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So fühlte sich die Putsch-Nacht in Istanbul an

Unsere Autorin erlebte die Nacht auf den Straßen Istanbuls.

Teile des türkischen Militärs haben versucht, gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu putschen. Am Freitagabend erklärte das Militär, die Macht im Land übernommen zu haben. Inzwischen meldet die Regierung, der Putschversuch sei beendet. Laut der kommissarischen Militärchefs kamen 290 Menschen ums Leben, darunter 104 Putschisten. 1400 Menschen wurden verletzt.Rund 6000 mutmaßliche Putschisten wurden festgenommen und mehr als 2700 Richter entlassen.Unsere Autorin lebt im Künsterviertel Cihangir in Istanbul, fünf Minuten vom zentralen Taksim-Platz entfernt, und hat die Nacht auf der Straße erlebt:

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Der Ruf des Muezzins, der die Muslime zum Gebet aufruft, wird von Jetbrausen übertönt. Ich wundere mich. Mein Vermieter klingelt gegen 22 Uhr an der Tür. Er sagt: "Es ist ein Militärputsch im Gange. Hubschrauber fliegen über Ankara und die Bosporus-Brücken sind gesperrt." Ich solle auf jeden Fall in der Wohnung bleiben.

Ich schaue aus dem Fenster. Auf der Straße, die vor meiner Wohnung entlang führt, fahren alle Autos weg vom Taksim-Platz. Die Menschen laufen hektisch umher, tippen auf ihren Smartphones oder halten das Telefon am Ohr.

Gegen 23 Uhr wage mich raus, auf einen zentralen Platz in Cihangir—quasi das Berlin-Mitte Istanbuls. Die Läden schließen, die Menschen stehen grüppchenweise auf der Straße. Sie schauen die ausgestorbene Einkaufsstraße Siraselviler hoch, die zum zentralen Taksim Platz führt.

Ich stelle mich neben Fatih, 46, Anwalt in Cihangir. Wie alle Menschen, mit denen ich spreche, will er noch nicht mal seinen echten Vornamen nennen, wenn er sich politisch äußert. "Die Armee versucht die Regierung abzusetzen—das gab es das letzte Mal, als ich noch ein Kind", sagt er. "Es ist ein Schock für alle aber ich glaube, alle sind glücklich, dass die Regierung vielleicht abgesetzt wird. Ich hasse die Regierung, sie ist viel zu religiös."

Ein Freund von ihm, ein 42-jähriger Musiker sieht das genauso: "Wenn wir so weiter machen wie bisher, vor allem wie in den letzten fünf Jahren, ist es nicht gut für uns. Das Fernsehen lügt, alles gekauft von der Regierung. Außerdem stagnieren die Landwirtschaft, die Textilindustrie und der Tourismus. Ein Militärputsch ist nie optimal, er ist undemokratisch. Aber vielleicht könnte er auf eine gewisse Weise die Demokratie hier retten."

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Neben einem Restaurant, das gerade zumacht, steht ein Pärchen. Sie, eine 28-jährige Architektin, sagt: „Ich habe keine Ahnung, was genau passiert, außer dass es einen Putsch gibt. Ich habe Angst." Ihr Freund, ein 42-jähriger Schauspieler, fügt hinzu: „Es ist alles chaotisch. Ich habe keinen Plan, was passiert. Ich habe Gänsehaut. Siehst Du?" Sie wollen nach Hause, rufen mir noch zu: „Stay safe".

Die Siraselviler ist komplett leergefegt. Bis auf die Geldautomaten und zwei Bakkals—türkische Mini-Märkte—ist alles dicht und dunkel. Die Menschen stehen grüppchenweise und warten. Die Blicke wandern immer wieder angespannt zum Taksim-Platz. Als ob alle nur auf ein Zeichen warten würden, einen Knall.

"Erdogan sucks, aber das darf man ja nicht mehr laut sagen."

"Ich bin schockiert, aber ironischerweise habe ich mit meinem Freund schon mal darüber geredet, dass so etwas passieren wird—die Regierung ist furchtbar", sagt eine 30-jährige türkische Zypriotin, die seit 3 Jahren hier lebt. "Erdogan sucks, aber das darf man ja nicht mehr laut sagen." Wir sind angespannt, aber wir lachen. Es tut gut.

Vor den Geldautomaten bilden sich lange Schlangen. Alle gehen davon aus, dass morgen früh wohl keines mehr zu bekommen ist. Ich reihe mich ein. Die Frau hinter mir wird von ihrer Freundin vom Warten abgelöst, um Wasser zu kaufen. "Das solltest Du auch machen. Morgen gibt es bestimmt nichts", sagt sie zu mir.

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Im Bakkal herrscht ein unglaubliches Gedränge, alle schubsen und versuchen hektisch, Wasser und ein paar Grundnahrungsmittel zu ergattern. Was soll man kaufen in so einer Situation? Ich schnappe mir die letzten Wasserflaschen, Käse, Milch und Brot.

Als ich zu meinem Platz in der Schlange vor dem Geldautomaten zurückkehren will, hat die sich schon aufgelöst. Geld ist alle, also auf zum nächsten Geldautomaten. Im Bakkal gegenüber wird sich um Brot und Wasser gekloppt. Zwei Frauen mittleren Alters vor mir in der Schlange schauen nervös zum Taksim-Platz. "Gut, dass wir schon gegessen haben", sagen sie. Ein Scherz, der die ganze Anspannung in dieser absurden Situation auflockern soll.

Eine Amerikanerin hinter mir bekommt die News: Erdogan melde sich nun per Skype. Und ich dachte vorhin schon, die Situation sei absurd. „Ich wollte Geld abheben, weil alle das machen", sagt die Amerikanerin. „Keine Ahnung, was hier noch passieren wird." Sie beschließt, nach Hause zu gehen. Geld alle, Wasser alle, und: „Es wurde Kriegsrecht vom Militär verhängt!" Sie wünscht mir ebenfalls: „Stay safe". Dann gehe ich möglichst schnell zurück nach Hause.

Putsch-Versuch in der Türkei. | Fotos: imago | ZUMA press

Halb eins. Es ist so still wie noch nie in meiner Gegend. Kein Auto, kein einziger Scooter und niemand läuft mehr herum, in dem sonst so belebten Viertel. Dann höre ich Schüsse.

Alles über den Putschversuch und die weitere Entwicklung in der Türkei auf VICE News.