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Erdoğan-Gegner in Deutschland erzählen, wie sich ihr Leben verändert hat

"Ich habe bei Facebook meine Sprache verschärft, was Themen wie die Türkei angeht. Meine Verwandten haben mich darauf blockiert."

Auch wenn die Welle der Solidarität für Deniz Yücel gerade berechtigt ist, ist allen klar: Die Verhaftung des deutsch-türkischen Welt-Korrespondenten ist nur ein kleiner Teil dessen, was in der Türkei gerade schiefläuft. Seit dem Putschversuch im letzten Sommer geht die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan immer rücksichtsloser gegen ihre politischen Gegner vor, Zehntausende haben seitdem ihren Job verloren oder wurden ins Gefängnis gesteckt.

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Aber so sehr wir uns hier Sorgen um das Abrutschen der Türkei in die Autokratie machen: Für die meisten von uns ist das sehr weit weg. Wenn man aber selbst aus der Türkei kommt, wenn man Familie dort hat oder eigentlich vorhatte, irgendwann in diesem Land zu leben, dann sind diese Sorgen plötzlich sehr viel realer. Vor allem, wenn einem Freiheit und demokratische Prinzipien wichtig sind.

Auf der Demonstration für Deniz Yücels Freiheit in Berlin am Dienstagabend waren viele solcher Menschen versammelt. Wir haben mit ihnen und weiteren türkischstämmigen Menschen in Deutschland darüber gesprochen, wie sich die Entwicklung in der Türkei auf ihr Leben auswirkt.

Dilara A., 59, Führungskraft in einem Software-Unternehmen

Foto: privat

"Ich wollte als Rentnerin in Bodrum leben. Inzwischen weiß ich, dass ich in der Türkei nicht mehr leben kann. Religion spielt im Alltag so eine große Rolle, dass es mir Angst macht. Eigentlich wollte ich nie nur einen Deutschen Pass. Aber inzwischen habe ich ihn beantragt. Für mich ist es besser, Deutsche zu sein. Ich habe Angst, weil ich mich als Erdoğan-Gegnerin nicht verstecke. Ich sage meine Meinung. Und ich will nicht, dass man mich mit scheinheiligen Gründen festhalten kann. Ich habe Angst, dass man mich festnimmt, dass ich einreisen, aber nicht mehr ausreisen kann.

Durch Erdoğan wurden viele Generäle, Journalisten und Professoren mit gefälschten Beweisen ins Gefängnis gesteckt. Da war auch ein entfernter Verwandter von mir dabei, ein kemalistischer Rektor. Während er im Gefängnis war, ist sein Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie haben ihm nach der Beerdigung nicht mal erlaubt, abends für das Gebet bei der Familie zu bleiben. Er selbst hat im Gefängnis Krebs bekommen. Er ist dann frei gekommen, weil die Erdoğan-Gülen-Allianz zusammengebrochen ist. Inzwischen sitzen diese korrupten Staatsanwälte und Richter selbst in Gefängnissen. [Beim Korruptionsskandal 2013 wurde ein angebliches Telefongespräch zwischen Erdoğan und seinem Sohn veröffentlicht. Darin wies Erdoğan seinen Sohn an, Gelder so schnell wie möglich aus dem Haus zu schaffen. Dieses Gespräch soll, so die Behauptung Erdoğans, sein früherer Koalitionspartner Fethullah Gülen an die Presse gegeben haben, Anm. d. Red.]

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Heute ist er ein gebrochener Mann. Früher war ich immer ganz stolz, wenn deutsche Freunde mein Land gelobt haben. Nun schimpfe ich mit, weil in der Türkei nichts Gutes mehr passiert. Ich denke, Erdoğan ist das Schlimmste, was der Türkei je passiert ist."

Ibrahim Karcı, 28, Journalist und Student

"Ich lebe erst seit Kurzem in Deutschland. Davor habe ich in der Türkei gelebt. Vielleicht bin ich unterbewusst irgendwie geflüchtet. Ich will eigentlich gar nicht darüber sprechen. Meine eigene Situation ist ungewiss. Deshalb glaube ich nicht mal, dass ich dort Urlaub machen würde. Dort leben unter diesen Umständen schon gar nicht. Ich wurde gezwungen, meine Träume aufzugeben. Erdoğan ist schuld daran. Mein Traum war es, eines Tages in Akdeniz am Meer zu leben, aber das kann ich jetzt vergessen. Das war traumatisch für mich und dieses Gefühl hält auch immer noch an.

In der Türke weiß man nicht, gegen wen Ermittlungen laufen und gegen wen nicht. Man kann als Journalist sogar für Texte, die vor vier Jahren veröffentlicht wurden, als Terrorpropagandist beschuldigt werden. Ich selbst habe als Journalist auch kritische Themen behandelt. Vielleicht krieg ich auch Stress. Aber darüber will ich echt nicht sprechen. Ich versuche, mich jetzt auf mein Leben hier zu konzentrieren."

Duygu H., 23, Studentin

Duygu (rechts) und eine Freundin

"Ich bin wählerischer geworden, was ich für Leute in mein Leben lasse. Es ist leider so, dass ich mir denke, jemand, der pro Erdoğan ist oder versucht, runterzuspielen, was in der Türkei passiert, den möchte ich nicht in meinem Leben haben. Ich habe auch ein Jahr in Istanbul studiert und das alles live mitbekommen. In der Zeit habe ich acht Anschläge miterlebt, an denen Erdoğans Politik nicht ganz unschuldig ist. Seitdem habe ich ein mulmiges Gefühl. Seit damals war ich auch noch nicht wieder dort. Eigentlich wollte ich eines Tages in der Türkei leben. Aber momentan ist mir das Leben dort zu eingeschränkt, als dass ich dahin gehen könnte und sagen: Ich lebe in meiner eigenen Blase und kümmer mich nicht um Politik. Man kann dort nur in Frieden leben, wenn man sich Scheuklappen aufsetzt."

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Anıl Altıntaş, 24, Student

"Familienmitglieder von mir sind verhaftet worden. Darunter mein Onkel und meine Tante, die sind Lehrer. Ich habe aber auch Bekannte, die verhaftet wurden, die Polizisten sind. Die waren für eine kürzere Zeit in Untersuchungshaft, aber das ging auch relativ schnell nach dem 15. Juli. [Der 15. Juli ist der Tag, an dem der Putschversuch in der Türkei begann, Anm. d. Red.]

Es war krass zu sehen, dass innerhalb von drei bis vier Wochen nach dem 15. Juli Familienmitglieder und Bekannte aufgrund ihrer Zeit im Gefängnis Schlafstörungen oder Verfolgungswahn hatten. In den ersten Wochen waren die Gefängnisse stark überfüllt. Sie haben teils eine Woche nicht duschen dürfen und kein Essen bekommen. Seitdem sie aus dem Gefängnis draußen sind, fühlen sie sich beobachtet.

In den letzten Monaten habe ich bei Facebook meine Sprache und Rhetorik ein bisschen verschärft, was Themen wie die Türkei angeht. Meine Verwandten haben mich darauf blockiert. Die trauen sich nicht mal mehr, das zu liken. Ich werde plötzlich auch viel öfter gefragt, ob meine Eltern was mit Erdoğan zu tun haben oder ihn unterstützen. Das beunruhigt mich, regt mich auf und macht mir zu schaffen. Die gesamte Elite flüchtet nun aus der Türkei."

Ebru Yolaçan, 45, selbstständige Kosmetikerin

Foto: Privat

"Erdoğan will die Türkei zu einem Ein-Mann-Staat machen. Ich befürchte, dass die Mehrheit im April mit Ja stimmen wird und das macht mir wirklich große Angst. [Im April stimmen die Bürger der Türkei über Verfassungsänderungen ab, durch die, so der Plan der Regierungspartei AKP, der Präsident noch mehr Macht bekommen soll, Anm. d. Red] Vor ein paar Wochen bin ich deshalb extra mit meinem Mann in die Türkei gereist , um alle Ersparnisse, die wir auf türkischen Konten haben, nach Deutschland zu holen. Wenn die Mehrheit mit Ja stimmt, könnte es passieren, dass Erdoğan hergeht und sagt, dass er Ersparnisse in fremden Währungen wie dem Euro oder dem Dollar auf türkischen Konten in Lira umwandeln lässt. Ich bin nicht die einzige, die diese Angst hat. Viele Türken in meinem Bekanntenkreis, die in Deutschland leben, machen sich Sorgen deshalb. Der Euro und der Dollar sind viel stärker als die Türkische Lira. Der türkische Staat ist hoch verschuldet. Ich möchte nicht einen Großteil meines Geldes, für das ich mein Leben geackert habe, verlieren und an Erdoğan abgeben. Wenn das passieren würde, würde ich psychisch krank werden."

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