Popkultur

'Plötzlich arm, plötzlich reich' und Co.: Wenn Reality-TV zu weit geht

Fünf Beispiele, die Lebensrealitäten im Namen der Unterhaltung ausbeuten.
Vor einem Hintergrund mit Fernsehern steht Vera Int-Veen in der linken Ecke und Heidi Klum in der rechten Ecke, in der Mitte steht Ikke Hüftgold der Sat.1 beschuldigt mit dem Reality-TV Format Plötzlich reich plötzlich arm zu weit zu gehen.
Hintergrund: IMAGO / China Foto Press | Klum: IMAGO / Runway Manhattan | Int-Veen: IMAGO / Eventpress | Distel: IMAGO / Future Image

Manchmal ist es sehr angenehm, Leuten zuzusehen, die andere Probleme haben als man selbst. Sonnenbrand in Thailand, zu warmer Sekt, Streit zwischen C-Promis. Vor allem in den vergangenen Lockdowns war Reality-TV Alltagsflucht und Ablenkung. Doch Formate, die sich ständig an der Grenze des Sagbaren bewegen, laufen Gefahr den Drang zu unterhalten über die Würde der Kandidatinnen zu stellen. Dann verwandelt sich unsere Alltagsflucht schnell in Menschenverachtung und Ausbeutung.

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Zu diesem Schluss kam auch Matthias Distel, bekannt als Ikke Hüftgold. Letzte Woche prangerte er in einem Video auf Instagram die "gewissenlose Quotenjagd" von Sat.1 "auf dem Rücken missbrauchter Kinder" an. Es ging um das Format Plötzlich arm, plötzlich reich von Sat.1, bei dem Ikke Hüftgold selbst Wohnung und Alltag mit einer anderen Familie hätte tauschen sollen. 


Auch bei VICE: Was kostet es, einen Vergewaltiger vor Gericht zu bringen?


In einem Genre, das mit Skandalen liebäugelt, hagelt es geradezu menschenverachtende Inhalte, deshalb wäre nicht überraschend, wenn die Vorwürfe sich als wahr herausstellten. Wir nehmen Ikke Hüftgolds Instagram-Ausbruch zum Anlass, um zu dokumentieren, welchen inhumanen Blödsinn, die Trash-TV-Branche in den letzten Jahren ausgespuckt hat. In welchen Formaten wurden in den letzten Jahren Menschen herabgewürdigt oder Lebensrealitäten ausgebeutet im Namen der Unterhaltung? Klar, Reality-TV will übertrieben oder geschmacklos und kitschig sein. Wenn Übertreibung aber umschlägt in Diskriminierung oder Menschenverachtung, dann wird Gewinn generiert auf Kosten der Teilnehmerinnen und Kandidaten. Wir haben die Sendungen gesammelt, die in den letzten Jahren genau das gemacht haben.

Promis unter Palmen: Alkoholismus und Mobbing als Lachnummer

Auf Instagram hat Alkoholismus Meme-Potential und ist relatable. Claudia Obert, die man vor der Kamera häufig trinken sieht, passt da perfekt rein. Das merkte auch der Sender Sat.1. Denn nicht nur in Instagram-Meme-Formaten ist sie beliebt. Sie sorgte letztes Jahr auch bei Promis unter Palmen für gute Einschaltquoten. Das endete dann jedoch in einer Strafanzeige gegen den Sender und die verantwortliche Produktionsfirma. Claudia Obert wurde innerhalb der Show so sehr erniedrigt, dass sie ausstieg. Sie wurde beleidigt, man verweigerte ihr Essen und zog ihr vermeintliches Alkoholproblem ins Lächerliche. 

Für den Sender schien das nicht schlimm genug, um während der Dreharbeiten einzuschreiten. Erst einige Tage nach der Ausstrahlung nam Sat.1 die Mobbing-Episode aus der Mediathek.

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Der Sender scheint nichts aus dem Skandal gelernt zu haben, denn auch dieses Jahr kam es bei Promis unter Palmen zu einem Eklat. Marcus Prinz von Anhalt richtete diskriminierende Aussagen gegen die Dragqueen und Unternehmerin Katy Bähm.

'Germany's Next Topmodel': Models klagen sich aus Verträgen

Wenn man als angehendes Topmodel wochenlang Demütigungen, Zickereien und alte, faltige Fotografen, die den eigenen minderjährigen Körper angeiern, über sich ergehen lässt, winkt nach dem Sieg bei Germany's Next Topmodel ein Vertrag mit der Agentur ONEeins fab.

Heidi Klums Vater, Günther Klum, ist Geschäftsführer der Agentur. Schon mehrere Ex-Kandidatinnen der Castingshow haben sich aus dem Vertrag geklagt. Darunter Elena Carriere, die zweitplatzierte der elften Staffel, Jana Beller, Gewinnerin der sechsten Staffel oder Alisar Ailabouni, Gewinnerin der fünften Staffel. Von den bisherigen Gewinnerinnen steht heute laut Agentur-Webseite nur noch Toni Dreher-Adenuga bei ONEeins fab unter Vertrag. Wie verschiedene Models berichteten, zahle die Agentur lediglich ein festes Monatsgehalt, alle Verdienste darüber hinaus blieben bei der Agentur. Außerdem seien Jobs ohne die Zusage des Models abgesagt worden, sagt Anna Lena Schubert aus der sechsten Staffel.

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Dieses Jahr endete allerdings die Kooperation zwischen Günther Klum und Germany's Next Topmodel. Die diesjährige Gewinnerin wird nicht von ONEeins fab vertreten. Woran das liegt, gibt Pro 7 nicht bekannt.

Schwiegertochter gesucht: Die große Liebe gegen öffentliche Demütigung

Robin, der einsame Eisenbahnfreund. So wird ein Kandidat beim Format Schwiegertochter gesucht von RTL vorgestellt. In einem Video werden Interessentinnen dazu aufgefordert, sich zu melden. Eine Freundin zu finden, wäre für ihn das größte Glück auf Erden, sagt Robin im Einzelinterview. Beim Anschauen des Clips kann man sich vorstellen, wie jemand bei RTL sich die geldgeilen Hände reibt, denn Robin ist die perfekte Mischung aus unbeholfen und schräg. Er ist in seiner Unbeholfenheit so sympathisch, dass der Zuschauer sich ein Happy End für ihn wünscht, und verhält sich dabei trotzdem absurd genug, dass sich die Zuschauerin ihm überlegen fühlen kann. Er scheint fast inszeniert, so perfekt ist Robin.

"Kann es sein, dass jemand einen gefälschten Kandidaten bei Schwiegertochter gesucht eingeschmuggelt hat, nur um zu dokumentieren was RTL und Vera Int-Veen seit zehn Jahren für eine Scheiße mit Menschen abziehen, die sich nicht wehren können?", fragt Jan Böhmermann. Das Neo Magazin Royale hat sich Robin und seinen Vater Rene ausgedacht. Mit Kameras, die ein Team in Renes und Robins vermeintlichen Zuhause angebracht hat, zeigt die Show, mit welchen Methoden der Privatsender das Maximum an Peinlichkeit aus den Protagonisten herausholt. Robin werden Statements vorgesagt und so Tatsachen verdreht. Ein mögliches Alkoholproblem von Robins Vater wird von den Redakteurinnen ignoriert. Vater und Sohn sollen eine eidesstattliche Versicherung unterzeichnen, um zu bestätigen, dass sie nicht geistig beeinträchtigt sind. Für die bis zu dreißig Drehtage und die öffentliche Demütigung werden die beiden dann jeweils mit 150 Euro Aufwandsentschädigung entlohnt. 

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Nach Offenlegung des menschenverachtenden Produktionsprozesses vereinbarte die Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) mit RTL neue Regeln für das Format. Welche das genau sind, wurde nicht offengelegt. Auf ein offizielles Prüfverfahren gegen Schwiegertochter gesucht verzichtete die NLM.

M.O.M. – Milf oder Missy: Was Altes? Was Junges? Was Objektivierendes! 

"Was Altes? Was Junges? Was Neues!", so warb der Streaming-Dienst Joyn letztes Jahr für die neue Datingserie M.O.M – Milf oder Missy. Dabei daten sich zwei Männer, ein "gereifter Senior" und ein "knackiger Junior", wie Joyn sie beschreibt, durch Frauen verschiedenen Alters. Es reichte nicht, dass der Werbeslogan Dating mit dem Kauf eines neuen Küchengeräts oder einer neuen Waschmaschine gleichsetzt. Das Akronym "Milf", das für "Mother I'd Like to Fuck" steht und Frauen auf ein Objekt der sexuellen Begierde reduziert, war auf jedem Werbeplakat. Daraufhin gingen 111 Beschwerden beim Werberat ein. Wie es so oft bei solchen Skandalen der Fall ist, wurde auch hier wenig unternommen. Der Name der Show wurde geändert, die Aufnahmen des Sprechers neu synchronisiert und der Begriff "Milf" aus der Werbung entfernt. Am ursprünglichen Konzept, wurde jedoch trotzdem festgehalten und M.O.M. – Die neue Datingshow wurde trotzdem ausgestrahlt.

Plötzlich arm, plötzlich reich: Gewissenlose Quotenjagd

Ikke Hüftgold, der sich sonst mit Perücke, Jogginganzug und guter Laune präsentiert, zeigte sich vergangene Woche den Tränen nahe in einem Instagram-Video. Der Anlass war die Sendung Plötzlich arm, plötzlich reich, für die er an einem Dreh teilgenommen hat. Der Ballermann-Star musste den Dreh allerdings abbrechen, als ihm beim Erkunden der Tauschwohnung die Tränen kamen. In einem Video, das Hüftgold am Montag der vergangenen Woche auf Instagram gepostet hat, sagt er, dass sich die zwei jüngsten Kinder sowie die Mutter in psychologischer Behandlung befänden. Die Produktionsfirma streite aber ab, davon gewusst zu haben.

Ikke Hüftgold sagt im Video: "Sofort kam die Frage bei uns auf, ob man Kinder im Alter von acht und zehn Jahren, die offensichtlich psychische Probleme haben, rechtlich und moralisch gesehen in ein Fernsehformat ziehen kann." 

Sat.1 will die Folge nun nicht ausstrahlen. Trotzdem ging Ikke Hüftgold noch einen Schritt weiter. Er sagte vor der Polizei Limburg aus und erstattete Strafanzeige, berichtet DER SPIEGEL.

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