießigkeit

Wir zelebrieren Ökogemüse, sitzen in Bars mit Schrankwand und kleiden uns wie unsere Großeltern. Das hat mehr mit Angst als mit Ironie zu tun.
Christopher Michel | Flickr | CC BY 2.0

Die Spießigkeit erlebt gerade eine grandiose Renaissance. Das Flex und die Lokale am Gürtel haben wir längst den Touristen, Teenies und Wienwochen-Urlaubern überlassen. Anstatt uns bis zur Besinnungslosigkeit mit Drogen vollzupumpen und massenweise Alkohol in uns hineinzuschütten, verbringen wir den Abend lieber daheim und lesen einen Karriereberater. Am nächsten Morgen geht es dann in aller Frische auf den Markt, denn am Abend haben wir unsere spießigen Bekannten zum Dinner eingeladen. Selbstverständlich wird die Pasta selbst gemacht und der Wein stammt nicht vom Discounter, sondern aus einem Fachgeschäft oder direkt vom Bio-Winzer aus dem Freundeskreis. Wir kennen uns eben aus mit Wein!

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Einer meiner spießigen Freunde lässt ihn sich sogar direkt vom Winzer schicken, um ihn dann beim Anblick seiner Rehgeweihe zu genießen.

Einer Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young zufolge, sind wir die Generation, die ihren Eltern so nahe steht wie keine zuvor. 29 Prozent aller Befragten gaben ihre Eltern sogar als persönliche Vorbilder an. Der Spiegel berichtet von Studenten, die in ihrer Freizeit den Jagdschein machen und sich mit ihren Eltern zum Golfen verabreden, anstatt sich—wie früher einmal—gegen sie aufzulehnen. Laut Spiegel hat das deutsche Studentenwerk außerdem festgestellt, dass Studenten regelmäßig Veranstaltungen zu Themen wie „Tischmanieren" oder „Weindegustation" überrennen.

Viele meiner Altersgenossen lieben es, in der norwegischen Einöde wandern zu gehen, um zur Ruhe zu kommen oder verbringen entschleunigte Sonntage nach der morgendlichen Yoga-Session beim Spaziergang im Wald, um anschließend mit ihrem Schatz auf der Couch beim Biathlon im Zweiten mitzufiebern.

Wir pflanzen im Schrebergarten Gemüse an, lernen wie man Hühnersuppe nach Omas Rezept zubereitet und kochen Marmelade ein. Selbst unser Erscheinungsbild ist spießig. Ordentlich und adrett kommen wir daher. Glaubst du nicht? Sieh mal in den Kleiderschrank und zähle deine Button-Down Hemden!

Und bei der Gelegenheit schau auch gleich mal in den Spiegel. Was soll denn dieser Schnurrbart? Du siehst aus wie dein Vater vor 30 Jahren! Alles natürlich pure Ironie—oder?

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Medien, Werbung und Pop-Kultur haben diesen Trend natürlich längst erkannt und aufgegriffen. Deshalb kommen längst alle großen Werbe-Kampagnen im Spießer-Look & Feel daher; egal ob Bausparvertrag oder Tic-Tac. So ganz ironisch, mit Gartenzwerg, Haus und Garten. Es ist OK, das alles haben zu wollen, lautet die Message. Und ja, ich verdammter Spießer habe tatsächlich einen Bausparvertrag—und die Kontoauszüge schaue ich mir am liebsten in meinem Lammwoll-Strickpulli an.

Der Künstler Stefan Strumbel hat sich der Thematik ebenso angenommen und als Gegenstand seiner künstlerischen Auseinandersetzung ausgerechnet den Heimat-Begriff gewählt. Er nutzt immer auch das Klischee als zentralen Ausgangspunkt seiner Arbeit. Da wären zum Beispiel die berühmten Kuckucksuhren, der Innbegriff des Spießbürgertums. Strumbel gelingt es, diese vermeintlich angestaubten, CSU-Ideologie versprühenden Objekte, in etwas Cooles, Modernes zu verwandeln. Wer sich für den Prototypen des Neo-Spießers interessiert, sollte nur mal eine seiner Ausstellungseröffnungen besuchen. Die jungen Spießer rennen von Galerie zu Galerie und suchen bei Champagner und Häppchen den vermeintlich intellektuellen Diskurs. Sie erfreuen sich an der Rückbesinnung und Verschiebung des Bezugsrahmens althergebrachter Klischees in der Kunstwelt, was ihnen am Ende die Angst vor der eigenen Spießigkeit nimmt.

Warst du mal rund um den Karmelitermarkt ein Bier trinken? Und hast du dich mal gefragt, warum dort jede Kneipe wie Omas Wohnzimmer aussieht? Frag dich doch auch mal, warum wir uns in diesem Nachkriegs-Ambiente so wohl fühlen. Würden meine Großeltern nicht so weit weg wohnen, wäre ich wahrscheinlich jeden Sonntag zum Kaffee da, um mich beim Anblick der Biedermeier-Einrichtung mit meinem Opa über die Schrankwand zu unterhalten, die damals 70.000 Schilling gekostet hat und immer noch ihren Dienst tut. Ach Opa, gute heimische Wertarbeit. So was Feines aber auch. Das gibt es ja heute gar nicht mehr. Wertarbeit. Alles muss immer schnell, schnell gehen. So will es der Chef. Kein Wunder, dass ich bei dem ganzen Haufen an E-Mails, der mich tagtäglich den Glauben an die Menschheit verlieren lässt, gerne mal zum guten alten Briefpapier greife, um meiner Freundin die Gefühlslage mitzuteilen.

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Die Spießigkeit treibt uns um. Kommunikations-Studenten der Universität der Künste in Berlin haben letztes Jahr auch eine Podiumsdiskussion zum Thema veranstaltet—den „Salon der Spießigkeit". Die Diskutanten waren sich einig: Habt keine Angst vor dem Spießertum.

Man solle die negative Konnotation des Begriffes ablegen und sich offen dazu bekennen, eine gewisse Spießigkeit im Leben zu schätzen, forderte die Mitbegründerin des Single-Blogs „Im Gegenteil", Annelie Kralisch-Pehlke. Sie sei seit fünf Jahren verheiratet und lebe ein Spießerleben par excellence. Vermeintlich coole Medientante und Spießerin zugleich? Kein Widerspruch, wie sie selbst sagt.

Der Forscher und Soziologe Prof. Dr. Klaus Hurrelmann stellte fest, der Begriff „Spießer" habe in der Generation Y an Sprengkraft verloren. Was früher mal eine Beleidigung war, ist heute ein Eingeständnis. Es ist OK, dass du bist, wie du bist!

Hurrelmann, der die Generation Y schon lange beobachtet und erforscht, sieht vor allem einen Grund als Ausschlaggebend für die zunehmende Spießigkeit: Unsicherheit.

Er sagt, unsere Generation sehe sich zunehmender Unsicherheit in der Welt, und damit im eigenen Leben konfrontiert. Hinzu kommt die dramatische Inszenierung durch die Medien: der 11. September, der nur knapp verhinderte Kollaps des Weltfinanzsystems, Fukushima, der Terror der IS-Miliz, Krieg in der Ukraine. All das schürt Angst und suggeriert, dass das totale Chaos erst noch bevor steht. Es ist also kein Wunder, dass wir uns abwenden von diesem ganzen Wahnsinn. Und uns nach Sicherheit sehnen.

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Betrachten wir einmal die Lebensläufe unserer Eltern: Nach der Schule absolvierte man eine Ausbildung oder nahm ein Studium auf. Es folgte der Abschluss, man wurde entweder direkt übernommen oder fand eine gut bezahlte Stelle als Akademiker. Alternativ konnte man mit einer Lehre schon in der Ausbildung mehr Geld verdienen als seine Schulfreunde es sich träumen ließen und später mal als Handwerker richtig abräumen

Ein Studium war früher mal ein Garant für eine gesicherte Existenz. Wie viele Leute tingeln heute nach Bachelor oder Master durch unbezahlte Praktika? Wird einem dann endlich eine feste Stelle angeboten, ist diese in der Regel auf zwei Jahre befristet. Lehrstellen und gut bezahlte Lehrlings-Jobs gibt es ebenfalls nicht mehr wie Sand am Meer, sondern eher wie Sand am Swimmingpool.

Hatte man früher hingegen den Job erst einmal in der Tasche, konnte man in aller Ruhe ein Haus bauen, eine Familie gründen und jeden Sommer in die Toscana reisen. Über eine bevorstehende Kündigung haben sich die wenigsten Sorgen gemacht. Während das Familienglück also quasi zum Selbstläufer wurde, konnte Vati seelenruhig die Karriereleiter raufsteigen und für Sicherheit sorgen.

Denk doch mal darüber nach, wie alt deine Eltern waren, als sie dich bekommen haben. In so jungen Jahren Kinder zu kriegen, ist heute für die meisten undenkbar. Ich bin froh, dass ich mich selbst durchbringen kann. Gerade als freier Journalist weiß ich oft noch nicht einmal, wovon ich in zwei Monaten meine Miete zahlen werde. Wen wundert da noch die niedrige Geburtenrate?

Dennoch, oder gerade deswegen, äußern viele junge Leute den Wunsch, früh Kinder bekommen zu wollen. Vielleicht haben sie auch bloß eine romantische Vorstellung vom Familienglück im Kopf, nach der sie sich so sehr sehen, weil sie in Wahrheit so unerreichbar ist.

Die Welt fühlt sich durch die allumfassende Globalisierung größer an. Durch die zunehmende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche, zieht sich eine uns verunsichernde Transzendenz durch den Alltag. Gleichzeitig entsteht dadurch der Wunsch oder die Suche nach dem Immanenten im Leben. Und hier beginnt das vermeintliche Spießbürgertum. Der neuen Spießigkeit liegt heute ein komplett anderes Fundament zu Grunde, als noch vor 30 Jahren. Ich denke, es ist an der Zeit, den Begriff neu zu definieren.


Header-Foto: Christopher Michel | Flickr | CC BY 2.0