​Wut, Enttäuschung, Straßenschlachten: Ich habe die Wahlnacht in einer kurdischen Stadt verbracht
Alle Fotos: Thomas Hunter

FYI.

This story is over 5 years old.

News

​Wut, Enttäuschung, Straßenschlachten: Ich habe die Wahlnacht in einer kurdischen Stadt verbracht

Während die AKP in Ankara ihren Sieg feierte, brannten in Diyarbakir die Barrikaden.

Am Anfang sind alle noch ganz ausgelassen. In den Straßen von Diyarbakir herrscht Ausnahmezustand an diesem Abend. Die Türkei hat ihr Parlament gewählt, zum zweiten Mal in diesem Jahr, und noch sind alle voller Hoffnung hier. Die Anhänger der pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker), die in Diyarbakir besonders zahlreich vertreten sind, tanzen auf den Plätzen oder fahren in langen Autokorsos hupend durch die Straßen—gerade so, als hätten sie die Wahlen schon gewonnen. Dabei haben die Wahllokale eben erst geschlossen, die Auszählung noch gar nicht begonnen. Trotzdem herrscht Festtagsstimmung.

Anzeige

Im Büro der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), die ein Teil der HDP ist, treffe ich auf Ahmed, einen jungen Mann aus Deutschland, der mir eine Visitenkarte seines Vereins in die Hand drückt. „Newyoungturks" ist darauf zu lesen, Ahmed versucht, mir umständlich zu erklären, worum es seiner Organisation so geht. Die Völkerfreundschaft der Völker der Türkei untereinander sei ihr Anliegen, und dass man Hand in Hand als Einheit voranschreiten solle.

„Wir sind hier, um uns den Medien als Gesprächspartner anzubieten", erklärt er die Mission des Abends. Doch außer mir scheint sich niemand für die dann doch ziemlich staatstragenden Ideen der neuen Jungtürken zu interessieren. Irgendwie geht es darum, dass jeder seine Identität leben können soll, wobei die Regierung nicht immer Recht habe, aber die Terroristen auch nicht, und Gewalt sei sowieso scheiße und alle gemeinsam Richtung Zukunft durch die Nacht unter dem Banner des türkischen Staates. „Deshalb schlagen wir vor, dass man in Zukunft nicht mehr Türken sagt, sondern ,Türkyeliler', was soviel bedeutet, wie ,Mensch, der aus der Türkei kommt'." Der Kollege von Le Monde wendet sich gelangweilt ab. Ich wünsche Ahmed alles Gute für sein Vorhaben und gehe nach draußen.

Dort treffe ich Said, der den ganzen Tag für die BDP im Wahlbüro aktiv war und nun etwas abgeschlagen wirkt. Die ersten Wahlergebnisse, die nun langsam eintrudeln, tragen nicht unbedingt zur Stimmungsaufhellung bei. Laut ersten Hochrechnungen liegt die HDP mit 11 Prozent nur sehr knapp über der 10-Prozent-Hürde und muss um den Wiedereinzug ins Parlament bangen, während die Regierungspartei AKP gut 50 Prozent einsacken kann.

Anzeige

Dieser Erfolg von Erdoğans Partei ist erstaunlich. Immerhin hatte die AKP im Juni noch mit knapp 42% der Stimmen ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren und lag auch in den letzten Umfragen nicht wesentlich darüber. „Nun, ein bisschen Betrug wird schon dabei gewesen sein", lächelt Said müde. Eine Behauptung, die sich nur schwer belegen lässt.

Auch zum Thema: Ist die Türkei ein sicheres Herkunftsland?

Unbestreitbar ist allerdings, dass die HDP im Wahlkampf mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. So wurden in den letzten Monaten mehrere hundert HDP-AktivistInnen unter Terrorismusverdacht in Haft genommen und Repräsentanten der Partei oder ihre BürgermeisterInnen ins Gefängnis gesteckt. Wahllokale in Stadtteilen, in denen die HDP besonders stark vertreten ist, wurden aus Sicherheitsgründen in andere Stadtteile verlegt—und die Anwesenheit von bewaffneten Sicherheitskräften in den Wahllokalen trug auch nicht unbedingt zum Wohlbefinden beim Urnengang bei.

Dazu kam noch der Schock des Bombenanschlags von Ankara, nach dem es die HDP vorzog, auf Massenkundgebungen zu verzichten. Vom Staatspräsidenten Erdoğan bekam sie natürlich auch keine Unterstützung—der machte sich ganz klar für seine eigene Partei und seinen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu stark.

Auf der Straße ist die Nachricht vom drohenden Scheitern der eigenen Partei mittlerweile ebenfalls angekommen. Die Freudentänze sind einer zunehmend angespannten Stimmung gewichen. Was vorher laut und fröhlich war, wird nun frustriert und aggressiv. Immer mehr junge Menschen strömen auf den Platz, die älteren ziehen sich zurück. Jugendliche sammeln sich zu großen Haufen. Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige, manche auch noch beträchtlich jünger. Es sind Kinder. Sie schreien Parolen und binden sich ihre T-Shirts vors Gesicht.

Anzeige

Plötzlich setzt sich der Mob in Bewegung. Aus Gaspistolen wird Schreckschussmunition verballert. Alles rennt in eine Richtung. Zwei Häuserblocks weiter wird ein Supermarkt angegriffen, warum ist nicht wirklich klar. Vielleicht gilt der Besitzer als AKP-Unterstützer, ich weiß es nicht. Die Verkäuferinnen im Inneren des Ladens heben abwehrend die Hände, die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Schaufensterscheiben gehen zu Bruch.

Fotografieren wird zunehmend schwieriger. So jung die kleinen Randalierer auch sein mögen, sie wissen genau, dass sie Straftaten begehen und achten penibel darauf, dass die anwesenden Fotografen ihre Gesichter nicht aufnehmen. Irgendwann gelingt es den SupermarktmitarbeiterInnen, die Rollläden der Schaufenster zu schließen. Weil es so schön Krach macht, springen einige der Kinder noch dagegen, bis irgendwann ein gepanzertes Fahrzeug der Polizei auftaucht und Tränengasgranaten verschießt. Die Menge verteilt sich in den dunklen Nebenstraßen, der Supermarkt ist in Sicherheit. Ich gehe zurück zum Gebäude der BDP, wo sich die Kinder wieder sammeln.

Jetzt beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, es funktioniert ungefähr so: Barrikaden werden errichtet und in Brand gesteckt. Dann wartet man bis der Wasserwerfer kommt. Dann greift man den Wasserwerfer an—mit allem, was man werfen kann. Dann kommen die kleinen gepanzerten Wagen der Polizei und beschießen die Menge mit Tränengasgranaten, woraufhin die Jungs sich zerstreuen. Der Wasserwerfer löscht die Barrikade und die Polizei zieht sich zurück. Repeat.

Anzeige

Den anwesenden Pressefotografen bleibt genug Zeit für starke Bilder—wobei Menschen, die vor irgendwas Brennendem stehen, sowieso immer gut aussehen. Manchmal muss sich der Wasserwerfer aufgrund der Heftigkeit der Angriffe und eines massiven Steinhagels auch zurückziehen, bevor er den Brand gelöscht hat, was heftig beklatscht wird, so als hätte man tatsächlich einen echten Sieg errungen.

So geht das ein paarmal, dann ist Schluss. Die letzten Brände lässt die Polizei einfach brennen. Die Presse packt zusammen. Feierabend.

Was bleibt, ist ein brennender Autoreifen und das Gefühl, um eine Chance betrogen worden zu sein. Denn was auch immer jetzt in Sachen Kurdenpolitik passiert—viel Hoffnung, dass es besser wird, haben die Menschen hier nicht.

Groß sind die Befürchtungen, dass die Repressionen schlimmer werden, die Angst vor einer Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzungen mit der PKK noch größer. Der türkische Staat bekämpft die Partei als Terrororganisation, aber in diesem Teil des Landes genießt sie breite Unterstützung. Hier hat die PKK tatsächlich so etwas wie eine Massenbasis—es bekennen sich LehrerInnen, HandwerkerInnen, RestaurantbesitzerInnen, Stadtviertel und ganze Städte zur Bewegung.

In den Augen dieser Menschen kämpft die PKK für eine autonome, basisdemokratische Selbstverwaltung und seit einigen Jahren auch um eine politische Lösung der sogenannten Kurdenfrage. Mit dem Wahlergebnis von gestern Abend wird man auf eine solche Lösung allerdings höchstwahrscheinlich noch mindestens vier Jahre warten müssen.