FYI.

This story is over 5 years old.

Sex

Was Sex-Arbeiterinnen von den neuen Markierungen im Basler Rotlichtmilieu halten

In Basel werden Prostituierte im wortwörtlichen Sinn auf den "Strich" gestellt: Wir haben Sex-Arbeiterinnen, Puff-Rumhänger und Anwohner zu den neuen Grenzlinien befragt.
Markierung mit vier Prostituierten | Foto von Michel Schultheiss

Markierung mit vier Prostituierten | Foto vom Autor

Alejandra ist sauer: "Wir haben viel weniger Kunden." Auch ihre Kollegin Jenny beklagt sich: "Wir werden hier wie die Hunde verscheucht—dabei dachte ich, die Schweiz sei ein zivilisiertes Land. Der Stein des Anstosses für die beiden Ecuadorianerinnen: Ein Piktogramm einer grünen Frau, die sich an eine Laterne lehnt. Das Symbol, welches aus einem Scherzartikel-Shop stammen könnte, markiert zusammen mit einer gestrichelten Linie die Grenze des Rotlichtmilieus.

Anzeige

Innerhalb von wenigen Tagen ist der Strassenstrich im wahrsten Sinne des Wortes zum beliebten Hingucker geworden—und wird sicher auch reichlich Stoff für die nächste Fasnacht bieten. Spassvögel haben sogar kürzlich das Piktogramm mit dem Kopf des Basler Sicherheitsdirektors Baschi Dürr überklebt.

Doch der Reihe nach: Das Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) hat Ende Juni die Trottoirs mit diesen Linien "verziert." Damit wird eigentlich nur etwas sichtbar gemacht, was es schon lange gibt: Die Toleranzzone fürs Anwerben von Freiern. Laut JSD sollen die Linien den "ortsunkundigen Frauen" dienen. Die Polizei habe nämlich im letzten Jahr immer wieder Prostituierte erwischt, die ausserhalb der dafür vorgesehenen Zonen auf Kundenfang gingen.

In Basel von einem Rotlichtviertel zu sprechen, ist eigentlich völlig überrissen: Der Kleinbasler "Strich" beschränkt sich vor allem auf zwei kleinere Strassen, die Ochsen- und Webergasse. Von den rund 800 Prostituierten, die täglich in Basel unterwegs sind, schaffen nur wenige auf dem Trottoir an. Viele von denen, die es tun, stehen sich auf diesen wenigen Quadratmeter gegenseitig auf den Füssen: Junge Ungarinnen in knappen Shorts und rosaroten T-Shirts stehen dicht gedrängt an der Webergasse, vor Lokalen mit Namen wie "Muusfalle." Alles, was nach Kundschaft aussieht, wird mit "Kommst du mit mir rauf?" oder einfach mit "Ficken?" angesprochen.

Von ihnen will sich kaum jemand zu den grünen Strichen äussern, was auch verständlich ist—alles, was nach Medien oder Behörden riecht, ist hier nicht gerne gesehen. Eine von ihnen kommentiert aber: "Diese Markierungen sind mir scheissegal", sagt sie resolut vor dem "White Horse"—ein "Hotel", in das sich übrigens immer wieder ahnungslose Touristen verirren, weil es auch bei Booking.com zu finden ist. Auch Ivona aus Bulgarien meldet sich zu Wort, doch nicht sehr begeistert—sie könne nun nicht mehr nach Belieben "spazieren gehen."

Anzeige

Baschi Dürr auf dem Strich | Foto von Jannik Schultheiss

Gesprächiger sind hingegen die bereits erwähnten Ecuadorianerinnen Jenny und Alejandra sowie Annie aus Polen, die gelangweilt auf Kundschaft warten. Alle drei gehören eher zur älteren Generation in der Branche und stehen an der Ochsengasse. Dort geht es etwas ruhiger zu und her als gleich um die Ecke im Haifischbecken Webergasse. Wie die drei erzählen, gibt's nämlich für fast jeden Quadratmeter so etwas wie eine unsichtbare Grenze: Weicht eine wartende Sexarbeiterin von ihrem ab, droht Ärger mit den Konkurrentinnen.

In der Branche geht's ohnehin hart zu: Jenny bezahlt in der Woche 560 Euro für ihr Zimmer. Die Arbeitstage dauern jeweils elf Stunden, beginnen um 07:00 Uhr, und werden von einer Siesta strukturiert, bevor die Abendschicht losgeht. Für schnellen Sex nehmen sie 50 Franken. Der Konkurrenzdruck ist gross, manche Kunden versuchen die Zeche zu prellen oder Spottpreise zu bezahlen. Seit acht Jahren arbeitet die Mutter eines 16-jährigen Jugendlichen im ältesten Gewerbe. Vorher arbeitete die Ecuadorianerin in Spanien, doch die schlechte wirtschaftliche Situation dort führte sie in die Schweiz. Geld braucht sie dringend—sie ist hoch verschuldet.

Ecke Webergasse mit Markierung und einer ungarischen Prostituierten | Foto von Michel Schultheiss

Die Markierungen kommen bei Jenny und ihren Kolleginnen nicht gut an. Grund dafür ist, dass die nächste "grüne Grenze" ausgerechnet beim Eingang des brandneuen "Roten Bären" verläuft. Diese Beiz—keine Kontaktbar, sondern ein normales Restaurant—ist seit Juni in Betrieb. Die drei Sexarbeiterinnen fühlen sich nun verdrängt: "Wir haben das Recht, bis zur Grenze zu gehen, doch sie lassen uns nicht", sagt Jenny.

Anzeige

Der Barkeeper des Roten Bären klärt auf: "Manche Prostituierte denken nun irrtümlicherweise, das mit den Markierungen sei auf unserem Mist gewachsen". Dabei ist auch er kein Fan davon: Es habe bis jetzt nur Ärger gebracht. Er nimmt es aber mit Humor: "Die Leute kommen für ein Sightseeing hierher—sie wollen sich überzeugen, ob das auch wirklich kein Scherz ist". Auch der stadtbekannte Kolumnist –minu, der gerade beim Bären zu Gast ist, nimmt's wie immer mit Humor: "Das ist doch Humbug", sagt er lachend—und posiert zum Scherz gleich selbst auf dem Piktogramm.

Auch wenn viel darüber gelächelt und gewettert wird: Nicht alle Sexarbeiterinnen sind unglücklich über die grünen Striche—so etwa die Dominikanerin Ana. Sie steht nicht auf der Strasse, sondern in einer der Kontaktbars. Dass die billigere

Konkurrenz

vom Trottoir nun in Schach gehalten wird, findet sie richtig: "Die sagen, dass sie es für einen Spottpreis ohne Kondom machen würden", sagt sie energisch.

-minu vor dem Roten Bären | Foto vom Autor

An der Webergasse prägen aber nicht nur Sexarbeiterinnen das Strassenbild. Ein junger Mann im Rollstuhl schaut etwa traurig dem Geschehen zu. Ein sturzbetrunkener Typ torkelt durch die Gasse und pöbelt alle Prostituierten mit unverständlichen Wortfetzen an. Nebst den Mädchen und Freiern, die meist schnell wieder verschwinden, gibt's noch eine stattliche Zahl Rumhängender: Männer, bei denen eigentlich nicht so ganz klar ist, was sie hier tun, denen es aber offensichtlich in der Puff-Hochburg gefällt.

Anzeige

Däni kippt vor der Guggenmusik-Beiz "Adler" ein paar Gläser Wein, schaut fasziniert auf die Damen und ruft ihnen hinterher. Die Markierungen findet er eine tolle Sache: "Die müssten auch Neon-Lämpchen für die Nacht haben", witzelt er. Auch Giuseppe, ein bekennender Freier, der vor einem Hauseingang wartet und oft hierher kommt, findet die klare Grenze gut: "Kinder sollen das nicht sehen".

Der Blick in die Webergasse | Foto vom Autor

Bei einem Getränkeladen sind die Scheiben nach einer handfesten Abrechnung zertrümmert, im Tattoo-Studio gleich nebenan ballerte kürzlich einer mit einer Schrotflinte herum. Gleich vor den beiden etwas schmuddeligen Läden treffe ich den IV-Bezüger Markus. Auch er ist ein Befürworter der neuen Markierungen für die wilde Strasse. Ohnehin ist er sauer auf die jungen Sexarbeiterinnen. "Eine von denen hat mich über den Tisch gezogen." Um 10.000 Franken habe ihn eines der ungarischen Mädchen geprellt, behauptet er.

Toni gesellt sich dazu. Er sei oft als Elektroinstallateur und für andere handwerkliche Arbeiten an der Webergasse. Auch er hat eine eigene Räubergeschichte zum Besten zu geben: Hier sei oft der Teufel los—etwa wenn sich ältere afrikanische Sexarbeiterinnen gegen die junge Konkurrenz aus Osteuropa wehren: "Beim Zank um die Freier reissen sie sich sogar an den Haaren." Manche hätten gar K.O.-Tropfen im Arsenal, um naive Kunden auszurauben. Daher findet er die Markierungen gut: Die Frauen hielten sich daran. "Vorher haben sie dich auch ausserhalb angesprungen", sagt Toni.

Anzeige

Sex, Sklaverei und Drogen in Bangladesch:


Viel zu wenig weit gehen die "Rotlicht-Parkplätze" hingegen aus der Sicht von zwei Nachbarn mittleren Alters, die seit vielen Jahren mitten in diesem Rummel wohnen. "Am Wochenende wischen wir die Kotze und die Bierdosen vor unserer Haustür weg", sagt die eine Anwohnerin. Die neuen Prostituierten seien zudem schwieriger geworden, der Konkurrenzdruck stärker: "Die bieten sich doch für einen Apfel und ein Ei an." In ihren Augen sind die neuen Linien und Piktogramme blosse Kosmetik: "Das ist so, wie wenn jemand mit einem verlotterten Hemd eine Krawatte trägt".

Ob Sexarbeiterinnen, Passanten, Wirte oder Anwohner: In den Gesprächen wird klar, dass es eigentlich all den unterschiedlichsten Leuten im Rotlichtmilieu selten um die grünen Markierungen geht: Sie machen vielmehr ihre sonstigen Alltagsprobleme im Viertel daran fest. Mit anderen Worten: Es wird über die Einzäunung des Beckenrands gestritten, doch im Grunde genommen geht's um die Haifische und einige Delfine, die sich darin tummeln.

Michel auf Twitter.

VICE Schweiz auf Facebook und Twitter.