Wie sich die SP in ihr eigenes Grab diskutiert
Eindrücke vom SP-Parteitag | Alle Fotos von Manuel Zingg

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Wie sich die SP in ihr eigenes Grab diskutiert

Die SP möchte die Schweizer Wirtschaft umwälzen, um die Arbeiter als Wähler zurückzugewinnen. Aber: Die Arbeiter sehen in der Wirtschaft gar kein Problem.

Jeder, der schon einmal einer verflossenen Liebe nachgerannt ist, weiss: Es gibt leichtere Vorhaben als jenes, die Gefühle von Menschen zu verändern. Und trotzdem hat sich die SP am Samstag genau das in einer trostlos wirkenden Thuner Industriehalle zur Aufgabe gemacht. 26 der gut 500 Anwesenden, die sich gegenseitig als Genossen oder Genossin ansprechen, nutzten ihre drei Minuten hinter dem Rednerpult, um ihren Kollegen weiszumachen, wieso es klüger wäre, das Anliegen der Geschäftsleitung, mit dem "die vielzitierte Überwindung des Kapitalismus" real werden soll, abzuschwächen, ihm noch einen radikaleren Touch zu geben oder es gar ganz abzuschiessen. Von "Verändern wir die Welt!" bis zu "Bitte, schickt das Papier zurück" schallte alles durch die Lautsprecher.

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Parteipräsident Christian Levrat dürfte darüber ganz glücklich sein. Pflichtbewusst absolvierte er in den vergangenen Wochen einen Medienmarathon, um das Anliegen der Parteileitung öffentlich zu inszenieren. Er sprach, wie auch viele am Parteitag, vom blühenden Rechtspopulismus in der Welt, Europa und damit auch der Schweiz und davon, wie diesem zu begegnen ist. "Die Antwort auf die Fremdenfeindlichkeit ist der Klassenkampf", wird er etwa im Tages-Anzeiger zitiert.

Spätestens am Parteitag wird klar, dass das manche in der SP bedeutend anders sehen. "Mit Klassenkampf holen wir keinen zurück, den wir an die Rechtspopulisten verloren haben", sagte etwa Ständerat Claude Janiak, der zusammen mit einigen liberalen Kollegen, die stärkste Stimme gegen die geplante Kapitalismus-Opposition bildete. Nicht nur inhaltlich, sondern auch kommunikativ. "Man muss sich einer Sprache bedienen, die auch für Nicht-Hochschulabgänger verständlich ist", dröhnte es in den Saal, in dem wohl kaum ein Nicht-Hochschulabgänger sass.

Zumindest in einem scheinen sich die SP-Politiker, neben dem Willen, Diskussionen gerne ins Endlose zu ziehen, einig: Sie wollen die Arbeiter zurückgewinnen. Das hat die Partei auch dringend nötig, möchte sie wieder vorne mitmischen. Die SP hat sich gemäss Politologen in den letzten 40 Jahren von einer Partei der Arbeiter zu einer Partei der gehobenen Mittelschicht entwickelt, während die Arbeiter entschieden, sich der SVP zuzuwenden. Diese Leute zurückzugewinnen ist alles andere als einfach. Wie soll das ausgerechnet mit Kapitalismuskritik funktionieren?

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Erst vorige Woche kam das jährlich erhobene Sorgenbarometer der Credit Suisse zum Schluss, dass die stimmberechtigten Schweizer ihre eigene wirtschaftliche Situation noch nie so positiv beurteilt haben wie dieses Jahr. Obwohl 45 Prozent die Frage nach dem grössten Problem der Schweiz spontan mit Arbeitslosigkeit beantworteten, gehen 92 Prozent davon aus, dass es ihnen im nächsten Jahr wirtschaftlich gleich gut oder sogar noch besser gehen wird.

"Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich seit Jahren. Auch in der Schweiz", schreibt die Geschäftsleitung der SP im zur Debatte stehenden Positionspapier. Doch so richtig das auch sein mag, so egal scheint es den Leuten zu sein. Wählen die Befragten beim Sorgenbarometer aus vorgegeben Problemen die wichtigsten aus, ist seit Jahren ein Themenkomplex ganz vorne mit dabei: Ausländer, Flüchtlinge und Asyl—und in der Wahrnehmung der Wähler ist zumindest gemäss einer Studie zu den Wahlen von 2011 die SVP jene Partei, die sich am stärksten um dieses "Problem" kümmert.

Politischer Erfolg kommt eben nicht nur davon, wie man über etwas spricht. Es geht in erster Linie darum, über was man spricht—und das hat sich in den vergangenen Jahren gemäss Politologen ebenso verändert wie die Parteivorliebe der Arbeiter. Waren früher, als die SP noch eine Arbeiterpartei war, ökonomische Konflikte prägend für die Schweizer Politik, sind es heute kulturelle. Es geht nicht mehr um den Kampf reich gegen arm, Kapitalisten gegen Arbeiter, sondern um den Kampf innen gegen aussen, Schweizer gegen Fremde. Inwiefern dieser Wandel faktisch gerechtfertigt ist, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

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Eigentlich müsste das auch die SP wissen. Die letzte grosse Initiative, mit der ihre Jungpartei eine grundsätzliche Debatte über die Wirtschaft lostreten wollte, scheiterte mit 65.3 Prozent Nein-Stimmen. Noch aussagekräftiger als diese reine Zahl zur 1:12 Initiative, ist dabei die Analyse, wieso die Schweizer sich derart heftig gegen diese stemmten: "Eine Mehrheit der Stimmenden war überzeugt davon, dass das Begehren der Juso negative ökonomische Konsequenzen haben werde", schrieb das Forschungsinstitut gfs.bern zum Hauptgrund. Was als negativ für die Wirtschaft wahrgenommen wird, hat demnach an der Urne kaum eine Chance. Und auch hier gilt: Es geht nicht um Fakten, sondern um Wahrnehmung.

Um mit ihrer wieder neu forcierten Stossrichtung Erfolg zu haben, muss die SP also nichts weniger als die komplette Gefühlswelt der Wähler umkrempeln.

Wie es einfacher gehen könnte, zeigt ansatzweise die Operation Libero. Sie arbeitet mit starken, schweizerischen Symbolen wie etwa Helvetia, um für eine offene und gesellschaftsliberale Schweiz einzustehen. Die Politologinnen Carolin Rapp und Anita Manatschal schreiben im Buch Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz deshalb auch, die Operation Libero besetze explizit den Gegenpol zur SVP. Dadurch, dass sie wie die SVP in erster Linie keine ökonomischen, sondern kulturelle Fragen behandelt, möchte sie im Gegensatz zur SP nicht die Gefühlswelt der Wähler umkrempeln, sondern mit vorhandenen Gefühlen arbeiten. Oder in wissenschaftlicheren Worten: Sie positioniert sich auf derselben Konfliktlinie wie die SVP und versucht nicht, eine kaum mehr relevante Konfliktlinie wieder aufleben zu lassen.

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Die Strategie der Operation Libero kommt selbst bei jungen Intellektuellen an, die sich als links verstehen. In einem Interview mit ZEIT Campus betont etwa der deutsche Parteiforscher Wolfgang Merkel: "Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten." Stattdessen definierten sich junge Linke heute über kulturelle und identitätspolitische Themen. Könnte Patriotismus die Antwort auf die Frage sein, wie der Spagat zwischen den jetzigen SP-Wählern in der gehobenen Mittelschicht und den gewünschten Wählern in der Arbeiterschicht zu schaffen ist?

Der Kern dieser Idee ist alles andere als neu. Der inzwischen verstorbene Soziologe und Publizistikwissenschaftler Kurt Imhof etwa betonte immer wieder, der Schweizer Linken fehle es an Patriotismus. "Die linke und fortschrittliche Schweiz darf zu Recht stolz sein auf die Revolution von 1848, auf unsere Verfassung und die demokratische Praxis der Konkordanz, die ihren Ursprung in der Aufklärung haben", wird er in einem Bericht der WOZ zitiert. Wenn die Linke alles Schweizerische verteufle, überlasse sie dieses Feld der SVP. Diese würde darauf ihren "Stuss" vom Tell-Mythos und der von allen Seiten bedrohten Schweiz aufbauen.

"Wer einen realistischen Blick auf die Welt im Jahr 2016 wirft, muss zum Schluss kommen, dass der Kapitalismus mehr Probleme schafft, als er zu lösen in der Lage ist", sprach die SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi am Parteitag ins Mikrofon. Und so stimmten fast 90 Prozent der SPler nicht nur dafür, die Überwindung des Kapitalismus in Angriff zu nehmen, sondern auch dafür, sich weiterhin in "Genossen und Genossinnen"-Rhetorik zu suhlen.

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