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Ein Ausflug in die Untergrundszene des britischen Bare-Knuckle-Boxens

Auch wenn das Kämpfen mit den bloßen Fäusten zu den ältesten Kampftechniken überhaupt gehört, bekommen diese Boxer nicht halb so viel Screentime wie Klitschko und Co. Wir haben uns im britischen Untergrund auf die Suche nach roher Männlichkeit gemacht.

Der Autor mit James "Gypsy Boy" McCrory

„Bare-Knuckle“ ist ein Ausdruck, der tief ins kollektive Unterbewusstsein der britischen Inseln führt. Die zwei Wörter schaffen es, eine durchweg präsente, aber schwer fassbare Unterwelt aus Unterhemden, Wohnwagen, Lurchern, Glatzköpfen, gebrochenen Nasen, goldenen Ketten, Heuballen und zwielichtigen Pubs zu evozieren. Dies ist die Welt von Lenny McLean, Roy Shaw, Bartley Gorman, „Big“ Joe Joyce, Cliff Fields und Charles Bronson, bevor er anfing, seinen nackten Körper mit Butter einzuschmieren und Gefängniswärter zu attackieren. Es ist eine Welt, in der man Schwäche nicht ausstehen kann. Eine Welt, in der man der Meinung ist, dass es mit Boxhandschuhen einfach nicht so viel Spaß bringt wie ohne.

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Bare-Knuckle-Boxen ist eines jener Phänomene, die uns zugleich anwidern und faszinieren. Du musst dir nur die Regalwände mit wahren Kriminalfällen in Buchhandlungen ansehen, Snatch – Schweine und DiamantenBronson oder die Kommentare zu entsprechenden Kampfvideos, um zu verstehen, dass die Welt des BKB mit einer fundamentalen Anziehungskraft verbunden ist. Lennox Lewis, Joe Calzaghe, Amir Khan und andere mögen auf Titelgurte, Auszeichnungen als „Sportler des Jahres“ oder Berichte über Koks-Partys in Klatschblättern stolz sein, doch die mythenumwobene, halb-legale Welt des Bare-Knuckle scheint mehr bereitzuhalten. Und haben wir einen Film darüber gedreht.

In Bare Knuckle, der bald auf VICE.com zu sehen ist, geht es nicht nur ums Boxen. Bare Knuckle ist ein Film über eine Hunderte Jahre alte Subkultur, die noch immer nicht in den Mainstream vorgedrungen ist.

Es ist erstaunlich, dass die älteste aller Kampfsportarten ausschließlich mit Guy-Ritchie-Filmen in Verbindung gebracht wird. Bare-Knuckle gilt noch immer als inakzeptabel—selbst in einer Post-MMA-Ära, in der die Mano-a-Mano-Gewalt als milliardenschwerer Mix von NASCAR, Wrestling und zeremoniellen Gang-Kämpfen verkauft wird.

Bei genauerem Hinsehen findet man in Großbritannien jedoch eine florierende, schnell wachsende Szene, von der viele Leute hoffen, dass sie in den kommenden Jahren so populär wird wie die UFC.

Andy Topliffe (links) und Sean Rowlands

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Für Andy Topliffe, einen ehemaliger Kämpfer, bekam das BKB-Milieu einen bitteren Nachgeschmack, als er sah, wie ein junger polnischer Kämpfer tot im Feld zurückgelassen wurde. Jetzt ist er der vielleicht größte Akteur der Branche.

Seit einer Weile sorgt er mit seiner Firma „B-Bad“ für Aufmerksamkeit. Seine Videos sind erfolgreich, die Zeitungen fangen an, Notiz von ihm zu nehmen. Außerdem verfügt er über eine Schar besessener Fans und Kämpfer aus dem ganzen Land, die bereit sind, sich in der Tradition der gefürchtetsten britischen Freizeitbeschäftigung die Scheiße aus dem Leib zu prügeln.

Doch Andys Devise lautet: Rechtmäßigkeit. Die Kämpfe finden noch immer zwischen Heuballen statt und nach wie vor schlagen sich die Leute gegenseitig die Schädel ein, doch darüber hinaus gibt es Ärzte, Cornermen, Sicherheitsleute und manchmal sogar neugierige Polizeibeamte, die den Vorgang beaufsichtigen. Der Großteil des Publikums sieht aus, als wäre es bereit, selbst in den Ring zu steigen (oder als würde es zumindest jemandem was dafür bieten, in der vierten Runde ein Knockout vorzutäuschen). Doch Andy betont, alles zu tun, um bei seinen Veranstaltungen Zockereien, Diving, Gangstertum oder jeglichen Betrug zu vermeiden. Gleichwohl räumt er ein, dass der Ausdruck Bare-Knuckle nie ganz frei von diesen Dingen sein wird.

Ein B-Bad-Tattoo

Eine solche Ambiguität ist typisch für diese nicht wirklich zugelassene Sportart, die im Hinterland von Schlupflöchern, Ausweichmanövern und Ehrenworten zu existieren scheint. Es gibt kein richtiges Regelwerk, an dem man sich orientieren könnte, doch so lange niemand Anzeige erstattet und auf dem Platz keine Gesetzwidrigkeiten geschehen, ist alles OK.

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BKB scheint jedoch nicht nur gesetzlich legitim zu sein, sondern auch ungefährlicher als der Boxsport, der den Queensberry-Regeln folgt (und als MMA). Leute sind k.o. geschlagen, wenn ihre Schädelflüssigkeiten durch einen Schlag durcheinandergebracht  worden sind und ein Blackout folgt. Bei einem Kinnhaken kommt es nicht auf die Kraft an, sondern darauf, beim Gegner Hirnsausen zu erzeugen.

Leute werden beim Bare-Knuckle zwar k.o. geschlagen (und dies häufig), doch wegen der fehlenden Boxhandschuhe ist dies weniger gefährlich. Ironischerweise kritisieren Leute, die den Sport nicht wirklich verstehen, gerade die Tatsache, dass mit bloßen Fäusten gekämpft wird. Boxhandschuhe, die viel schwerer sind und eine größere Oberfläche haben, können dem Gegner jedoch schwere innere Verletzungen zufügen. Wenn man mit bloßen Fäusten kämpft, ist die Oberfläche kleiner und man bricht sich leichter die Hände. Dadurch müssen die Kämpfer entweder früher aufgeben oder sich mit harten Schlägen zurückhalten.

Für Gewaltfetischisten besteht der Vorteil des Ganzen darin, dass es mit bloßen Fäusten leichter ist, oberflächliche Verletzungen hervorzurufen, wodurch mehr Blut fließt. Im Wesentlichen sieht es grausamer aus, in Wirklichkeit ist es aber unwahrscheinlicher, dass es wie beim Boxen zu tödlich endenden inneren Verletzungen kommt.

Ein paar Kämpfer im Pub

Obwohl die Sportart also ungefährlicher und unterhaltsamer ist als sein legitimerer Cousin, schmachten die entsprechenden Superstars noch immer in dunklen Nischen, die normalerweise für vergessene Popstars aus den Achtzigern reserviert sind. Sie haben anrüchige Spitznamen, reisen in Bussen und gehen nach den Kämpfen im Pub trinken.

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Während Boxer zu den bestbezahlten Sportlern der Welt zählen, bringen Bare-Knuckle-Kämpfer 315 Euro für einen Sieg und 100 Euro für eine Niederlage nach Hause. In der Szene gibt es keine Berufssportler, die meisten Kämpfer verdienen ihren Lebensunterhalt mit Fabrik- oder Bürojobs. Viele sind in der Vergangenheit verurteilt worden und die meisten haben eine raue Vorgeschichte. Viele Kämpfer sind über 40.

James „Gypsy Boy" McCrory

James „Gypsy Boy“ McCrory ist zweifellos der Star der britischen BKB-Szene. Er ist ein charismatischer junger Kämpfer aus dem Nordosten Englands, der was von Sébastien Chabal hat. Er hat an mehr als 200 Kämpfen teilgenommen und einige der Besten geschlagen, zum Beispiel Dave Radford, einem Putzer und BKB-Altmeister, der einmal den panamaischen Berufsboxer Roberto Durán besiegt hat.

Wenige Tage vor seinem historischen Kampf gegen Jason „The Machine Gun“ Young (es war der erste Wettstreit zwischen Großbritannien und USA seit mehr als 150 Jahren) haben wir James in seinem Haus in Newscastle besucht. Er musste einige Kilos zulegen, um gegen Jason antreten zu können. Das tat er, indem er Guinness in rauen Mengen konsumierte.

Seth Jones nach einem Kampf

Mit 32—einem Alter, in dem viele Boxer in den Ruhestand gehen—ist James in der Szene einer der jüngsten. Vielleicht ist es eine Frage der Willensstärke, vielleicht liegt es daran, dass man eher zufällig in die Bare-Knuckle-Szene hineingerät, oder vielleicht ist meine Generation einfach zu schwächlich.

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„The Leicester Bulldog"

„The Leicester Bulldog“ (AKA Tony) ist ein weiterer altgedienter Kämpfer, den wir auf unserer Reise kennengelernt haben. Im ölbeschmierten Unterhemd, das die größte Brust verdeckte, die ich jemals bei einem Mann gesehen habe, präsentierte er uns seinen ungewöhnlichen Nebenerwerb: Er stellt aus Gaskanistern Grills her und verkauft sie auf eBay.

Decca „The Machine“ Hedgie wirkt so bedrohlich, dass einer seiner Gegner sich bei seinem bloßen Anblick übergeben musste und das Handtuch warf. Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit ist er ein Familienvater aus Cumbria, der Probetraining bei Newcastle United hatte.

Das heißt jedoch nicht, dass es gar keine Jugendlichen in der Szene gibt. Ross Chittock AKA Youngblood AKA MC Andrenalin AKA ein Arbeiter und Rapper aus Abingdon in Oxfordshire ist einer von ihnen. Der Gangster mit dem Diamantenlächeln hat den ungezwungenen Charme eines Mannes, der dir erst die Freundin wegschnappt und dir dann ein Bier ausgibt.

James Lambert, a.k.a. „Mr Happy"

James Lambert war Bare-Knuckle-Kämpfer und arbeitete jahrelang als Türsteher—bis er nicht nur den Kämpfen, sondern jeglicher Form von Aggression den Rücken zukehrte und sich als Lifestyle- und Fitnesstrainer „Mr. Happy“ neu erfand. In seiner Garage hängt zwar ein Boxsack, doch James weigerte sich, auch nur eine Faust zu ballen, geschweige denn, uns zu zeigen, was er mit seiner Faust machen kann. Er predigte zwar Frieden, doch in seinem Verhalten sah man seine Vergangenheit aufblitzen. Er bewegt sich ruckartig, starrt mit weit geöffneten Augen umher und verwendet gelegentlich Formulierungen, die wahrscheinlich aus seinem früheren Leben stammen.

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Er erinnert mich an trockene Alkoholiker, die am besten nicht einmal in die Nähe einer Bar kommen. Ein ernüchternder Gegensatz zu den prahlerischen Draufgängern, die wir vorher kennengelernt haben.

Aaron Gaughan (links) bereit zum Kampf gegen Seth Jones

Während des Drehs härtete ich mich immer mehr gegen die Gewalt ab. Zuerst waren die Kämpfe faszinierend und drehten mir den Magen um. Als Boxfan bist du daran gewöhnt, dass die Kämpfe stoppen, wenn Blut zu fließen beginnt. Beim Bare-Knuckle dagegen hast du ständig das Gefühl: „Ich fasse nicht, dass der Kampf immer noch weitergeht.“ Du kannst nicht anders, als zu anzunehmen, dass jemand ernsthaft verletzt wird. Doch schon wenige Minuten nach dem Ende des Kampfes sind die Typen wieder am trinken und kühlen ihre Prellungen mit kalten Bierkrügen.

Ich habe viel gelernt bei meiner Reise durch die Welt des Bare-Knuckle. Irgendwann habe ich angefangen, mich zu fragen, ob nicht jeder das Recht hat, sein wahres Talent zu zeigen—auch Typen wie diese, denen ein Talent mitgegeben wurde, das vielen Menschen zuwider ist. Die Männer, die ich kennengelernt habe, hatten aussichtslose Jobs, mit denen sie nicht mehr als ihre Rechnungen bezahlen konnten. Weil ihre wahre Begabung zu underground ist, ist Bare-knuckle nicht mehr als ein Hobby, ein Nebenverdienst in einem Leben, das wahrscheinlich nicht so ist, wie sie es sich erträumt haben.

Deshalb habe ich angefangen, mich auf die menschlichere Seite des Bare-Knuckle zu konzentrieren. Wenn man einmal davon absieht, was in dem Sport eigentlich passiert, erkennt man, dass diese Männer einfach Hobbyisten und Faustkämpfer sind. Die fanatischen Fans, der Ruhm des Durchschnittsbürgers—all das erinnerte mich an Fußball der unteren Ligen oder an Heavy Metal. Bare-Knuckle ist eine Freizeitbeschäftigung für Machos einer fast vergangenen Welt.

Decca „The Machine" Hedgie (links) kämpft gegen „The Leicester Bulldog"

Was auch immer du über die Gewalt in unserer Gesellschaft und die Auswirkungen organisierter Kämpfe denken magst, die Romantik und der herzerwärmende Kameradschaftsgeist der Bare-Knuckle-Szene lässt sich nicht leugnen. Leute, die durch ihr Schicksal an die Ränder der Gesellschaft verbannt wurden, scheinen einen Sinn gefunden zu haben, sie halten zusammen und kultivieren eine eigene Subkultur. Außerdem ist Bare-Knuckle—als Spektakel—verdammt aufregend.

Bare Knuckle ist nicht nur ein Film übers Kämpfen, es ist ein Film über eine Spezies des britischen Mannes. Ein Film über Männer, die ihren Job hassen und denen es schwer fällt, sich anzupassen. Durch diesen blutigen Sport haben sie eine Art Frieden gefunden. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag.