Ein Besuch im nordirakischen Flüchtlingslager Domiz

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Ein Besuch im nordirakischen Flüchtlingslager Domiz

Über 60.000 Syrer suchen Schutz im Flüchtlingslager Domiz im Nordirak. Vor Ort erzählen uns Familien, welche Torturen sie hinter sich haben und wo sie ihre Zukunft sehen.

10.000 irakische Dinar, weniger als sieben Euro, hat mich die Fahrt von Erbil, der inoffiziellen Hauptstadt des kurdischen Irak, hierhin gekostet. Eine Strecke von etwa 160 Kilometern in einem klimatisierten Taxi, zu dritt auf der Rückbank.

Beim letzten Checkpoint musste ich als Ausländer mit deutschem Pass wieder einmal raus. Warum, weiß keiner. Einer der Peshmerga-Soldaten (kurdische Begriff für die irakisch-kurdischen Kämpfer) konnte kein Englisch, der andere wollte sich offenbar nicht auf Englisch unterhalten. Mit „Gelek spas” (kurdisch für vielen Dank) verabschiedete ich mich und rief den wartenden Mitfahrern im weißen Nissan ein verlegenes „Sorry“ zu.

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Nur etwa 15 Kilometer von Dohuk entfernt bietet sich ein Bild, das mit einer einladenden Idylle nichts gemein hat. Zelte, so weit das Auge reicht, mitten in einer öden Wüstensteppe. Über 60.000 Syrer, hauptsächlich Kurden, haben hier Zuflucht gefunden—im Flüchtlingslager Domiz. Sie sind geflohen vor dem Krieg in ihrem Land, vor Luftangriffen, Vergewaltigungen und anderen Menschenrechtsverletzungen.

Dohuk ist ein malerischer Ort. Berge schlagen ihre Schatten über weite Täler, unweit schlängelt sich der Fluss Tigris durch einsame Felder. Touristen und Einheimische kommen gerne in die Stadt, die in der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak liegt. Laut Angaben des UNHCR (dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) hat der Konflikt in Syrien bislang rund 1,5 Millionen Menschen aus dem Land vertrieben. Die meisten fliehen in den Libanon, die Türkei, nach Jordanien oder eben in den Nordirak.

Am überdachten Eingangstor, in dessen Schatten zwei Polizisten auf Plastikstühlen Schutz vor der sengenden Sonne gefunden haben, werde ich von Mitarbeitern des UNHCR empfangen. Ganz formell geht es zur Leitung des Lagers.

Es folgt ein heißer Tee nach dem anderen. Während ich auf den Dolmetscher warte, zeigen mir Mitarbeiter Schnappschüsse vom Besuch Angelina Jolies im Camp. Sie ist UNHCR-Sondergesandte und verschaffte sich kürzlich einen Überblick über die Lage der Flüchtlinge—aber alle lieben sie außerdem wegen ihrer knappen Shorts als Lara Croft.

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Auch ich bin in Shorts unterwegs, wodurch mir staunende Blicke sicher sind. Vor der Abreise hatte ich mich über die Gepflogenheiten im Irak informiert, was auch das Tragen von kurzen Hosen einschloss. Die Google-Suche unter Berücksichtigung der beiden Schlagwörter „Irak“ und „kurze Hosen“ brachte mich als allererstes zu einer Meldung auf Welt Online mit der Headline „Tennisspieler im Irak erschossen, weil sie Shorts trugen”.

Aber angesichts der mörderischen Hitze im Land schlüpfte ich sogleich nach der Ankunft in kurze Hosen, warf aber—zumindest anfänglich—den einen oder anderen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob jemand nach meinem Leben trachtet. Zumindest was neugierige Blicke angeht, hätte eine lange Hose auch nichts geändert, wurde ich doch schon aus 100 Meter Entfernung als Nicht-Iraker enttarnt, was für die Einheimischen Grund genug war, genauer hinzusehen.

Mahmood Hussein

Der Syrer Mahmood Hussein ist einer der Flüchtlinge. Der 48-Jährige floh vor acht Monaten mit seiner Frau und den drei Kindern aus einem Dorf nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus. Sie bekamen mit, wie Nachbarn gefoltert, Frauen missbraucht und Kinder erschossen wurden. All die Horrormeldungen, die uns im Westen beinahe gar nicht mehr aufschrecken lassen. Eines Abends fassten sie den Entschluss ihre Heimat zu verlassen. Sie nahmen mit, was sie tragen konnten, Kleidung, Familienandenken, Papiere. Der Rest blieb zurück, besser gesagt eine ganze Existenz. Auf der Flucht wurden sie an der südwestlichen Grenze zum Irak abgewiesen: Kein Zugang für Kurden in den arabischen Teil des Landes.

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Es ging weiter in den Norden, Richtung Kurdistan. Mit dem Auto, mit der Pferdekutsche und zu Fuß. Eine Strecke von über 1.000 Kilometern.

„Früher lebten wir in einem Haus, alles hatte seine Ordnung und einen geregelten Ablauf“, erzählt mir Hussein, der ein ziemlich stämmiger Typ ist, einen festen Händedruck hat und mit ebenso fester Stimme spricht. „Hier quält man sich unentwegt mit dem Gedanken, was morgen wird.“

Seit einem halben Jahr lebt die Familie nun in der Zeltstadt—zu fünft auf zwölf Quadratmetern. Am frühen Nachmittag klettert die Temperatur auf knapp 50 Grad. Die Sonne brennt unnachgiebig auf alles, was sich ihr in den Weg stellt. Die Schlangen vor den Läden mit Eis und Kaltgetränken, die findige Geschäftsleute auf dem Lagergelände eröffneten, sind lang.

„Zum Glück haben wir eine Klimaanlage im Zelt“, sagt Hussein, der die Lautstärke des Fernsehers heruntergedreht und damit den Unmut seiner Frau auf sich zieht. „Keine Angst”, sagt er während er mir Wasser in ein Glas einschenkt, „das ist sauberes Trinkwasser.“ (Nichtsdestotrotz verbringe ich die Nacht mit Magenschmerzen auf der Toilette—vielleicht lag es aber auch am Falafel-Döner vom örtlichen Basar.)

Ich sitze mit der gesamte Familie auf dem grauen Teppich um Hussein herum. Er betrieb einst eine Autowerkstatt in Syrien. Heute verdingt er sich als Tagelöhner in Dohuk. „Wir sind für jede Hilfe dankbar“, sagt er, „schließlich ist dieses Lager so etwas wie ein letzter Hoffnungsschimmer für uns.“ Zugleich macht er aber seinem Ärger Luft: „Die Hilfsorganisationen versprechen uns vieles, doch nicht alles kommt bei den Menschen an“, sagt der 48-Jährige, der als eine Art Lagersprecher fungiert und sich somit auch für die Belange anderer Familien einsetzt.

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„Das Hauptproblem, mit dem wir im Camp Domiz zu kämpfen haben“, sagt Jerome Seregni, Sprecher des UNHCR, „ist die Überbelastung.“ In der Folge sei es schwierig, wenigstens die Mindeststandards hinsichtlich Wasserversorgung, Hygiene oder der Aufbereitung des Grauwassers zu gewährleisten.

Die Zeltstadt bei Dohuk wurde im April 2012 ursprünglich für etwa 20.000 Menschen errichtet. Stattdessen leben dort mehr als fünfmal soviele. In enger Absprache mit der kurdischen Regierung und anderen Hilfsorganisationen koordiniert das UNHCR die humanitären Hilfsmaßnahmen im Lager. Für die Flüchtlinge werden Notunterkünfte, Decken, Matratzen, Kochutensilien, Lebensmittel und medizinische Versorgung bereitgestellt.

Trinkwasser wird durch ein ausgeklügeltes System in Behälter direkt vor die Zelte gepumpt. Tausende Familien teilen sich ihre Zelte mit Neuankömmlingen, die jeden Tag eintreffen. Die beengten Verhältnisse, begünstigt durch die warmen Temperaturen, fördern die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten. Das Risiko von Seuchenausbrüchen ist hoch. Vor allem Kinder leiden an Durchfall, auch Masern und Atemwegsinfektionen wurden diagnostiziert.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die für die medizinische Versorgung in Domiz zuständig ist, beanstandet in einem kürzlich erschienenen Bericht die „menschenunwürdigen Bedingungen". Weiter heißt es, dass viele Flüchtlinge „weder Zugang zu Wasser noch zu sanitären Anlagen haben."

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Salem Saeid, Pressesprecher der kurdischen Regierung im Camp erzählt mir dass viele Flüchtlinge sich auch eigenständig um eine Bleibe in Kurdistan bemüht haben oder bei Verwandten untergekommen sind. Denn anders als in den Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien oder Libanon können sich die Menschen hier frei bewegen und erhalten nach der Registrierung sowohl eine Arbeits- als auch eine Aufenthaltserlaubnis im Land.

An der Hauptdurchgangsstraße der Zeltstadt tobt sich der sechsjährige Yousef mit seinen Spielkameraden, die allesamt ein Trikot des Fußballklubs FC Barcelona tragen, in einer gewaltigen Staubwolke aus. Sie wird angereichert durch die schier endlos vorbeisausenden Motorradfahrer, die Lagerbewohner Tag ein Tag aus zum Einkaufen in die Stadt kutschieren.

Yousef und ein Freund.  

Yousef mustert mich zunächst skeptisch. Dann, als ich meine Fotokamera hervorhole, spielen sich tumultartige Szenen ab. Jeder der kleinen Messis möchte als erster auf’s Bild. Die Kinder formen ihre Finger zu einem Victory-Zeichen. Ich drücke ab.

Die kurdische Regierung, die trotz ihrer beschränkten finanziellen Mittel allein im vergangenen Jahr 15 Millionen Dollar (11,35 Millionen Euro) für das Camp bewilligte, ließ inzwischen auch drei Schulen für rund 10.000 Kinder auf dem Gelände bauen. “Wir haben einen straffen Stundenplan und arbeiten hart mit den Kindern”, sagt Mathematiklehrer Juwan Qasim. Der 35-Jährige kam ebenfalls als Flüchtling in den Irak. Heute unterrichtet er die Viertklässler, die uns lauthals mit einem obligatorischen „Good morning” begründen.

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„Viele der Kinder sind traumatisiert und haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren”, erzählt mir Qasim. „Wir achten darauf, dass der Spaß im Unterricht nicht zu kurz kommt, um sie von ihrer misslichen Lage abzulenken.”

Nach neun Stunden auf den Beinen muss ich der Hitze Tribut zollen. Inzwischen dürfte ich den letzten Tropfen Flüssigkeit ausgeschwitzt haben. Gut, dass ich mich noch auf mein Schamgefühl verlassen kann, das mich von meiner Dehydration im Endstadium ablenkt. Denn unterwegs zwischen den unzähligen Zelten verspüre ich ein unangenehmes Gefühl. Es macht mir doch ein wenig zu schaffen, das Leid der Menschen abzulichten.

Um mein Gewissen zu beruhigen, kaufe ich Getränke und Süßigkeiten für die Kinder. Ich zahle bewusst mehr, als verlangt wird. Für einige Stunden kann ich annährend nachempfinden, was es heißt, in einem Flüchtlingslager zu leben. Doch später geht es zurück in mein klimatisiertes Hotelzimmer mit dem geräumigen Bett und Kabelanschluss, bevor ich dann wieder in mein vergleichsweise sorgloses Leben in Deutschland eintauche.

Den Menschen hier bleibt nichts anderes übrig, als auf bessere Zeiten zu hoffen. Mahmood Hussein hat die Hoffnung längst nicht verloren, irgendwann wieder nach Hause zurückkehren zu können. Hoffnung ist vermutlich auch der letzte Strohhalm, an den er sich klammert.

Was muss in Syrien passieren, damit eine Rückkehr ins Auge gefasst werden kann, möchte ich von ihm wissen. „Die Baath-Partei um Präsident al-Assad muss entmachtet werden, wer dann regiert ist zweitrangig“, antwortet er. „Wichtig ist vor allem, dass es eine demokratische Partei gibt, die allen Minderheiten im Land die gleichen Rechte einräumt.“ Und sollte die Heimkehr glücken, verrät er abschließend, dann könne er sich durchaus vorstellen eines Tages erneut in den Nordirak zu kommen. Eine Urlaubsreise in das malerische Dohuk zwischen Bergen und Tigris.

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