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Wie ich lernte, die tragikomische Seite von Krebs zu schätzen

Als meine Mutter an Lymphdrüsenkrebs erkrankte, vergaß mein Vater, wie man sich vernünftig anzieht—und dann gab es da auch noch Edna.

Foto von Beatrice Murch | Flickr | CC BY-SA 2.0

Bei meiner Mutter wurde vor ein paar Jahren Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Sie ist nun auf dem Weg der Besserung. Die Zeit davor war aber grauenvoll und um nichts in der Welt würde meine Familie das noch einmal durchmachen wollen. Nichtsdestotrotz gab es in dieser Zeit auch einige wenige Momente der Freude—als würde man ein trockenes Stück Hundescheiße essen, in dem sich ein paar Schokonuggets befinden.

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Den ersten größeren Lacher hatten wir, als meine Mutter ins Krankenhaus kam, weil ihr Blutbild unglaublich schlecht war. Ihr Zustand war so schlimm, dass sie erst eine Transfusion brauchte, bevor der Facharzt seine Diagnose stellen konnte. Ein Problem mit einem Flüssigkeitsüberschuss in ihren Ohren hatte sie teilweise taub gemacht, weswegen der Doktor sie bei seinen Visiten regelrecht anschreien musste. „ICH BEFÜRCHTE, SIE HABEN KREBS", brüllte er wie Brian Blessed. „ABER ES IST DIE GUTE ART VON KREBS! DIE BESTE, DIE MAN HABEN KANN!" Es war einfach unglaublich.

Dann kam die Chemo. Nach ein paar Sitzungen begannen Mutters Haare in großen Büscheln auszufallen, bis am Ende nur noch ein einzelner Bereich an ihrem Hinterkopf übrig war. Dort hatten die Haare noch etwa 30 cm Länge und dementsprechend sah sie aus wie Tong-Po in Kickboxer. Meine beiden Schwestern und ich wurden dann auserkoren, ihre übriggebliebenen Haare in einen provisorischen Pony zu verwandeln. Dazu legten wir sie über den Rest ihres (sehr kahlen) Kopfes und arrangierten sie, so gut es irgendwie ging, an ihrer augenbrauenlosen Stirn. Es war ziemlich fransig und wirkte unter ihrem Kopftuch wie eine Tarantel, die sich neugierig mit ihren Fühlern und Beinen nach vorne tastet. Wir brachten es aber alle nicht über das Herz, es ihr zu sagen. Ich werde niemals ihren Gesichtsausdruck vergessen, als sie uns fragte, ob sie halbwegs annehmbar aussehen würde. Wir logen. Und wir lachten. Es war auch egal—sie fühlte sich besser.

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Meine kleine Schwester überredete meine Mutter wenig später, ihr die übriggebliebenen Haarsträhnen mit der Küchenschere abzuschneiden. Es war ein wirklich verstörender Augenblick—einer, der meine Schwester bis heute verfolgt. Die Augen meiner Mutter hatten sich zu denen eines kleinen Kindes verwandelt: vor Erwartung glänzend, nervös und auf der Suche nach Sicherheit und Bestätigung. Sie und meine Schwester tauschten die Rollen. Meine Schwester wurde zur liebevollen Mutter, die ihr gut zuredete und ihr umgehend alles zubereitete, was sie essen wollte. Meine Schwester wusch ihr das Gesicht, während meine Mutter im Bett lag und von Gott redete, dem Sinn des Lebens und der Direktheit, die Krebs seinen unfreiwilligen Wirten aufzwingt. Dann fragte Mutter sie, ob ihre Arme fett aussehen, verlangte gebutterte Kekse und nickte plötzlich mitten im Satz weg. Während sie so vor sich hindöste, entfleuchten ihrem Körper in verlässlicher Regelmäßigkeit faulige Winde.

Mein alter Vater wiederum weigerte sich, in Erwägung zu ziehen, dass meine Mutter vielleicht an Krebs erkrankt sein könnte. Er lebte in einem Zustand konstanter Selbstverleugnung. Er hörte damit auf, Anzughemden zu tragen (das war bis dahin quasi seine Uniform gewesen), und wählte stattdessen bequeme T-Shirts, auf denen irgendwelche Slogans oder Bilder abgebildet waren. Meine Mutter war mittlerweile zu erschöpft, um ihn beim Einkaufen zu begleiten, und so tauchte er eines Tages zum Freitagsgebet in der Moschee in einem T-Shirt auf, auf dem „Una cerveza por favor" geschrieben stand. Er hat absolut keinen blassen Schimmer davon, was das eigentlich hieß—ganz ähnlich wie bei dem anderen Oberteil, von dem er dachte, dass es eine Illustration der holländischen Landschaft und die Wörter „wind factory" darstellen würde. Er verwandelte sich in ein Kleinkind, dem man zum ersten Mal erlaubt hatte, sich eigenhändig die Anziehsachen für den Kindergarten rauszusuchen—und das sich dann für einen Glitzerbikini, froschgrüne Gummistiefel und einen Rastahut entschieden hatte.

Es war lustig—so richtig lustig. Gleichzeitig war es aber auch hoffnungslos traurig. Tief in unserem Inneren wussten wir, dass der Ärmste aufgehört hatte, sich um sein Äußeres zu scheren. Er hatte erkannt, dass die Frau, die er die letzten 40 Jahre lang versucht hatte zu beeindrucken, vielleicht schon bald nicht mehr da sein würde, um beeindruckt zu werden.

Als es langsam auf den ersten Winter zuging, musste Mutter anfangen, eine Wollmütze unter der Kapuze ihres Mantels zu tragen, um ihren kahlen Kopf warmzuhalten. Sie streunte durch die Straßen wie ein ausgelaugter Schlägertyp in einem Salwar Kamiz. Vater brachte sie immer mal wieder mit dem Auto auf krebsfreundliche Dates. Sie fuhren zur asiatischen Bäckerei, wo er ihr ein heißes Naan-Brot kaufte, das gerade frisch aus dem Tandoor-Ofen gekommen war. Es war das Einzige, was sie essen wollte. Sie setzten sich also zusammen hin, aßen heißes Fladenbrot und redeten über so ziemlich alles—bis auf Krebs. Währenddessen trug mein pensionierter Vater eine Schiebermütze, Brille und ein übergroßes T-Shirt, auf dessen Vorderseite Al Pacino mit einer Waffe zu sehen war. Sie hatten keinerlei Vorstellung davon, was für ein unglaublich absurdes Bild sie dabei abgaben—und das war es auch, was es so wunderschön machte.

Dann gab es da noch Edna. Edna war die Frau, mit der sich meine Mutter das Zimmer im Krankenhaus teilte und die sich immer wieder ihren Sauerstoffschlauch in den Hintern steckte. Edna befand sich eindeutig im Delirium und niemand kam, um sie zu besuchen. Alle paar Stunden betrat die Schwester das Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen, und sagte: „Oh, Edna! Wo ist der Schlauch? Ist er schon wieder in deinem Po?" Ich werde Edna immer dafür in Erinnerung behalten, wie sie meine Mutter, wenn auch unabsichtlich, zum Lachen gebracht hat. Ich werde auch nie die Behutsamkeit der Schwestern vergessen, denen es nie an Gutmütigkeit, Sorgfalt und Humor zu mangeln schien.

Krebs ist eine furchtbare Krankheit, die, wenn sie einmal losgelegt hat, nicht so einfach aufgeben will. In der langen Behandlungszeit zeigt sie dir immer wieder den Mittelfinger nach dem Motto, „Fick dich! Mit dir bin ich noch lange nicht fertig, du Arschloch!" Die Art und Weise allerdings, wie die Betroffenen und die Überlenden die Behandlung meistern, ist ein wahres Zeugnis menschlicher Willensstärke. Eines Tages wird der Krebs keinen seiner Kämpfe mehr gewinnen—definitiv. Bis dahin musst du aber seiner Sturheit und seiner Hartnäckigkeit mit Humor und Albernheiten entgegen, wann immer und mit wem immer du kannst. Auch wenn die Hoffnung gering ist und du dich dabei schuldig fühlst. Wenn du nicht lachst, gibst du auf. Vertrau mir, es ist eine der wenigen Möglichkeiten, damit umzugehen.