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Ich schliesse mein Studium mit 52.368 Franken Schulden ab

Fast jeder dritte Jugendliche in der Schweiz ist verschuldet. Ich gehöre dazu—weil ich studiert habe.
Titelbild von Sane

Bildung ist wichtig. In der Primarschule lernen wir neben lesen und schreiben auch, dass man Menschen nicht die Nase blutig schlagen darf, nur weil sie anderer Meinung sind. Im Gymi lernen wir, dass die Welt noch mehr zu bieten hat als Häkeln, Minusrechnen und Völkerball. Und an der Uni bekommen wir einen Einblick in die Regeln, nach denen unsere Welt funktioniert. Um das alles zu lernen, opfern wir nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Manche das Geld ihrer Eltern, manche das Geld aus Studi-Jobs, manche das Geld aus Stipendien und Darlehen. Ich hielt mich nicht nur mit schlecht bezahlten Studi-Jobs und der kleinen Unterstützung meiner Eltern über Wasser, sondern lieh mir auch Geld vom Staat—und zwar genau 52.368 Franken.

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Vor acht Jahren habe ich mich als Maturand wenige Stunden vor Anmeldeschluss an der Uni eingeschrieben. Ich wollte Soziologie studieren—besser gesagt: Ich wusste nicht, ob ich das wollte, wusste aber auch nicht, was ich sonst mit meiner Zeit anstellen will. Der leicht zu durchschauende Fragebogen der Berufsberatung bot mir alternativ eine Zukunft als Gärtner an. Ich knie aber nur ungern im Dreck und mein nicht allzu grüner Daumen hatte schon etliche Zimmerpflanzen auf dem Gewissen. Daher war klar: Ich verbringe die nächsten Jahre mit Bourdieu, Weber und ihren Kollegen.

Anders als viele Eltern meiner Gymi-Freunde hatten es sich meine Erzeuger noch nicht auf den oberen Sprossen irgendeiner Karriereleiter bequem gemacht. Mein Vater arbeitete Teilzeit als Schulsozialarbeiter und tingelte mit seinem kleinen Upcycling-Geschäft Wochenende für Wochenende von Velobörse zu Velobörse. Meine Mutter stand ein paar Tage die Woche im Eisenwarengeschäft ihres Bruders und unterstützte an den Wochenenden meinen Vater. Schulsozialarbeiten und Velos und Nägel verkaufen füllen aber selbst in einem der reichsten Länder der Welt keinen Goldspeicher. Deshalb bekam ich für mein Studium Unterstützung vom Staat. Einen Teil als Stipendium. Einen Teil als zinsloses Darlehen.

An der Uni erschien ich zwar nur sporadisch, im Studium machte ich mich aber nicht schlecht. Themen, die mir am Herzen liegen, behandelte ich gerne und intensiv. Ich klärte meine Mitstudenten darüber auf, dass deutsche Rapper, die das Wort „schwul" in den Mund nehmen, nicht alle Jugendlichen dieser Welt zu homophoben Arschlöchern heranzüchten. Ich versuchte zu klären, ob Shitstorms steuerbar sind—sind sie anscheinend nur bedingt. Und beim Praktikum an einem Forschungsinstitut bekam ich nicht nur den Wunsch zu hören, dass ich dort mein Doktorat machen soll, sondern auch eine wissenschaftliche Publikation als Co-Autor.

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Trotzdem war die Soziologie für mich mehr Teil einer (durchaus spannenden) Suche als das bequeme Nest, in das ich mich für meine 30, 50 oder 70 Jahre auf dieser Welt, hineinlegen möchte. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass es mir mehr Spass macht, Buchstaben aneinanderzureihen als im akademischen Elfenbeinturm Zahlen durcheinanderzuwirbeln. Seitdem findet mein produktives Leben immer mehr ausserhalb der Uni statt. Ich berichtete bei einer Lokalzeitung darüber, wie grandios das jährliche Amateurtheater der freiwilligen Feuerwehr dieses Jahr wieder war. In einem Kurs für angehende Werbetexter stilisierte ich Pediküren zum orgasmischen Erlebnis hoch. Als Texter einer Jungpartei startete ich eine öffentliche Brieffeindschaft mit meinem liebsten Staatsoberhaupt. Im Sommer ist es trotzdem soweit: Ich schliesse mein Studium ab.

Ab diesem Zeitpunkt bleiben mir maximal neun Jahre, um meinen Schuldenberg abzutragen. In sechs bis acht Raten muss ich der Stipendienstelle Liechtensteins zwischen 6.500 bis 8.700 Franken pro Jahr überweisen. Das macht mir Angst. Ich habe nicht BWL oder JUS studiert. Ich kann und will keinen Job bei der Credit Suisse, UBS oder einem anderen Versprechen für schlechtes Karma annehmen. Das verbliebene Häufchen Ideale sträubt sich dagegen, dass ich hauptberuflich als Teil einer PR- oder Werbeagentur gegen einen stolzen Lohnauszug alles super finde. Und trotzdem drängt mich meine Situation in diesen Bereich, in dem das Geld aus dem Boden zu spriessen scheint.

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Martin Suter war erst erfolgreicher Werbetexter, bevor er zum erfolgreichsten Schweizer Autor überhaupt geworden ist. Foto von Lesekreis; Wikimedia Commons; CC 0

Ob ich diesem Drang nachgebe, weiss ich noch nicht. Siegt mein idealistisches Ich, rette ich die Welt wahlweise als Journalist oder bei irgendeiner NGO. Siegt mein pragmatisches Ich, prostituiere ich mich doch geistig als Werber—und hasse mich ein bisschen dafür. Ringen die beiden in mir weiter, wage ich wohl den inneren Spagat zwischen Gutmensch und Opportunist. Was jetzt schon klar ist: Ich bin nicht alleine in dieser Situation. Im vergangenen Jahr war jeder dritte Jugendliche in der Schweiz verschuldet.

Viele davon wegen hohen Handyrechnungen oder einer ausgeprägten Liebe zum Online-Shopping. Ich bestelle mir zwar ab und zu auch einen Cuba Libre statt einem Bier und schaukle betrunken manchmal lieber im Taxi als im Nachtbus nach Hause. Doch gehöre ich nicht zu den Verschuldeten, weil Zalando mein zweites Daheim, das Smartphone mein bester Freund oder Ralph Lauren die Marke meines Vertrauens ist. Ich gehöre dazu, weil ich an der Uni gelernt habe, wie die Welt funktioniert.

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Titelbild von Sane; Wikimedia Commons; CC BY-SA 3.0