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Eine Nacht im 31er- und 32er-Bus

Die 31er- und der 32er-Linie sind die X- und die Y-Achse der Stadt Zürich. Wir haben unseren Freitagsausgang in den öV verlagert und sind sechs Stunden Bus gefahren.
Alle Fotos von Yves Bachmann

Als Agglo-Kind kenne ich mich mit öffentlichem Verkehr aus. Ich weiss sehr genau, wie es im Nachtbus riecht: nämlich nach Kotze, denn manche Klischees bewahrheiten sich jeden Freitag zwischen 1:45 Uhr und 2:45 Uhr auf der Strecke Aarau-Menziken. Aber auch in Zürich gibt es öV mit Symbolwert: Zwei Buslinien, der 31er und der 32er, kreuzen sich an der Station „Militär-/Langstrasse". Wenn man diese Station als urbanen Brennpunkt annimmt, fasert von hier Zürich in all seine Varianten aus. Der 31er und der 32er bilden die X- und die Y-Achse dieser Stadt (jedenfalls von dem Teil der Stadt, der Bus fährt).

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Wir treffen uns um 22:15 Uhr am Limmatplatz. Der Fotograf umarmt mich mit den Worten „Meine Milz habe ich schon beim Snowboarden verloren, die kann mir heute Nacht niemand rausprügeln". So denken in Zürich Sozialisierte über den 32er-Bus. Wir trinken ein erstes Bier bevor wir um 22:28 Uhr den Bus Richtung „Strassenverkehrsamt" besteigen. Neben den Ausgängern aller Subkulturen und einem quirligen Herrn im Anzug sind auch sehr viele Kinder im Bus. Kinder! Kinder mit Eltern, Buben und Mädchen und teilweise ohne erwachsene Begleitung. Die Frau vor uns liest etwas, das für uns aussieht wie ein katholisches Stundenbuch auf Ungarisch.

Alle Fotos von Yves Bachmann

Allerdings leert sich der Bus an der Haltestelle „Militär-/Langstrasse" ziemlich, die Multikulti-Utopie auf Rädern ist vorbei. Manche—Kinder und Nicht-Kinder—gehen dann in Wiedikon raus und an der Endstation „Strassenverkehrsamt" sind wir dann die einzigen Fahrgäste. Anscheinend muss um diese Zeit niemand mehr in Pfarrer Siebers Pfuusbuus, der gleich neben der Haltestelle steht. Wir warten einen 32er an der Station ab und sehen auf dieses Zürich herab. Hier sind wir am Stadtrand, so nah am Albisgüetli, dass man fast von SVP-Land sprechen kann. Den Fahrer des nächsten Busses fragen wir, wie es ist diese Linie zu fahren: „Schlecht! Bitte weiterlaufen". Der Fahrer ist vielleicht auch wütend, da sein Bus an dem Abend bereits malträtiert wurde. Eine feine Fontäne Undefinierbares prägt den Mittelteil, was Fahrgäste zu Diskussionen veranlasst: „Wahrschindlich gspöizt? Gchotzet? Oder isch da s neue Design?" Das kann man aber umgehen, denn: „32er? Scho no geil. Isch no gross".

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Die ersten paar Stationen kennen wir jetzt schon. Wie vorher gibt es ein paar Hotspots zwischen Helvetia- und Limmatplatz, sonst bleibt es eher ruhig. Wir sind routinierte 32er-Gäste und freuen uns auf die gänzlich unbekannte Welt, die uns in „Holzerhurd" erwartet—obwohl die Station „Neuaffoltern", schon recht viel erahnen lässt. Aber „Neuaffoltern" ist die fünftletzte Station, was soll danach noch kommen? Eine Gruppe Hippies—das sag ich als Hippie, kein Vorwurf, ich könnte sie auch „möglicherweise Goa-affine junge Menschen" nennen—erzählt uns von der „Glaubtenstrasse" und der Magie in Zürich-Affoltern. Ausserdem: „D 32er-Linie isch d Läbeslinie!" Sie mögen uns und unser Projekt, aber nur bis sie erfahren, dass wir das beruflich machen. Berufe mögen sie nicht.

An der Endstation ist es gleich ruhig und unaufgeregt wie beim Pfuusbus am anderen Ende der Linie. Ulkigerweise steigen immer noch Gruppen von Kindern bzw. Frühteenies ein, dabei ist es doch schon 23:30! Sind wir denn auf der Kinder-Linie? Sind wir überhaupt auf dem richtigen Bus? In „ Asoziali Zürcher" von Schoedo heisst es „… Schlofe undr Brugge oder i de VBZ—im 31er du Sauhund!", aber im „Willkomme in Züri"-Song gibt es die Zeile „… Gseh zwei am Deale im 32er …" Welches ist also der richtige Bus, um Freitagnacht zu verbringen? Auf dem Rückweg Richtung Strassenverkehrsamt erklärt uns eine Gruppe die Feinheiten: „De 32er isch de Junkiebus! De 31er isch de Ghettobus, aber de isch nid ganz konsequent: Ab Central ischs en Bonzebus!"

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Am Bucheggplatz kann ich mich nicht auf ihre Worte konzentrieren, das konstante Dosenbier zeigt seine Wirkung und deshalb erwacht mein Zürich-Komplex für kurze Zeit. Aber mit viel Konzentration bekomme ich die Ratschläge für mein zukünftiges Leben hier dann wieder mit: „Eifach immer in 32er, dinn stohblibe, a de Langstrass use und denn zwe, drü Meter laufe. Denn hend ihr alles." Aha. Wir fahren nochmals zum Strassenverkehrsamt, postieren die leeren Bierdosen im 20 Minuten-Ständer, spielen mit Rekrutierungswerbung für die Stadtpolizei und wechseln an der Station „Militär-/Langstrasse" die Linie. Der 32er fährt nur bis knapp ein Uhr früh, aber der 31er fährt als Nachtbus mit leicht angepasster Strecke bis um vier.

Am Automaten merken wir, dass sich der Nachtzuschlag richtig lohnt, wenn man vier Stunden Bus fahren will. Neben uns blafft einer „Jtz isch Nacht verbi! Nacht isch no jung". Das ist die der Situation angepasste Variante vom „Der König ist tot! Es lebe der König"-Pragmatismus. Ist man überdreht und/oder betrunken, nimmt man die Uhrzeit, die man bekommt. Also steigen wir in den 31er Richtung Schlieren, erwarten gespannt die Stadtgrenze, aber können uns auf nichts ausserhalb des Busses konzentrieren, denn der 31er macht seinem Rufnamen „Ghettobus" alle Ehre.

„Alles Sozialfäll. Schwiizer, Usländer alles. Kollegah, das giht's wäge Sex, d Lüt chöne nüt derfür", brabbelt jemand vor sich hin. Dann steigt ein sehr bleicher Tipp mit Kapuzenpulli ein. Beide Hände voll Blut als hätte er die Eingeweide eines alttestamentarischen Opfertiers massiert. Er wirkt ruhig, aber abwesend. Der Herr mit der orangenen „Verkehrsüberwachungs"-Weste geht zu ihm hin und fragt, ob er helfen kann. Der mit den blutigen Händen lehnt die Hilfe freundlich ab und steigt nach ein paar Stationen wieder aus.

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In Schlieren geh ich zur Pinkelpause auf ein Feld—ja, das gibt es an der Station „Schlieren, Zentrum" (!!!) und der Fotograf macht Bilder. Der Herr mit der orangenen Weste fragt: „Das ischs scho gsi, Jungs? Ihr fahred do use, mached paar Bilder und denn wänder widr Nachtbus fahre?" Wir fragen ihn, wie ihm der Job gefällt. Keine grossen Gefühlsregungen von seiner Seite. Er fragt uns, ob man sturzbetrunken sein muss, um über das Busfahren zu berichten. An der Langstrasse steigen jetzt Ausgänger ein, die ihren Nachtzuschlag für die lächerliche Strecke bis „Hauptbahnhof" oder „Central" gekauft haben.

Es werden aber nicht mehr, sondern immer weniger Fahrgäste. Auch auf der Rückfahrt nach Schlieren sitzen wenige Menschen im Bus. Der Fotograf jammert wegen dem Geruckel, dem ständigen Auf und Ab. Ob das jetzt Brücken oder Anhöhen sind, Zürich scheint doch recht steil zu sein. Irgendwann nicke ich ein und höre mit geschlossenen Augen „Muen morn am 7ni go schaffe". Ich reiss mich zusammen, öffne meine Augen und schau auf das Handy: 03.29. Es ist leichter in Aargauer Nachtbussen wachzubleiben, da dort mehr Menschen, mehr Kotze, mehr Unbequeme sind. Sind Zürcher einfach Taxi-Menschen? Kann man Zürich nicht über seine Busse verstehen?

„Chömmed ihne, s isch en Bus und kei Pfadi", bittet unser Lieblings-Verkehrsüberwacher auf einer der letzten Fahrten. Am Ende stehen wir am Bellevue, sprechen mit Irinnen, die in MacDonald's-Cheeseburger beissen und sich über das schlechte Essen hier beschweren. Wir beobachten zwei, die sich von Wind und Wetter in eine Telefonkabine zurückgezogen haben, um dort zu kiffen. Ein Inder torkelt mit offener Hose vorbei, erinnert sich an seine offene Hose und investiert drei bis fünf Minuten, um sie zu schliessen. Eine ruckelnde Nacht in verschiedenen Facetten von Zürich, die wir mit einem Seespaziergang im Nieselregen beenden. Unser Nachtzuschlag bringt uns jetzt nichts mehr, aber der reguläre öV fährt noch nicht.

Eingenickter Benj auf Twitter: @biofrontsau

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