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Was bräuchte es, um den Islamischen Staat zu zerstören?

Nach den Anschlägen von Paris werden westliche Mächte ihre militärischen Bemühungen gegen den Islamischen Staat vermutlich intensivieren. Doch wie sehen die Optionen aus?

Selbst vor den Terroranschlägen vom vergangenen Freitag in Paris waren westliche Nationen dabei, die Organisation Islamischer Staat in Syrien und im Irak zu bombardieren, doch wenn man sich die neuesten Aussagen von Politikern ansieht, dann ist wohl davon auszugehen, dass man die Bemühungen, die berüchtigte islamistische Gruppe zu eliminieren, verstärken wird.

Der französische Präsident François Hollande hat gelobt, „den IS zu zerstören" und die USA und Russland aufgerufen, dass „alle, die diese terroristische Armee bekämpfen können, sich zu einer großen Koalition zusammenschließen". Wenn US-Politiker nicht gerade ihre Absicht verkünden, syrische Flüchtlinge von der Einreise abzuhalten, dann wiederholen sie mit so falkenhaften Worten wie nur irgend möglich, dass wir den IS besiegen müssen. Es ist schon so weit gekommen, dass Präsident Barack Obama gezwungen war, öffentlich zu sagen, was eigentlich allen klar sein sollte, nämlich dass ein großer Landkrieg gegen den IS „ein Fehler" wäre.

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Dies scheint also ein guter Zeitpunkt zu sein, um uns die Frage zu stellen, wie die NATO und Russland es überhaupt anstellen sollen, den Islamischen Staat zu stürzen. Deswegen hat VICE Omar Lamrani kontaktiert, einen Militäranalysten für den in Texas angesiedelten Thinktank Stratfor, um zu sehen, wie verschiedene Optionen in der Umsetzung aussehen würden. Hier ist unsere Unterhaltung, aus Verständlichkeits- und Platzgründen editiert:

VICE: Wie sehen einige der Vorgehensweisen aus, die der Westen verfolgen könnte, um den Islamischen Staat ein für alle Mal zu besiegen?
Omar Lamrani: Es gibt viele Dinge, die man tun kann, um dem IS zu schaden, aber es gibt zwei Faktoren, die dabei bedacht werden müssen, wenn die Strategie ihnen wirklich den Garaus machen soll. Man könnte ihnen schaden, indem man ihre Finanzen angreift. Natürlich haben die Vereinigten Staaten mit ihren gestrigen Luftschlägen in der Provinz Deir ez-Zor, bei denen etwa 116 Tanklaster getroffen wurden, die Öl- und Energie-Infrastruktur angegriffen. Wir haben auch schon Enthauptungsschläge gesehen—das heißt, dass Anführer angegriffen werden. Wir haben Propaganda-Kriegsführung, Luftschläge, Abriegelung aus der Luft und gezielte Angriffe auf die logistische Versorgung gesehen. Luftschläge und finanzielle Taktiken können allerdings nur begrenzt etwas ausrichten, so lange es nicht auch Bodentruppen gibt, die das IS-Gebiet besetzen.

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Sind die USA bereits vorgedrungen und haben dabei wirklich nennenswerte Schäden verursacht?
Bisher hat es sehr, sehr wenige Fälle gegeben, in denen IS-Anführer ausgeschaltet worden sind, ohne dass kinetische Schläge aus der Luft eingesetzt wurden. Es gab diese Operation in Ostsyrien, wo sie einen Anführer, der mit Öl zu tun hatte, [getötet haben]. Das wurde durch den Einsatz einer Spezialeinheit erreicht, aber das ist sehr selten. Aktuell ist im Gespräch, mehr in diese Richtung zu machen. Wir hatten auch den Fall, dass Gefangene [gerettet] wurden, aber das ist nicht wirklich ein Enthauptungsschlag. Im Grunde sprechen die USA davon, mehr Angriffe durchzuführen und die „RRR-Strategie" zu verstärken, was für „Raqqa [die größte vom IS kontrollierte Stadt], Ramadi, and raids [Angriffe]" steht. Das bedeutet mehr Schläge mit Kommandos und mehr Angriffe durch Spezialeinheiten. Doch bisher waren die allermeisten Enthauptungsschläge mit Drohnen und Kampfjets ausgeführte kinetische Schläge.

Aber taucht nicht einfach jedes Mal wieder ein neuer Anführer auf, wenn die USA einen tötet?
Die USA sagen immer, beim Tod eines obersten Anführers käme auch jedes Mal ein Stellvertreter um, und das nehme ihnen den Schwung. Wenn man immer weiter Anführer töten würde, dann habe das im Laufe der Zeit eine Wirkung. Und das ist sicherlich auch zu einem gewissen Grad so. So etwas schadet dem IS definitiv. Aber ist es ein Todesstoß? Kann man den IS ausschalten, indem man nur die Anführer tötet? Nein, kann man nicht. Die USA würden das selbst auch zugeben. Die Politiker sagen ja auch, wir könnten den IS ohne Bodentruppen nicht endgültig eliminieren. Wenn der Boden, von dem aus sie operieren, nicht besetzt wird, dann kann der IS auch weiterhin überleben.

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Es handelt sich um ein historisches Problem, das mit den ganzen Missständen bei den Sunniten, Schiiten, Familien, Ethnien und Religionen zusammenhängt.

Obama will die bereits laufenden Bemühungen „intensivieren". Können mehr Luftschläge allein bereits entscheidende, große Siege einbringen?
Sehen wir uns mal an, was in Sindschar [wo die Kurden einen Sieg gegen den IS verzeichneten] passiert ist. Wenn es Luftschläge in Kombination mit einem Bodentruppen-Element gibt, dann kann das ziemlich entscheidend sein. Doch Luftschläge allein können die Lage nicht komplett ändern. Der IS kann bis zu einem gewissen Grad aufgehalten werden—er kann in Schach gehalten und davon abgehalten werden, neues Gebiet zu erobern. Wir haben gesehen, was in Kobane passiert ist, wo die Verteidiger wahrscheinlich überrannt worden wären, wenn die USA nicht Lufteinsätze geflogen hätten. Die Vereinigten Staaten können den IS mit ihrer Luftwaffe davon abhalten, weiter zu wachsen, doch wie die Anschläge von Paris gezeigt haben, kann der IS dennoch den Interessen der Alliierten in anderen Ländern schaden.


Sieh dir unsere Doku über den Islamischen Staat an:


Was ist der größte Nachteil bei Luftschlägen?
Luftschläge können nicht direkt die Truppen von Baschar al-Assad unterstützen. Im Laufe der Zeit hat sich der IS also auf Ziele orientiert, die nicht viel Luftunterstützung hatten, um das auszunutzen. Die kürzliche Eroberung von Mahin und davor die Eroberung von Palmyra [eine besetzte syrische Stadt von weltweiter archäologischer Bedeutung, die dieses Jahr schwer beschädigt wurde] sind Beispiele hierfür. Luftschläge können also beileibe nicht alles. Sie können sehr hilfreich sein. Sie können entscheidend sein, wenn es darum geht, die Fortschritte des IS auf ein Minimum zu beschränken. Doch sie sind kein Wundermittel.

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Gibt es ein magisches Verhältnis für den Einsatz von Spezialeinheiten, Luftschlägen und örtlichen Paramilitärs?
Es ist nicht so, als gäbe es einen offensichtlichen Weg, der nur nicht gegangen wird. Nehmen wir ein kurdisches Beispiel. Die Kurden haben bewiesen, dass sie sehr effektiv darin sind, den IS innerhalb des Territoriums—also Nordostsyrien, wenn wir jetzt von der YPG sprechen—zu bekämpfen. Sie haben gezeigt, dass sie den Islamischen Staat zurückdrängen können. Doch es gibt zwei Probleme: Erstens, die Kurden können nur im Nordosten Syriens einschreiten. Sie haben nicht genug Unterstützung in der Bevölkerung, um außerhalb dieser Region tätig zu werden, denn die Kurden sind nur eine kleine Minderheit der syrischen Bevölkerung. Sie haben nicht die Möglichkeit, weit in arabisches Gebiet vorzudringen, und sie wären dort auch nicht effektiv. Sie sind zahlenmäßig unterlegen und ihnen fehlt die historische Verbindung zu dem Gebiet, und das entsprechende regionale Wissen. Und dann ist da das zweite Problem: die Türkei. Die Türkei ist extrem besorgt wegen der Kurden. Sie ist nicht gewillt, etwas zu unterstützen, das den Kurden weitere Macht bringt. Wir haben gesehen, dass die Türken Luftschläge gegen die Kurden durchgeführt haben, als die Kurden den Euphrat nach Westen überqueren wollten. In gewisser Hinsicht stellen die Kurden also eine Teillösung dar. Sie können dem IS in Nordostsyrien und in Teilen des Irak schaden, aber wir können uns nicht auf sie verlassen.

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Hollande sagt, Frankreich werde den IS „zerstören". Wird Frankreich nun also Bodentruppen einsetzen?
Ich habe nichts gesehen, das eindeutig darauf hinweist. Ich habe Berichte gesehen, denen zufolge Frankreich überlegt, Spezialeinheiten zu schicken wie die USA.

Wenn eine Landinvasion also unwahrscheinlich ist, wie sollte eine gemeinsame internationale Strategie dann also aussehen?
Wir sehen hier eine Veränderung der Dynamik. Nun ist wirklich Antrieb da, um dem syrischen Konflikt ein Ende zu setzen. Bisher konzentrieren sich die Regierungstruppen und die Rebellen [nicht IS] fast ausschließlich auf einander. Und das gibt dem IS mehr Handlungsspielraum in den Randbereichen und die Gelegenheit, mehr Gebiete zu besetzen. Wenn es also zwischen den syrischen Parteien zu einem Übereinkommen, einem Waffenstillstand oder Frieden käme, dann wäre es langfristig sehr viel einfacher, den IS zu bekämpfen. Die Russen, die Amerikaner und die Franzosen wissen alle, dass sie in diesem Aspekt einig sind. Das Problem ist, wie man an diesen Punkt gelangen soll, wo doch die beiden Seiten so festgefahren in ihrer Unterstützung der jeweiligen Stellvertreter vor Ort, also der syrischen Loyalisten und Rebellen, sind.

Ist es also nötig, die Regime-Anhänger und die Rebellen irgendwie zu versöhnen?
Das ist leichter gesagt als getan. Man kann nicht einfach so daherkommen und meinen: „Hey, setzt mal schnell einen Friedensvertrag auf und dann kämpfen wir zusammen gegen den IS!" Viele der involvierten Länder trauen sich gegenseitig nicht über den Weg—zum Beispiel die USA den Russen. Als Russland anfing, in Syrien Luftschläge zu fliegen, hieß es ja auch eigentlich, dass diese Angriffe gegen den Islamischen Staat gerichtet sind. Aber dann wurden bei 80 Prozent der Luftschläge die Rebellen und nicht die Terroristen zum Ziel gemacht. Hier besteht eine große Kluft, die man nicht so leicht überwinden kann. Es wird wohl Bestrebungen geben, einen Friedensvertrag abzuschließen, aber da haben wir erst noch einen ganz weiten Weg vor uns.

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Nehmen wir mal an, die USA und ihre Verbündeten stellen sich mit Russland gut. Was könnte eine solche Allianz alles erreichen?
Ich verliere mich nicht gerne in Spekulationen und Annahmen, aber falls es wirklich zu einer Einigung zwischen diesen beiden Mächten geben sollte, dann ist es bei jeglichen Handlungen im Osten Syriens wichtig, auch die ursprünglichen Anliegen und Probleme der Einwohner zu berücksichtigen. Man könnte schon die militärische Stärke zusammenbekommen, um dort das Kommando zu übernehmen—vor allem in einer perfekten Welt, in der sich syrische Regime-Anhänger und Rebellen verbünden, um gemeinsam gegen den IS zu kämpfen. Das wäre dann eine richtige Macht, die auch den Islamischen Staat in die Knie zwingen könnte, denn einer solchen militärischen Stärke hätten die Terroristen nichts entgegenzusetzen. In Syrien könnten sie dann keinen Stich mehr machen. Die unterschwelligen Leiden und Spannungen wären damit jedoch nicht zwangsläufig vorbei, vor allem wenn man davon ausgeht, dass Assad dann immer noch an der Macht wäre. Das Problem bei solchen Annahmen ist immer der Umstand, dass die Rebellen niemals mit Assad zusammenarbeiten würden. Es ist vielleicht möglich, den Islamischen Staat mit militärischen Mitteln zu besiegen, aber dann würde das eigentliche Problem wieder zum Tragen kommen.

Zuerst muss man das Problem des syrischen Bürgerkriegs klären. Der IS kann erst dann besiegt werden, wenn der syrische Bürgerkrieg zu Ende ist.

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Kann es ein legitimes syrisches Regime ohne Assad überhaupt geben?
Wenn Assad nicht da wäre, dann würde irgendein anderer Politiker an seinem Platz sitzen, den die Rebellen nicht mögen. Wenn sich dieser Umstand verändert, dann haben wir hier komplett neue Voraussetzungen. Dann reden wir über eine Situation, in der die Russen und Iraner sagen: „OK, Assad ist keine Option mehr, wir sind jetzt auf der Seite der Rebellen." Dann könnten wir auch herausfinden, mit welchen Rebellen wir reden sollten. Hier kommen so viele Faktoren ins Spiel, die richtig gut laufen müssen, um irgendwann an einen Punkt zu kommen, an dem sowohl die Rebellen—die zu diesem Zeitpunkt ja gar keine Rebellen mehr wären—als auch die Regime-Anhänger dazu bereit sind, zusammen in Richtung Ostsyrien zu marschieren und gegen den IS zu kämpfen.

Es ist also nicht vernachlässigbar, wer in Syrien an der Macht ist?
Auf dem Weg zu einem solchen perfekten Szenario gibt es eine Menge Hindernisse. Zuerst muss man das Problem des syrischen Bürgerkriegs klären. Der IS kann erst besiegt dann werden, wenn der syrische Bürgerkrieg zu Ende ist.

MUNCHIES: Ich habe mit syrischen Rebellen gegessen

Und wie würde man danach sicherstellen, dass der Islamische Staat nicht zurückkehrt?
Wenn man den IS nicht von den sunnitischen Gemeinschaften in Syrien und im Irak trennt, dann wird das Risiko einer Rückkehr niemals ganz verschwinden. Man muss sich nur mal ins Gedächtnis rufen, was nach dem Eingreifen der USA und dem „Erwachen Anbars" im Irak passiert ist. Die Dschihadisten wurden dort zwar nicht komplett, aber doch zum Großteil vernichtet. Die Gewalt ging drastisch zurück. Und das lag daran, dass die sunnitische Gemeinschaft mit in die Gespräche einbezogen wurde. Ihnen wurde ein Weg aus der Krise aufgezeigt und gesagt, dass sich die Dinge für sie bessern könnten und dass man mit Bagdad und der Regierung etwas aushandeln könnte. Das alles ist jedoch nie eingetreten und die historischen Leiden der Sunniten im Irak und in Syrien haben zur Folge, dass dschihadistische Organisationen wie der IS immer wieder zurückkommen können.

Gibt es noch andere Optionen?
Man könnte eine interne Revolution anzetteln. Das könnte unser Joker sein—Mitglieder des IS dazu zu bringen, sich gegen die Anführer aufzulehnen. So etwas führt dann möglicherweise dazu, dass der Islamische Staat zusammenbricht und verschwindet. Dann besteht jedoch natürlich auch die Möglichkeit, dass sich in der gleichen Gegend ein Nachfolger oder eine ähnlich eingestellte Gruppierung formiert.

Heißt das, dass sich die westliche Welt mal etwas zurücknehmen und Geduld zeigen sollte?
Wir haben es hier mit einer Konfliktsituation zu tun, die sich in kurzer Zeit nur sehr schwer klären lässt. So kann man das Ganze meiner Meinung nach ganz gut zusammenfassen. Es handelt sich um ein historisches Problem, das mit den ganzen Missständen bei den Sunniten, bei den Schiiten, bei den anderen Familien, bei den verschiedenen Ethnien und bei den verschiedenen Religionen zusammenhängt. Es ist nunmal keine einfache Aufgabe, ein Problem einfach so in Luft aufzulösen, das nun schon so lange Bestand hat und im Laufe des vergangenen Jahrzehnts voller Kriege nur noch weiter verschlimmert wurde.


Titelfoto: US Air Force | Flickr | United States government work