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Warum ich den Katholizismus liebe, obwohl ich nicht an Gott glaube

Weihrauch, Messwein und Beichtstuhl – die römisch-katholische Kirche ist vor allem eines: YOLO!
Foto: Republic of Korea

Ich sitze mit Freunden zusammen auf der Terrasse. Wir schwitzen und trinken Bier und schwitzen noch mehr. Das Gespräch fällt auf Religionen, auf Extremismus und Intoleranz und Konservatismus und Ewiggestrige. Wer aufgeklärt sein will, liberal und weltoffen, der oder die gehört heute zu der (gottseidank!) stetig wachsenden Bevölkerungsgruppe der Konfessionslosen (in der Schweiz 21.4 Prozent, in Österreich geschätzte 29.0 Prozent).

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Wobei dazu auch all jene zählen, die sich ihren eigenen diffusen Patchwork-Wohlfühl-Tantra-Buddha-Balsamico-Glauben zusammenbasteln. Während es die meisten dann ganz OK finden, wenn man irgendwas von einer „höheren Macht" oder vom „Schicksal" labert, sorge ich jedes Mal für ungläubig aufgerissene Augen und Kopfschütteln, wenn ich sage: Ich bin Katholik.

Ich wurde sachte katholisch erzogen, wohl eher aus Gewohnheit denn Überzeugung. Mir gefielen die Bibelgeschichten im Religionsunterricht und ich wollte sogar Ministrant werden, was meine Eltern mit der zugegeben berechtigten Frage verhinderten, ob ich denn wirklich jeden Sonntag um 9:00 Uhr in die Kirche hoch trotten wolle. Dann kam die Pubertät und mit ihrer der Heavy Metal, das heisst ein naiver Satanismus (inklusive schwarzer Fingernägel), der alsbald von der Überzeugung abgelöst wurde, dass es keinen Gott gibt. Es gibt weder Beweise, noch ergibt es irgendwie Sinn und ein kleiner militanter Teil von mir ist noch immer der festen Meinung, dass man alle, wirklich alle Religionen verbieten sollte.

Dennoch bin ich immer noch nicht aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. Hauptsächlich, weil ich zu faul bin. Seit ich zumindest ein wenig Geld verdiene nerve ich mich zwar jedes Jahr, wenn auf der Steuerabrechnung auch die Kirchensteuer vermerkt ist, doch dazu bewegen, dem Pfarrer meiner Stadt in einem Brief zu schreiben, dass mir der Schoss der heiligen Kirche zu wenig flauschig ist, um dafür ein paar Hunderter im Jahr hinzublättern, konnte ich mich immer noch nicht. Es gibt aber auch ein paar gute Gründe dafür.

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Die römisch-katholische Kirche mit ihren vatikanischen Palästen, ihren knallrot gekleideten Kardinälen, mit ihrem Zölibat, den Rosenkränzen, dem Weihwasser und dem Aufstehen-Hinknien-Hinsetzen-Wieder-Hinknien-und-wieder-Aufstehen in der Messe wirkt wie das organisierte Vorgestern. Zumindest auf uns urbane, mehr oder minder bildungsnahe Mittel-, Nord- und Westeuropäer.

Während die katholische Kirche in anderen Teilen der Welt wie in Südamerika oder Afrika (oder Italien oder Polen oder Bayern oder im Wallis) noch weltliche Macht besitzt und dabei auch unentschuldbaren Schaden anrichtet, ist sie bei uns zu einer Art klerikalem Freilichtmuseum geworden. Wir bestaunen Kirchen als Sehenswürdigkeiten, Äbte und Nonnen als echte Einheimische. Ab und an noch ein homophober Spruch, eine kleine Holocaust-Leugnung oder, wenn sie mal gut drauf sind, ein Aufruf zu mehr Ökologie—mehr liegt heute in unseren Breitengraden nicht mehr drin.

Jorge Brazil | Flickr | CC BY 2.0

Genau dann, und zwar nur dann, finde ich die katholische Kirche grossartig. Grossartig als ein riesiges folkloristisches Gebilde, als eine Art Kostümdrama mit aller Theatralik, die dazu gehört. Religionen, ähnlich wie Parteien (Buure-Zmorge bei der SVP, die Internationale krächzen bei der SP) leben von Tamtam und Ritualen. Ja, es gibt Forscher, die behaupten, wir kämen ohne sie gar nicht aus im Leben.

Und falls das so sein sollte, dann meine ich: Wenn schon, denn schon. Her mit dem Weihrauch, her mit dem Leib Christi in Form einer kartonartigen Brotscheibe, mit den Segnungs-Klobürsten, den Ringen, die man küssen soll, den dröhnenden Orgeln und all den Heiligen für jede Lebenslage. Warum zur Hölle sollte ich in eine cleane ICF-Multimedia-Show, wenn mir in einer kühlen gothischen Kirche die Gargoyles und in einer barocken der leidende Holz-Jesus inklusive aufgemalter, blutroter Wunde entgegenblicken?

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Die Liste der vatikanischen Verbrechen ist so lange, dass man sie hinter keinem Vorhang verstecken könnte, dessen bin ich mir bewusst. Doch wisst ihr was? Keine einzige Religion hätte die Menge an Macht besser gehandhabt. Und damit meine ich nicht nur den fundamentalen Islam oder den Bildersturm der Reformation. Ob die Islamhetze der vornehmlich evangelikalen Tea Party, der Umgang mit der muslimischen Minderheit in Myanmar, der kaum verborgene Antisemitismus neo-paganer Trinkhorn-Schwinger oder die bis zur Lynchjustiz reichende, von einer übertriebenen Paranoia angetriebener Selbsterhöhung jüdischer Traditionalisten in Israel—Religionen sollten keine politische Macht besitzen. So viel Absurdität gekoppelt mit einem Waffenarsenal führt früher oder später zu Gemetzel.

Der Katholizismus mag diese Allmachts-Fantasien noch in sich tragen, doch seinen Zenit hat er in dieser Hinsicht längst überschritten. Heute geht es nur noch um Symbole, um Get-together, um Show. Und ums Feiern. An Requisiten und Bühnenbild wurde und wird dabei nicht gespart, doch auch im geistigen Überbau ist das angelegt. Ja, man könnte fast sagen, dass der Katholizismus schon in seiner Lehre—jetzt wage ich mich aufs theologische Glatteis—vor allem eine Grundlage besitzt: den Hedonismus.

Der Mensch ist an sich eigentlich schon schlecht (Erbsünde) und sein Fleisch eh schwach, also wird er früher oder später sündigen. Vor allem, weil so ziemlich alles, was auf dieser Erde Spass macht, Sünde ist (von einem Schlückchen Wein oder ehelichem Sex ohne Kondom einmal abgesehen). Während im evangelikalen oder reformierten Glauben dir Gott dafür zwar vergibt, jedoch nicht vergisst, sondern es sich notiert und dir später im Jenseits vorhalten wird, hat der Katholizismus eine wunderschön pragmatische Lösung gefunden: Beichte und Ablass.

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Du hast wieder mal zu viel gesoffen? Deinem Nachbar eins aufs Maul gegeben, weil er ständig zu laut zu schlechte Musik hört? Dir den Typen oder die Frau neben dir an der Bar nur mit einem Feigenblatt bedeckt und ansonsten wie Gott ihn oder sie schuf vorgestellt? Ab zur Kirche, in den Beichtstuhl und deinem Priester erzählen, der dir dann drei Vaterunser und einige Ave Marias aufgibt, die du brav hinunterbetest und gut ist.

Natürlich erwartet der Klerus von dir dabei eigentlich wahre Reue und echte Bestrebungen, es in Zukunft besser zu machen. Aber nur schon, dass die Möglichkeit bestand und besteht, seine Sünden bis zum kompletten General-Ablass loszuwerden und so später à la Speedy Boarding zügig in den Himmel zu kommen, ist fantastisch (auch wenn das mit der Abschaffung des Fegefeuers—noch so eine grandiose Sache, dass man einfach eine Glaubensvorstellung abschaffen kann—etwas obsolet geworden ist). Denn jeder hat die Tage oder vor allem Nächte, in denen man über die Stränge schlägt und irgendwann um 03:00 Uhr morgens durch die Strasse rennt und ungewollt „YOLO!" schreit. Und der Katholizismus verzeiht es dir.

Vor eineinhalb Wochen besuchte ich auf einem kurzen Deutschland-Trip auch das St. Hildegard-Kloster in Bingen. Während meine Freunde einfach ins Kirchenschiff schlurften, konnte ich nicht anders, als zuerst in die Weihwasser-Pfütze zu tunken und mich zu bekreuzigen. Mit bedächtigem Schritt schaute ich mich in der Kirche um und dachte an die Nonnen, die täglich an diesem Ort in sich kehren würden.

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Ich schloss die Augen und versuchte irgendwas zu spüren, doch es klappte nicht. Vielleicht gerade weil ich nicht an eine höhere Macht glaube, feiere ich den Katholizismus. Weil das Traritrara, die wuchtigen Gebäude und der ganze mystische Duktus auch ohne Gott funktionieren. Und weil es danach im Klosterladen nicht nur Heiligen-Bildchen und Hildegard-Tee, sondern auch klösterlichen Weisswein und sogar Bier zu erwerben gab.

Daniel auf Twitter: @kissi_dk

Vice Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild: Republic of Korea | Flickr | CC BY-SA 2.0