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Sport

Warum ich mich freue, wenn Österreich bei der EM verliert

Nicht nur für so manche Experten ist toleranter Patriotismus "gefährlicher Unsinn".
Foto: Ungry Young Man | Flickr

In diesen Tagen geht wieder einmal ein Ruck durch das Land. Hunderttausende sitzen gebannt vor den Bildschirmen und betrachten 22 Herren, die einem Ball hinterher jagen. Wenn dann die elf Spieler in rotweißroten Dressen auf dem Fußballfeld der Ehre gewinnen, herrscht nationale Euphorie. Wenn sie, wie in den letzten Tagen, eher mittelprächtige Ergebnisse liefern, ist die kollektive Trauer groß.

Länderspiele haben eine feste Choreographie. Zu Beginn laufen die Mannschaften ein, das Publikum schwenkt dabei die jeweilige Nationalfahne. In Österreich ist seit einigen Jahren eine Biermarke Hauptsponsor der Mannschaft, die auch für die Fahnen aufkommt. Und so schwenken dann Zehntausende im Takt ein Plädoyer für mehr Drogenkonsum.

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Für ebenjenen Takt sorgt bei den Heimspielen des rotweißroten Teams der Radetzkymarsch, der vor Spielbeginn ertönt. Feldmarschall Jan Radetzky hatte im Jahr 1848 italienische Aufstände gegen die Habsburger-Diktaturniedergeschlagen, kurz danach widmete ihm Johann Strauss (Vater) diesen Militärmarsch. Der Bezug auf den Krieg passt eigentlich überraschend gut.

In Medienberichten wird der Trainer gern als "Feldherr" bezeichnet und der Gegner "aus dem Stadion gebombt". 2012 forderte der damalige deutsche Co-Trainer Hans Flick vor einem Spiel gegen Portugal sogar, die "Stahlhelme aufzusetzen".

Selten werden in Österreich rotweißrote Fahnen hingebungsvoller geschwenkt, selten wird die Hymne inbrünstiger gesungen.

Unmittelbar vor dem Anpfiff wird im Stadion die jeweilige Nationalhymne gespielt. Selten werden in Österreich rotweißrote Fahnen hingebungsvoller geschwenkt, selten wird die Hymne inbrünstiger gesungen. Die ersten Sprechchöre ertönen. "Wir singen rot! Wir singen weiß! Wir singen rot-weiß-Österreich!" ist zum Beispiel äußerst beliebt bei den Fans. Auf der Ehrentribüne sind vor allem bei wichtigen Spielen bekannte PolitikerInnen zu sehen, die so zu positiven Fernsehbildern ohne störende Fragen kommen. Bereits im Vorfeld des Spiels stellen die Medien die Frage, wie "wir" denn gegen "sie" spielen werden. Die Botschaft ist klar: Hier findet eine nationale Inszenierung statt.

Dieses Phänomen ist auch aus anderen Sportarten bekannt. Wenn zum Beispiel österreichische SkifahrerInnen Medaillen holen, dann löst das regelmäßig mediale Euphorie aus. Dass der Skisport außerhalb des alpenländischen Raums als absolute Randsportart gilt, bleibt dabei geflissentlich unerwähnt. Auch Tennisstar Dominic Thiem erlebt derzeit diese Vereinnahmung. "Dominic Thiem holt ersten österreichischen Titel auf Rasen" titelten kürzlich die Salzburger Nachrichten und verkünden so Thiems individuellen Erfolg als kollektiven Triumph.

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Lest hier, warum man in Bagdad beim Fußballspielen sein Leben riskiert.

Das "Wir" und das "Sie" ist an sich keine Besonderheit von nationalen Fußball-Länderspielen. Alle Sportarten, die in Konkurrenz gespielt werden, kennen diese Unterscheidung. Doch der Unterschied etwa zum Klub-Fußball ist offensichtlich: Herkunft ist ein Klub, dem niemand beitreten kann. Die nationale Identität ist exklusiv und nicht inklusiv. Von diesem Wir-Gefühl sind MigrantInnen ausgeschlossen, außer sie unterwerfen sich völlig dem neuen Lebensmittelpunkt.

Dieses nationale "Wir-Gefühl" hat allerdings insbesondere im Fußball Brüche. Fußball ist der klassische Sport der männlichen Arbeiterklasse. Kein Wunder, es braucht nicht mehr als einen Ball und etwas freie Fläche. Dementsprechend ist auch das österreichische Team multikulturell zusammengesetzt und entspricht damit der Realität der österreichischen Gesellschaft. Wichtige Leistungsträger und internationale Stars wie David Alaba, Marko Arnautović, Aleksandar Dragović oder Zlatko Junuzović haben Migrationshintergrund. Sie sind in Österreich aufgewachsen und schafften zumeist über die Wiener Austria den Sprung ins Ausland.

Diese Spieler sind in Österreich geboren oder haben den größten Teil ihres Lebens hier verbracht. Der mittlerweile bei Werder Bremen spielende ehemalige Star der Austrianer, Zlatko Junuzović, spricht breites Kärntnerisch. Sein früherer Teamkollege bei den Veilchen aus Favoriten, Aleksandar Dragović, der aktuell bei Dynamo Kiew seine Brötchen verdient, antwortet bei Interviews mit deutlich hörbarer Wiener Klangfärbung.

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Die Leute finden ihn als Fußballer gut, wollen ihn aber nicht als Nachbarn.

Auch David Alaba, der dritte im violetten Bund, ist bekannt für seinen ausgeprägten Wiener Dialekt. Umso skurriler, dass der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) ihn einst bei einem Empfang auf Englisch ansprach. Offenbar passten die deutsche Sprache und der schwarze David Alaba für Platter nicht in ein gemeinsames Weltbild.

Allerdings wird gerade von Spielern mit Migrationshintergrund immer wieder gefordert, sich national anzupassen. Regelmäßig etwa steht die Frage im Raum, ob auch alle Spieler eifrig die Hymne mitsingen würden. In Deutschland forderte Sachsens Ministerpräsident Matthias Rößler (CDU) vor der EM in Frankreich sogar so etwas wie einen Pflichtgesang der Hymne für die Spieler und verband das prompt mit "deutscher Leitkultur" und "unseren Werten".

Eine unwillkommene Wahrheit sprach auch Alexander Gauland aus, der stellvertretende Vorsitzende der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD). Er sagte über den dunkelhäutigen deutschen Nationalspieler Jérome Boateng: "Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut, aber wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben".

Gauland selbst ruderte zurück, AfD-Vorsitzende Frauke Petry entschuldigte sich sogar. Ironischerweise liegt Gauland damit aber keineswegs so falsch. Umfragen belegen regelmäßig, dass relevante Teile der Bevölkerung schwarze Menschen nicht gerne als NachbarInnen hätten.

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Für toleranten Patriotismus hat der Forscher Wilhelm Heitmeyer nur fünf Worte: "gefährlicher Unsinn, ein Stück Volksverdummung."

In Österreich würde die nationale Fußball-Ikone David Alaba in einem Nachbarschafts-Beliebtheits-Ranking etwa zweifellos ziemlich weit vorne landen. Würde der junge schwarze Mann allerdings nicht David, sondern Charles oder Thomas heißen und im Supermarkt statt bei Bayern München arbeiten, würde die Zustimmung wohl relativ schnell und relativ deutlich abnehmen.

Diese multikulturelle Zusammensetzung mehrerer europäischer Teams ist also einerseits zweifellos ein Fortschritt, weil sie gesellschaftliche Realitäten widerspiegelt. Ob sie andererseits etwas am alltäglichen Rassismus ändert, darf bezweifelt werden.

Im Gegenteil kommt eine breit angelegte Studie aus dem Jahr 2006 zum Schluss, dass Deutsche, die im Anschluss an die Fußball-WM in Deutschland befragt wurden, nationalistischer eingestellt waren als solche, die zuvor an der Umfrage teilgenommen hatten. Zur oft aufgestellten Behauptung, dass die WM im eigenen Land die Deutschen zu einem "toleranten Patriotismus" geführt hätte, sagt Forscher Wilhelm Heitmeyer nur fünf Worte: "gefährlicher Unsinn, ein Stück Volksverdummung".

Die These von Heitmeyer ist logisch durchaus nachvollziehbar. Wo die Nation zur sinngestifteten Identifikation wird und der Nationalstolz ungehemmt ausgelebt werden kann, werden Menschen einander auf Basis ihrer Herkunft gegenübergestellt. Auch wenn Georg und Mehmet bereits seit Jahren an der Werkbank stehen und beste Freunde sind—in diesen 90 Minuten ist der eine Teil des Staatsvolks und der andere davon ausgeschlossen.

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Falsch verstandener Nationalstolz hat dazu geführt, dass dieser Mann sich mit Waffen eingedeckt hat.

Georg und sein Konzern-CEO sind gemeinsam im Stadion und feuern Österreich an (wobei Georg eher nicht in der Business-Lounge zu finden ist). Georgs Freund und Kollege Mehmet hat in dieser Inszenierung keinen Platz. Gemeinsamkeiten aufgrund gemeinsamer sozialer Interessen werden verwischt, Unterschiede werden betont.

Die extreme Rechte nimmt solche Stimmungen gerne auf. Kundgebungen der FPÖ erinnern etwa mit dem Schwenken von rotweißroten Fahnen und dem gemeinsamen Absingen der Bundeshymne oft frappant an Länderspiele. Das ist kein Zufall, sondern geschickte Inszenierung. Die Strategen der Rechtsextremen wissen sehr genau, dass die nationale Vereinheitlichung vor allem ihnen in die Hände spielt.

Ebenso kein Zufall ist, dass es bei Länderspielen regelmäßig zu Ausschreitungen von rechtsextremen und neonazistischen Gruppen kommt. Bei der aktuellen EM in Frankreich wurden einschlägige Vorfälle bereits unter anderem von deutschen, englischen, ukrainischen, russischen und kroatischen Fans bekannt. Beim Spiel von Kroatien gegen Tschechien präsentierten Unterstützer der neonazistischen "Bad Blue Boys" aus Zagreb sogar im Stadion ein Transparent mit dem faschistischen Keltenkreuz-Symbol.

Nicole Selmer, stellvertretende Chefredakteurin des Fußballmagazins Ballesterer, ist aktuell in Frankreich. Sie sagt: "Die EM bietet Platz für gemeinsames Feiern ohne verkrampftes Bestehen auf nationalen Differenzen, aber ebenso und 2016 noch mal verstärkt für ein aggressives Feiern nationaler Identität." Für Selmer sind auch die aktuellen Ausschreitungen keine Überraschung: "Wenn man einen sportlichen Wettkampf der Nationen ausruft, bekommt man ihn eben mitunter auch auf der Straße und den Tribünen."

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Córdoba war bezeichnenderweise eine Scheinwelt, draußen herrschte die Militärdiktatur.

Um zu funktionieren, brauchen Nationalstaaten nationale Mythen und nationale Helden. Historisch ist die Idee, dass es Nationen gäbe, eigentlich ein sehr junges Phänomen. Zuvor waren in Staatsgebilden die Loyalität etwa zu einem Adelsgeschlecht, zur Heimatregion oder zu einer Religion prägend. Der britische Historiker Eric Hobsbawm nennt Patriotismus die neue "Bürgerreligion". Oft werden solche nationalen Mythen durch Kriege geschaffen, wie etwa im Fall von Feldmarschall Radetzky. Oft werden aber auch sportliche Events herangezogen.

Auch Österreich kennt seine nationale Fußball-Erzählung. Im Jahr 1978 entstand in Argentinien der Mythos von Córdoba, ein fußballerisches Ereignis, das bis heute nachwirkt. In einem für das rotweißrote Team bereits völlig bedeutungslosen Spiel während der WM 1978 in Argentinien schlug Österreich Deutschland mit 3:2 und sorgte damit für das Ausscheiden des deutschen Teams aus dem Turnier. Auch heute, knapp 30 Jahre danach, wird dieses Spiel in den österreichischen Medien regelmäßig erwähnt und patriotisch aufgeladen.

Weniger bekannt ist allerdings, dass zu diesem Zeitpunkt in Argentinien eine blutige rechtsextreme Militärdiktatur herrschte. In unmittelbarer Nähe des Stadions von Córdoba wurden tausende GegnerInnen der Diktatur gefoltert, vergewaltigt, gedemütigt und ermordet.

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Der damalige österreichische TV-Reporter Robert Seeger bekennt gegenüber dem Ballesterer: "Die Militärs boten uns eine Scheinwelt, in der wir uns frei bewegen konnten. Das Camp der Österreicher, welches sich zwei Stunden außerhalb von Buenos Aires befand, war jedoch hermetisch abgeriegelt. Der Diktatur kam zweifelsohne die große Euphorie entgegen, die alles übertünchte."

Dieses Übertünchen versuchen aber keineswegs nur Diktaturen. Die Ablenkung während sportlicher Ereignisse wird auch in Europa gerne dazu genutzt, problematische Gesetze durch die Parlamente zu peitschen. So wurde in Deutschland während der WM 2006 die Mehrwertsteuer erhöht oder während der WM 2010 der Beitragssatz für die gesetzlichen Krankenkassen angehoben.

Selbstverständlich sind nicht alle Fans von Nationalteams rechts. Aber Fußball-Großereignisse lenken von Problemen ab und helfen den Rechten. Darüber sollten wir reden.

In Österreich soll aktuell das Sicherheitspolizeigesetz im Umgang mit Störungen und Demonstrationen deutlich verschärft werden. Dies muss nun keineswegs mit der EM in Frankreich zusammenhängen. Auffallend ist allerdings die unüblich kurze Frist, die für die Begutachtung des Gesetzes eingeräumt wird.

Im aktuellen Gastgeberland Frankreich lässt sich François Hollande, der Präsident des Landes, gerne von Medien als "Fan Nummer 1" der "Bleus" feiern. Bilder von Hollande mit Fanschal im Stadion sind gleichzeitig auch ein wichtiger Image-Gewinn für den sozialdemokratischen Politiker, der seit Monaten durch breite soziale Proteste gegen Verschlechterungen beim Arbeitsrecht unter Druck gesetzt wird.

Selbstverständlich sind nicht alle Fans von Nationalteams rechts, rassistisch oder wollen eine höhere Mehrwertsteuer und schlechtere Arbeitsbedingungen. Im Gegenteil, viele Fans sind weltoffen, sozial engagiert und wollen mit Fans aus anderen Ländern bei internationalen Turnieren gemeinsam feiern. Viele Fans genießen völlig zu Recht guten Fußball, ein geniales Dribbling oder ein besonders beeindruckend herausgespieltes Tor.

Gleichzeitig schaffen nationale sportliche Erfolge immer eine nationale Euphorie, die der politischen Rechten nützt und von inneren Problemen und inneren Widersprüchen ablenkt. Und darüber sollten wir reden.

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Titelbild: Ungry Young Man | Flickr | CC 2.0