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Wie gefährlich sind Flüchtlinge?

Köln stellt unsere Gastfreundschaft in Frage. Wir versuchen, möglichst nüchtern zu beantworten, ob es das zurecht tut.

Foto: Jakob Kolar, via VICE Media

Genau wie Aylan Kurdi—der kurdische Junge, der tot am türkischen Strand angespült wurde—sind die Ereignisse in Köln gerade dabei, Europa politisch zu ändern. Weil es sich bei den Tätern um eine doch sehr konkrete Gruppe zu handeln scheint, ergibt sich plötzlich die Möglichkeit, nicht nur Männer, sondern ganz besonders ausländische Männer für das Verbrechen verantwortlich zu machen. In Köln führt das jetzt schon zu wahnsinnigen Ergebnissen. Aber trotzdem muss sich Europa und mit uns die ganze Welt die unbequeme Frage stellen, ob die Rechten vielleicht doch ausnahmsweise einmal richtig gelegen haben und Flüchtlinge tatsächlich eine Gefahr darstellen.

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Die Übergriffe von Köln sind deshalb so gewichtig und heiß diskutiert, weil sie grundlegende Überzeugungen und, wenn wir uns ehrlich sind, eigentlich auch das ganze Jahr 2015 in Frage stellen. Haben im August zehntausende Menschen unter anderem auch einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Vergewaltigern dabei geholfen, in unser Land zu kommen, wie jetzt zwischen den Zeilen zu lesen ist? Oder sind das immer noch unzulässige Pauschalisierungen?

Wir müssen diese Fragen beantworten, weil sie wichtig für unsere Zukunft sind, aber auch deshalb so ernst nehmen, weil im Internet gerade ein Kampf um die Deutungshoheit geführt wird.

Gibt es überhaupt „die Flüchtlinge"?

Mit Stereotypen vereinfachen wir uns die Welt. Wir reden von „den Deutschen", die fleißig und genau sein sollen, „den Amerikanern", die alle fett sind und keine Ahnung von Geschichte haben, und natürlich auch von „den Flüchtlingen". Nur: Gibt es „die Flüchtlinge" überhaupt oder handelt es sich dabei um eine so heterogene Gruppe, dass die Menschen eigentlich gar keine Gemeinsamkeit haben—abgesehen davon, dass sie ihr Land verlassen mussten? (Man kann hier einwerfen, dass Länderstereotypen genauso belanglos sind, weil in einem Land geboren zu sein, auch nicht mehr über Gemeinsamkeiten aussagt.)

Statistiken zufolge bilden die Syrer 2015 mit 158.000 den größten Anteil der Migranten in Deutschland. Trotzdem wäre es nicht richtig, Flüchtlinge zu sagen und Syrer zu meinen, weil von drei Asylsuchenden zwei nicht aus Syrien kommen. Wenn wir nicht auf komplett rassistische Merkmale wie die Hautfarbe zurückgreifen wollen, bleiben uns nur die gröberen Konzepte Geografie und die Religion, um von „den Flüchtlingen" zu sprechen. Und 2014 kommen die meisten Asylanträge sogar noch von „sonstigen Zuwanderern" (also aus unterschiedlichsten Herkunftsländern).

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Aus der Broschüre Das Bundesamt in Zahlen 2014

Geografisch kommt 2015 mit insgesamt 228.022 Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Pakistan zwar der Großteil der Asylanträge aus dem arabischen Raum. Trotzdem kann man nicht sagen, dass alle Flüchtlinge Araber sind. Flucht ist ein weltweites Problem; mit 113.015 Anträgen von Menschen aus Ex-Jugoslawien (das Land mit den zweitmeisten Asylanträgen ist Albanien) und vielen weiteren tausenden Anträgen aus afrikanischen Staaten.

Aus der Broschüre Das Bundesamt in Zahlen 2014

Bleibt nur mehr die Religion; zumindest wurden laut Statistik 2014 weit über die Hälfte der Asylanträge von Muslimen gestellt. Anscheinend haben sich die ersten Augenzeugenberichte, denen zufolge die Täter „dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum" stammen sollen, als richtig herausgestellt; nach aktuellem Wissensstand soll es sich bei den Tätern um „Männer aus Syrien, dem Irak und Afghanistan" handeln. Ob das ein relevanter Fakt für die eigentlichen Taten ist, ist damit aber noch lange nicht geklärt. Was uns zur nächsten Frage führt:

Können wir „Menschen aus dem arabischen Raum" bestimmte Eigenschaften zuschreiben?

Die maßgebliche Frage ist wissenschaftlich sehr schwierig und ideologisch sehr einfach zu beantworten. Dürfen wir Menschen zu Kulturkreisen ent-individualisieren und dann über diese Kulturkreise allgemein gültige Aussagen treffen? Rechte sagen ja, Linke sagen nein.

Vielleicht fällt uns eine Antwort leichter, wenn wir zur Abwechslung umgekehrt versuchen, uns Europäer zu charakterisieren. Wir berufen uns auf die antike Tradition mit all ihren Philosophen, das Christentum mit seiner nächstenliebenden Botschaft, die Aufklärung als Erwachen des Verstandes und die industrielle Revolution als Startschuss des Fortschritts. Gleichzeitig heißt das aber auch: Sklaven, Kreuzzüge, Missbrauchsfälle, die Guillotine und Ausbeutung. Dazu kommen zwei Weltkriege und mit ihnen der Holocaust. Ist ganz Europa gegen die Pressefreiheit, wenn Polen und Ungarn diese einschränken?

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Wenn wir uns wirklich auf gemeinsame Werte berufen können, sind das am ehesten die Menschenrechte, festgehalten in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, als eine Antwort auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Diese gelten für alle Menschen und besagen, dass wir alle gleichberechtigt sind. Die Realität ist aber auch 65 Jahre später noch eine andere.

Um wieder auf Köln zurückzukommen, stellt sichim Anschluss an die Vergewaltigungen und Übergriffe für viele die Frage, ob der „arabische Raum" ein Problem mit Frauen hat. Eine mögliche Antwort kann man aus einer Umfrage der Reuters Thompson Foundation aus dem Jahr 2013 ableiten. Die Studie hat 22 arabische Staaten nach ihrem Umgang mit Frauen gereiht. Das Ergebnis der nicht repräsentativen Befragung, für die laut Taz „336 GenderexpertInnen" befragt wurden, weist Ägypten auf dem letzten Platz aus. 99,3 Prozent der Mädchen und Frauen sollen dort schon einmal sexuell belästigt worden sein.

Der Irak, von wo aus die fünftgrößte Menschengruppe Asylanträge in Deutschland stellt, liegt laut Studie auf dem vorletzten Platz. Das Bürgerkriegsland Syrien belegt Platz 19 von 22. In Sachen Frauenrechte wird Syrien so beschrieben: „Massive kriegsbedingte Vertreibungen, sowohl in Syrien als auch über die Grenzen hinaus, haben laut UN dazu geführt, dass Millionen von Frauen und Mädchen gefährdet sind, sexueller Gewalt oder Menschenhandel zum Opfer zu fallen."

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Das Handelsblatt veröffentlichte am Freitag mit der Überschrift „Frauenbild in der arabischen Welt: Verachtet, diskriminiert, missbraucht" einen Artikel, in dem es heißt: „In vielen arabischen Ländern gehört die sexuelle Belästigung zur Tagesordnung. Das liegt vor allem am patriarchalen Frauenbild." In dem Text wird auch der „arabische Entwicklungsbericht" von 2002 zitiert.

„Frauen leiden unter ungleichen Bürgerrechten und ungleichem Rechtsstatus", heißt es da. „Die Nutzung der Fähigkeiten arabischer Frauen durch politische und wirtschaftliche Partizipation gehört zu den geringsten in der ganzen Welt." Und weiter: „Frauen sind in den politischen Systemen stark benachteiligt, werden durch Gesetze, Gebräuche und Konventionen extrem marginalisiert."

Screenshot aus dem Blog des World Economic Forum

Eine andere Umfrage beschäftigt sich damit, ob Frauen selbstständig entscheiden können, was sie anziehen. In Ägypten gestehen nur 14 Prozent der Befragten Frauen dieses Recht zu. In Pakistan sind es 22 Prozent und im Irak mit 27 Prozent etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung.

Der Global Gender Gap Report 2015 des World Economic Forum unterstreicht diese Ergebnisse noch einmal. Von 145 untersuchten Ländern stellen hauptsächlich arabische und afrikanische Länder die Schlusslichter dar. Pakistan liegt auf dem vorletzten Platz, knapp hinter Syrien, das den 143. Platz belegt.

Screenshot der Schlusslichter des Global Gender Gap Reports 2015

Laut dieser Studien ist die Lage der Frauen in einigen arabischen Ländern katastrophal, aber ob wir daraus Erkenntnisse ziehen können, die über statistische Wahrscheinlichkeiten hinausgehen, bleibt unklar. Schließlich gibt es immer auch Beispiele für Gleichberechtigung von Frauen im arabischen Raum : Hier müssen vor allem die Peshmerga immer wieder herhalten.

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Können wir von einzelnen Tätern auf eine größere Bevölkerungsgruppe schließen?

Laut aktuellem Stand lässt die Zuwanderung die Verbrechensrate nicht in astronomische Bereiche hochschießen. Seit sich in Österreich die Zahlen der Asylanträge verdreifacht haben, gibt es weder Plünderungen von Billa-Filialen, noch die kolportierten Vergewaltigungen. Alle gegenteiligen Behauptungen haben sich bei näherer Betrachtung als Internet-Hoax oder Propaganda herausgestellt.

Das heißt, so weit wir das bis jetzt beurteilen können (und hier kann man ganz berechtigt einwerfen, dass seit August gerade einmal vier volle Monate vergangen sind und die Informationspolitik der staatlichen Stellen möglicherweiseauch Schwächen aufweist, wie Köln gezeigt hat), gibt es bis jetzt keinen Beleg dafür, dass Flüchtlinge die gesellschaftliche Bedrohung darstellen, die ihnen von Rechten zugeschrieben wird. Und das ganz unabhängig davon, ob „Menschen aus dem arabischen Raum" tatsächlich von einem patriarchalen Weltbild geprägt sind oder nicht. Zumindest gab es bis Silvester definitiv keinen Beleg und ob Köln wirklich als Beweis herangezogen werden kann, gilt es erst zu klären.

Weil sich die Faktenlage rund um die Ereignisse zu Silvester immer noch täglich ändert, müssen wir die Frage, ab wann wir von einzelnen Tätern auf eine größere Bevölkerungsgruppe schließen können, hypothetischer angehen.

Angenommen es gibt zu Silvester 200 Täter in Köln, also knapp zehn Mal so viele, wie es tatsächlich mit dem Stand von Sonntag tatverdächtige Asylbewerber gibt (nämlich 22). Damit, nehmen wir weiter an, decken wir alle zu Silvester straffälligen Asylbewerber ab, was bedeuten würde, dass 0,04196 Prozent aller Menschen, die 2015 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, am 31. Dezember eine kriminelle Handlung begangen haben.

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Zum Vergleich wurden in ganz Deutschland im Jahr 2014 insgesamt 1.532.112 deutsche Tatverdächtige für Verbrechen aller Art ermittelt. Das wären aufgeteilt auf 365 Tage genau 4.197 Tatverdächtigen am Silvestertag (wenn wir davon ausgehen, dass an jedem Tag gleich viele Straftaten begangen werden). Das wären am 31. Dezember 0,0052 Prozent der Deutschen.

Heißt das, zu Silvester sind Asylbewerber zirka zehn Mal so kriminell wie Deutsche?

Und wenn es bei den 22 Tatverdächtigen bleibt—wir also mit den aktuellen Zahlen für Köln rechnen und diese mit Gesamtdeutschland vergleichen, was nicht ganz korrekt ist, aber wo uns mangels Daten nichts anderes übrig bleibt—, würde das bedeuten, die Deutschen (0,0052 Prozent sind zu Silvester kriminell) sind zu Silvester etwas straffälliger als Asylbewerber (0,004196 Prozent sind zu Silvester tatverdächtig)?

Ab welchen Zahlen sind also alle Deutschen kriminell und wann sind alle Asylbewerber gefährliche Vergewaltiger?

Alles läuft auf einen ideologischen Kampf hinaus. Auf der einen Seite wird ignoriert, dass Flüchtlinge natürlich auch Arschlöcher und Kriminelle sein können (so wie Vertreter jeder anderen Bevölkerungsgruppe eben auch) und es in ihren Herkunftsländern um die Rechte der Frauen teilweise katastrophal bestellt ist. Auf der anderen Seite wird die Diskussion um die Rolle der Frau in der Gesellschaft instrumentalisiert, um eine ohnehin vorhandende Ausländer- oder Asylwerber-Abneigung jetzt mit fadenscheinigem Feminismus zu rechtfertigen.

Das Ergebnis sind ein immer größer werdender Graben und ein vehementes Missachten der Fakten auf beiden Seiten. Jeder interpretiert die Ereignisse so, wie sie am besten zum eigenen Weltbild passen. Stefanie Sargnagel bringt es mit einem Posting auf ihrer Facebook-Wall auf den Punkt.

Auf die Köln Schuldfrage kann jeder projizieren, was er am wenigsten mag: Offene Einwanderungspolitik, offenherzige Schlampen, den Islam, das Patriarchat, den Kapitalismus, die Polizei, den Kolonialismus, Alkohol, Flüchtlinge, Araber, Deutsche, Rassismus, Männer, die Medien, Silvester allgemein, Deutschland, Heteros,…