Menschen

Ich stecke mit meinem cholerischen Vater in Isolation fest

Ich verlasse mein Zimmer nur, wenn ich muss. Ich gehe so lange nicht auf die Toilette, bis ich es nicht mehr halten kann. Ich bin 21 und verstecke mich vor meinem Vater.
Alexandra Stanic
aufgeschrieben von Alexandra Stanic
Das Porträt einer Frau
Symbolfoto: imago images | Cavel Images 

Anfang dieses Jahres sah alles so gut aus. Meine Mutter hatte beschlossen, meinen Vater zu verlassen. Ich war so stolz auf sie. Sie hatte sich erstmals für sich entschieden – und gegen ihn. Sein Psychoterror hält schon seit Jahrzehnten an.

Zwei Jahre dauerte die Scheidung, seit Februar sind sie offiziell geschieden. Zwei Jahre hat er alles in seiner Macht stehende getan, um die Trennung verhindern. Er wollte sie einfach nicht akzeptieren. Dann kam Corona und mit dem Virus die Nachricht: Mein Vater wird nicht ausziehen. Wir stecken seither zu dritt in der Isolation fest.

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Ich bin heute 21 und verstecke mich vor meinen Vater. Morgens stelle ich mir den Wecker, um früher aufzustehen als er. Wenn ich ihn doch schon in der Küche höre, tue ich so, als würde ich noch schlafen. Ich verlasse mein Zimmer nur, wenn ich muss. Ich gehe so lange nicht auf die Toilette, bis ich meine Blase nicht mehr halten kann. Ich verstecke mich, weil ich seine Wut nicht mehr aushalte. Die großen und die kleinen Szenen, die er täglich inszeniert. Ich bin am Ende. Meine Mutter hat einen systemrelevanten Job, sie arbeitet zurzeit noch mehr und ist wenig da. Ich bin ständig zu Hause – er auch.

Meinem Vater wurde vor vielen Jahren eine Posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert. Eine Folge des Balkankriegs, aus dem er 1995 geflüchtet ist. Er war nach der Diagnose nicht weiter in Therapie, hat sich nicht mehr mit seinen Problemen beschäftigt. Therapie hält er für vergeudete Zeit. Er hat vor ein paar Jahren seinen Job verloren, ist seither auf Notstandshilfe angewiesen. Meine Mutter hat eine Wohnung für ihn in Wien gefunden, er hätte Ende März dort einziehen sollen. Durch die Pandemie kam alles anders. Er freut sich. Meine Mutter und ich leiden.

Mein Vater ist Choleriker. Er schlägt mich nicht. Aber er schreit und wütet und setzt meine Mutter und mich psychisch unter Druck. Er braucht uns, um sich selbst groß zu machen und uns klein.

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Seit fünf Wochen stecke ich mit ihm in der Wohnung fest. Ich kann nicht an die Uni, kann keine Freundinnen treffen, keine Nachhilfe geben. Ich kann noch nicht einmal an verpflichtenden Webseminaren für mein Studium teilnehmen, weil mein Vater ständig reinplatzt und wissen möchte, mit wem ich spreche. Oder er will einfach mithören. Die wenigen Möglichkeiten, die ich früher hatte, um mich abzulenken, fallen weg.

Die wenigen Freundinnen, mit denen ich sprechen kann, verstehen nicht, warum ich nicht einfach ausziehe. Aber meine Angstzustände machen ein selbstständiges Leben schwer, die alltäglichsten Dinge kosten unfassbar viel Kraft. Außerdem kämpft meine Familie immer schon mit Existenzängsten. Ich kann mir mit meinem Nebenjob kein WG-Zimmer leisten. Und dann ist da ja noch meine Mutter, die ich nicht alleine lassen möchte, selbst wenn ich könnte. Sein Terror verteilt sich auf uns beide. Alleine schafft sie das nicht.

Mein Leben lang schon suche ich nach den richtigen Worten, um meinen Vater zu beschreiben. Ich weiß nicht, wie ich Freundinnen erklären soll, wie mein Vater das Leben meiner Familie ruiniert hat. Wie schaffe ich das, ohne zu viel über meine Familiengeschichte preiszugeben? Ich schäme mich. Ich schäme mich für meinen Vater. Ich schäme mich für all seine Worte, für all seine Wutausbrüche, für seine verzerrte Wahrnehmung der Welt. Ich schäme mich für die Angstzustände, die ich seinetwegen habe. Aber ich schäme mich auch für meine schlechte Beziehung zu ihm.

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Ich bin mit seinen Wutausbrüchen groß geworden. Ständig Terror, Terror, Terror. Wir wussten nie, wie er reagieren wird, wann er wieder ausrasten wird. Ich war zehn Jahre alt, als ich detailliert in mein Tagebuch geschrieben habe, wie er mich angeschrien hat, nur weil ich meine Nudeln nicht aufessen konnte. Es war erschreckend zu lesen, dass ich schon als Kind wusste, was für ein schlechter Vater er ist.

Ich habe sehr früh gelernt, mich möglichst klein zu machen. Einmal bin ich vom Rad gefallen. Mein Vater ist sofort in Panik geraten, hat zuerst mich, dann meine Mutter angebrüllt. Ich hatte danach Angst, Fahrrad zu fahren. Ich hatte nicht nur Angst zu stürzen, ich hatte auch Angst vor seiner Reaktion. So hat mich mein Vater erzogen. Ich bin mit ständiger Angst aufgewachsen. Nicht nur vor ihm, auch vor der Welt. Diese Angst hat er mir mitgegeben. Er wollte immer, dass ich die Welt durch seine Augen sehe. Nur seine Ansicht ist die richtige, da war kein Platz für die Gefühle anderer. Diesen Platz gibt er mir jetzt in der Isolation noch weniger als früher.

Privatsphäre kennt mein Vater nicht. Wenn ich meine Zimmertür verschließe, kommt er rein, ohne vorher zu klopfen. Wenn ich meine Zimmertür zusperre, macht er eine Szene.

Wieso sperrst du zu?

Was hast du zu verheimlichen?

Willst du keine Zeit mit mir verbringen?

Warum gehst du mir aus dem Weg?

Was tust du wirklich?

Er löchert mich mit Fragen, bis ich nicht nur keine Antwort mehr weiß, sondern ernsthaft verunsichert bin, ob er doch Recht hat. Vielleicht ist es wirklich ungerecht von mir, dass ich ihn meide? Er ist der manipulativste Mensch, den ich kenne.

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Meine Mutter hat versucht, das Gegenstück zu seiner cholerischen Art zu sein. Sie hat mich immer in Schutz genommen, sich immer liebevoll um mich gekümmert. Sie hat in jede angespannte Situation Leichtigkeit gebracht, so gut es eben ging. Es zerrt an meinen Nerven, meine Mutter so gestresst und am Ende zu sehen. Die Situation belastet sie mehr als mich. Ich möchte aber auch nicht daran kaputt gehen. Ich will einfach nur, dass mein Vater aus meinem Leben verschwindet.

Mein Vater ist wie ein Schatten, der jeden meiner Schritte und jede meine Entscheidungen hinterfragt und als falsch empfindet. Jedes einzelne Gespräch, das ich mit ihm führe, muss ich vorher durchdenken. Selbst eine zufällige Begegnung in der Küche muss ich planen. Warum möchte ich heute nicht mit ihm zu Mittag essen? Jedes Wort muss sitzen. Ich darf nicht zu viel sagen, aber auch nicht zu wenig. Ich darf nicht zu wütend wirken, aber auch nicht zu desinteressiert.

Wenn ich mich seinetwegen schlecht fühle, erfinde ich Kopfschmerzen. Ich kann ihm nicht sagen, dass er der Grund für meine Traurigkeit ist. Das würde er nicht hinnehmen. Wenn ich erkläre, warum ich meine Zimmertür geschlossen habe, lüge ich. Ich sage das, was er hören will, um mich in Ruhe zu lassen. Es ist die Willkür seiner Wutausbrüche, die mir die meiste Angst macht. Er versteht nicht, warum ich Distanz zu ihm brauche. Keine Erklärung ist ihm Erklärung genug.

Ich bin müde von den Erklärungsversuchen, deswegen gehe ich ihm in unserer kleinen Wohnung aus dem Weg, so gut es geht. Während meine Mutter und ich den Kontakt zu ihm meiden, will er nichts anderes, als uns bei sich zu haben. Er akzeptiert nicht, dass er krank ist und Hilfe braucht. Dass hat ihn zu einem schlechten Ehemann und Vater gemacht. Aber in seiner Wahrnehmung haben sich alle gegen ihn gerichtet. Er ist das Opfer. Nicht wir.

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