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Wir haben den Kampf verloren

Ich bin scheißwütend. Ich sehe diese Zelte, Hunger, zwei Duschen für 300 Menschen, vier Klos—mitten im stinkend reichen Europa. Und ich sehe die Probleme von morgen, die wir uns damit selbst einbrocken.

Alle Fotos von Noah Blaser, via VICE Media

Ich bin scheißwütend. Ich wollte diesen Artikel eigentlich gar nicht schreiben, weil es eh nichts bringt und jeder von euch da draußen, der sich grad einen Schokoriegel in den Rachen schiebt oder sich fragt, ob die neue Wimperntusche die frisch gestutzen Stirnfransen gut unterstreicht, alles weiß, alles gesehen hat und müde den nächsten Tab aufmacht. Like, Apfel+T, scheiß drauf, Fußball, Tantra, Clubmusik oder für was auch immer ihr euch in eurer kleinen Blasen-Welt so interessiert.

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Ich hab die Schnauze voll von der Empörung in dieser kleinen Parallelwelt, die ihr so Leben nennt: Nein zu Rot-Blau, Kickl-Leitner: Rücktritt sofort, Stoppt TTIP, das Delfinsterben, Merkel, Putin, Obama, wen-auch-immer. Betroffenheit hier, Entrüstung da. Ich hab viel zu lange mitgemacht, selbst gesudert, diskutiert, nach „Konzepten" gefragt. Das Ding ist: Es gibt keine. Wir müssen den ganzen Scheiß alleine machen.

Ich hab mich mit meiner Freundin in ein Flüchtlingslager geschlichen. Was heißt geschlichen, wir sind da einfach mit zwei Sackerln voll Klamotten reinspaziert und haben gefragt, wo wir die abstellen können. Wo das war, ist egal. Weil es in Europa in diesen Lagern überall gleich aussieht. Dann haben wir Essen gekocht und ausgegeben, Töpfe gewaschen, Betten desinfiziert, den Leuten zugehört und wieder von vorne angefangen.

Nach zehn Stunden war ich ein bibberndes, emotionales Wrack. Wenn du hörst, dass eine Mutter vier von sieben Kindern auf der Flucht verloren hat, Menschen von Schrapnellen die Gliedmaßen zerfetzt wurden, Familienmitglieder ertrunken sind, vergewaltigt, verstümmelt, beraubt wurden und du denen ins Gesicht siehst, die das alles selbst gesehen haben und du ihnen nur eine Plastikschüssel mit dünner Suppe reichen und aufmunternd auf die Schultern klopfen kannst, dann bricht etwas in dir zusammen. Also mir ging es so.

Ich glaube inzwischen an gar nichts mehr. Ich habe Flashbacks bekommen. An die Zeit, in der ich in Haiti war, kurz nach dem Erdbeben 2010, als 300.000 Menschen draufgingen und eine Million obdachlos war. Und ich sehe diese Zelte, Hunger, zwei Duschen für 300 Menschen, vier Klos—mitten im stinkend reichen Europa.

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Ich bin da nicht übermäßig stolz auf meine Aktion. Ich fühle mich jetzt nicht besser. Es hat mich wütend gemacht. Auf die Welt, die wir Alltag nennen, die unser Zuhause geworden ist, auf die Newsfeeds, die Pop-up-Stores, all die Follower, die uns wichtiger sind, als sterbende Menschen und den ganzen anderen Dreck, der uns einlullt.

Ich meine, schau dir die Situation doch einmal an. Wir haben den Kampf verloren. Die Rechten gewinnen eine Wahl nach der anderen. Überall. Sie haben das Bildungssystem so weit ruiniert, dass die Hälfte der Bevölkerung wieder auf den starken Mann wartet, der sie aus ihrem Dilemma zwischen Chemtrails, Weltjudentum und islamischem Terror befreit.

Der Staat nimmt uns die Hälfte von dem weg, was wir verdienen und stopft es in kaputte Banken. Die Konzerne höhlen den Umweltschutz aus, treiben Millionen in die Arbeitslosigkeit, privatisieren Nahrung, Wasser, unsere Gesundheit und alles andere auch. Jeder Tropfen Öl, jeder Brocken Kohle, jedes Fürzchen Gas wird dem Planeten entzogen und zu Geld gemacht.

Unsere Rechte auf Privatsphäre, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Mitbestimmung werden eingestampft. Ich bin eigentlich sogar ein naiver Optimist, aber wenn ich mir das so ansehe: Holy shit. Wir werden alle mächtig gefickt.

MUNCHIES: Ein Michelin-Sternekoch kocht in einem Flüchtlingscamp

Nicht nur Mohammed aus Eritrea, der seine hochschwangere Frau auf dem Weg durch Italiens Auffanglager aus den Augen verloren hat und sich jetzt vor Sorge die Haare in Büscheln ausreißt. Sondern wir alle. Wir hier in Westeuropa applaudieren mit der Faust in unseren Ärschen noch tapfer und betteln, dass wir ja doch bitte weiter gefickt werden.

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Das macht mich wütend. Auf mich, meinen jovialen Lebensstil und auch auf dich, der das hier grade liest, vor deinem MacBook hockst und dich fragst, was du dir nachher von der Billa-Frau auf dein Kornspitz schmieren lässt. Ob dein Arsch in der Levi's-Jeans nicht doch besser aussieht als im Streifenrock.

Du fragst dich Sachen, die du dich eh jeden Tag fragst. Irgendwie plätschert die ganze Sache so vor sich hin, oder? Ich mein, so das Leben und der ganze Scheiß. Ich kenn das. Ich kenn mich schon lange nicht mehr aus. Irgendwie kicken die Drogen am Wochenende nicht mehr richtig und die Vernissagen, Partys, Shop-Eröffnungen fühlen sich alle gleich an. Irgendwie ist alles irgendwie. Nur irgendwie nicht mehr echt.

Jaja, wir machen ja eh mit. Alles nicht OK, das mit den Zelten und den Booten und den toten Kindern und dem Islam. Wir klatschen leise auf Twitter in uns rein, wenn die Autonomen ein paar Fensterscheiben einschmeißen und sharen die Bilder von den schwimmenden Särgen auf dem Mittelmeer. Ach, zwei Fickfinger auf die öffentliche Meinung.

In uns drinnen bleibt es nämlich leer. Und weißt du warum? Weil wir kleine Scheißer sind, die Sachen wie „on fleek" sagen und denen der Seitenscheitel wichtiger ist, als der Sandler, der sich gerade an der Straßenecke neben uns ins Delirium säuft. Wir haben den Faden verloren, und das fühlt sich komisch an. Und ich komm jetzt nicht auf die Aktivisten-Ich-liebe-die-Welt-Tour. Die sind mir alle auch zuwider. Ich erzähle dir lieber das, was mir in dem Lager durch den Kopf geschossen ist, als ich die Blutspuren aus den Militärpritschen geschrubbt habe.

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Dort haben Leute dreimal am Tag Essen für 300 Menschen gekocht. Im normalen Leben wählen ein paar von denen sogar die FPÖ und reißen sich trotzdem für die „Neger" den Hintern auf, weil sie es als ihre Pflicht empfinden.

Die wütende Jugend muss es mal wieder richten. Reclaim the streets, you fuckers!

Und was machst du, mit den Ringelsocken und dem zynischen Grinsen in der Fresse? Gequirlte Scheiße über ein New Yorker Comic-Festival erzählen, weil du denkst, damit die Blonde mit der Ottakringer-Dose beeindrucken zu können. Dich abheben, dich neudefinieren. Diesen ganzen verwöhnten Generation Y-Scheißdreck eben.

Klapp deinen verdammten Laptop zu und mach endlich irgendwas. Frag deinen Gras-Dealer nach seiner Geschichte und besorg ihm einen Job, veranstalte eine Block-Party beim Flüchtlingsheim um die Ecke, infiltriere die FPÖ, was weiß ich. Mach einfach irgendwas, anstatt dir einen auf deine neuen Sneakers runterzuholen. Weil die Jungs immer mehr werden und die haben nichts mehr zu verlieren, weil ihre Familie im Mittelmeer ersoffen ist oder von marodierenden Banden zuhause aufgeschlitzt wurde. Also sollten wir schleunigst schauen, dass wir ihnen hier einen guten, freundlichen Start ermöglichen.

Und dafür müssen du und ich und wir alle dahin, wo wir hingehören. Werfe deinen Latte mit Schaum und Schokostreuseln weg und trau dich wieder raus auf die Straße. Mitten rein in den brodelnden Sud. Denn die wütende Jugend muss es mal wieder richten. Weil es einfach wieder an der Zeit für Parolen ist. Reclaim the streets, you fuckers!