Eine Frau macht im Gegenlicht einen Schritt als Teil eines 24 Stunden Spaziergangs
Fotos: Franziska Lange
Menschen

Ich war 24 Stunden spazieren

... um alles aus dem Lockdown herauszuholen – als es noch ging.
In dieser Serie berichten wir über das Lockdown-Leben: Über Stimmungen und Hoffnungen und über alles, was wir vermissen.

In den sozialen Medien fordern immer wieder Leute, dass Spazierengehen olympisch werden soll. Und zu einem gewissen Punkt teile ich diese Auffassung. Nach über einem Jahr Pandemie sollten wir einen deutlich größeren Bewegungsanspruch haben, als jeden Tag nur eine Viertelstunde um den Block zu gehen. 

Ich fasse also den Plan, 24 Stunden spazieren zu gehen, um Frieden zu schließen mit der Lockdown-induzierten Hoffnungslosigkeit. Um meine Frustration in fünfzigtausend Schritte und einen viel zu langen Spaziergang zu stecken.

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Es ist 8:30 Uhr und der letzte Tag im März. Weil ich nicht will, dass der Verdacht aufkommen könnte, dass ich gar nicht spaziere, sondern wandere, entscheide ich mich für schlechtes Schuhwerk. Nämlich Chucks. Und damit auch niemand mein Vorhaben mit einer Pilgerreise verwechseln kann, möchte ich betonen, dass meine Hoffnung und mein Antrieb immer noch im August 2020 vor irgendeiner Bar hocken, sich Aperol Spritz reinpfeifen und über die Hitze beschweren.


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Es ist sonnig, als ich mein Viertel in Berlin verlasse und einer Hauptstraße ein Stück folge und dann in eine Seitenstraße einbiege. An jeder Kreuzung stehen Leute mit Rucksäcken. Sie wippen nervös hin und her. Ich frage mich, wo sie wohl zu sein haben und ob sie schon zu spät sind. Ich habe nirgendwo zu sein. Es gibt nur die Schrittzähler-App und mich und viel zu viel Zeit.

Ich hole ein Brötchen zum Frühstück in einer Bäckerei und verbiete mir, Kaffee zu trinken. Den trinke ich erst, wenn ich richtig müde werde. Ich wähle Routen durch Seitenstraßen, die ich normalerweise nicht gehen würde. Ich gehe im Kreis, mal drehe ich um. Am Kanal setze ich mich hin und schaue mir die Fahrräder an, die ein paar Meter entfernt angeschlossen sind. Ein Tinderdate hat mir mal erzählt, welche Schlösser am einfachsten zu knacken sind und wie ich mein Fahrrad anschließen soll, damit es niemand klaut. Ich habe in meinem Leben bisher nur ein Cocktailglas geklaut und war deshalb irgendwie fasziniert von dem Wissen. Von weitem versuche ich auszumachen, ob die Fahrräder richtig angeschlossen sind. Dann schaue ich in die Sonne, bis mir die Augen wehtun.

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Eine Frau geht mit der Sonne im Rücken einen Weg entlang

Nach einer Weile bleibe ich stehen. Auf der anderen Straßenseite spielen ein paar Männer Basketball und ich schaue ihnen dabei zu. Ich weiß nicht warum, aber ich muss an einen Abend nach einem Sportfest denken. Ein paar Jungs, die meine Grundschulklasse besuchten, snifften neben dem  Sportplatz Aromat, ein Gewürz und vielleicht das Beste, was die Schweizer Kultur zu bieten hat. Das fand ich als Neunjährige so blöd und cool, dass ich ein bisschen neidisch war auf so viel Mut. Spazieren ist Ablenkung und die Erlaubnis an Dinge zu denken, die nicht so wehtun, wie die Kurve der Neuinfizierten. Die Männer auf dem Basketballplatz schwitzen und schauen mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne. Vielleicht würden sie mich mitspielen lassen, wenn ich frage.

Ich komme zu einem Kanal. Meine Großmutter und ich sprechen am Telefon über ihr Mittagessen und, dass sie bald geimpft wird. Ich frage sie, welchen Impfstoff sie bekommt, so wie man nach einer Handy- oder Sneakermarke fragt, kennerhaft. Moderna. Cool. Das Wetter ist schön und wir sind so gut gelaunt, dass ich dem Frühling fast glaube, dass er endlich da ist.

Seit die Pandemie angefangen hat, denke ich mehr darüber nach, wie Dinge waren oder wie sie sein könnten, als wie sie sind. Deshalb spaziere ich wahrscheinlich, um mich mit allem zu befassen, was nicht Jetzt ist, um für eine Weile die Lücken zu füllen.

In einem Park treffe ich auf einen Mann mit sechs verschiedenen Papageien auf dem Lenker und Sattel seines Fahrrads. Mit Seilen, die an der Kralle eines Aras befestigt sind, übt er das Fliegen mit dem Vogel. Dafür wirft er den Vogel in die Luft und rennt neben ihnen her, während sein Papagei über den Boden gleitet. 

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Weil ich die ersten Stunden Gehen schon in meinen Beinen spüre, setze ich mich hin und schaue ihnen dabei zu. Der Mann verliert während des Rennens fast seine Hose. 

Eine Frau schwingt ihre Tasche durch die Luft

Im Sommer war ich hier fast jeden Tag, obwohl der Park gesäumt ist mit Bäumen, auf die ich sehr allergisch bin. Aber es ist schon lange nicht mehr Sommer. Ich schaue mich um, als müsste ich sicherstellen, dass alles noch da ist, oder den Häusern und Straßenecken versichern, dass ich auch noch da bin.

Obwohl meine Oberschenkelmuskeln noch etwas wehtun, stehe ich wieder auf. Mein Vater ruft mich an, um zu fragen, wie es mir geht. Er findet mein Vorhaben lustig, aber versteht nicht ganz, warum ich mir das antue. Ich mittlerweile auch nicht mehr.

"Ich sag dir, was du hören sollst: 'Penso Positivo' von Jovanotti."

Ich stampfe also Richtung Kottbusser Tor. Jovanotti fordert mich dazu auf, positiv zu denken, und ich mache genau das Gegenteil. Ich habe erst acht Stunden hinter mir.

Die Straßen sind voll und ich schwitze unter meiner FFP2-Maske. Zurück in meiner Nachbarschaft gehe ich absichtlich auf der Straßenseite, auf der ich normalerweise nicht gehe. Statt mit Urlaub für Abwechslung zu sorgen, gehe ich ausnahmsweise mal auf der anderen Straßenseite.

Auf einer Wiese sitzen Leute zufrieden in Gruppen. Ich setze mich dazu. Es ist nicht mehr so warm, aber wir wollen einander beweisen, dass wir es noch können. Sorglos sein, in die Sonne blinzeln. Es ist so idyllisch, wie Rom-Coms die in L.A. spielen. Manchmal stelle ich mir vor, wie mein Leben in L.A. wäre. 

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Eine Frau sitzt in der Mitte einer Straße

Mein Leben in L.A. ist einfach. Es wurde mir nämlich schon vorgelebt. In Filmen. Dort ist es sonnig und ich lasse mir alles absaugen, verkleinern und weglasern. Bis wieder nur noch so viel von mir übrig ist, dass ich in die Lackschuhe reinpasse, die mir meine Tante zum sechsten Geburtstag geschenkt hat. Da war alles einfacher. 

Es ist dunkel und wieder so kühl, dass ich mir den Schal um den Kopf wickeln muss. Ich bin etwa zwei Kilometer entfernt von meiner Wohnung. Nachts halte ich mich an die Hauptstraßen. Hier bin ich nie alleine. Angst habe ich keine. Aber ein Unbehagen und das Wissen, dass ich ernst schauen muss, wenn ich an Männergruppen vorbeigehe. Meine Beine sind schwer, ich will mich einfach nur hinsetzen.

Ein Typ spricht mich an: "Magst du mir deine Nummer geben? Ich will mal mit dir abhängen. Was machst du am Wochenende? Ich hätte Zeit." Er scheint nervös, ich habe Mitleid und gehe trotzdem weiter.

Eine Frau geht über einen Parkplatz

Zwischen Logistikfirma, Haustierfachhandel und einer Autowaschstraße liegt "Angie's Line Dancing" und ich stelle mir vor wie Angies Tanzschüler im Asia Imbiss daneben Wantan-Suppe essen oder bei Curry Pelle Wurst und Pommes.

Ich bleibe in meiner Gegend. Hier fühle ich mich wohler nachts. Hier ist es weniger dunkel, weil ich weiß, wie alles aussieht. Während ich die Hauptstraße entlang einer U-Bahn-Linie hoch und runter gehe, merke ich, dass es sie nicht mehr gibt. Die Ferne. In Zeiten der Distanz ist meine Welt zusammengefallen auf alles, was mir am nächsten ist. Ich möchte, dass mir mal wieder etwas komplett fremd ist. 

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Um mich etwas aufzuwecken, gehe ich im Takt zu 2000er-Hits. "Hotel Room Service" zum Beispiel. Ich frage mich, was ich machen würde, wenn Pitbull mich ins Holiday Inn oder ein Motel einlädt, anstatt gemeinsam die Penthouse Suite im Ritz Carlton zu trashen, wie es sich für einen Weltstar gehört.

In einem Bushäuschen setze ich mich hin. Ich schließe die Augen kurz, obwohl ich weiß, dass ich hier nicht einschlafen sollte. Es fühlt sich an, als würden alle meine Gliedmaßen erleichtert seufzen. Früher, als wir im Urlaub nach Italien fuhren, hörte ich die Autos neben uns vorbeirauschen. Vorne stritten sich meine Nonna und mein Vater über den Papst. Ich höre die S-Bahn und die Autos, die an mir vorbeifahren. Ich nippe an einem Kaffee aus der Dose, den ich mir gestern in die Tasche gepackt habe, und zwinge mich wieder aufzustehen, bevor es auf der Bank zu gemütlich wird. 

Ich telefoniere in letzter Zeit immer wieder mit Freunden. Wir haben einander nicht viel zu erzählen und ich sage: "Wir telefonieren Samstag wieder, oder? Bis dahin erlebe ich etwas und dann erzähle ich es dir, OK?" Und dann gehe ich 24 Stunden spazieren, aber es passiert nichts. 

Ich trinke einen Kaffee, den ich nicht spüre. Ich sitze auf einem Platz vor meinem Haus und weiß, dass das der beste Ort auf der Welt ist. Hier fand vor ein paar Wochen ein Dreh statt. Ein Laden gegenüber von mir wurde äußerlich zu einer Spielothek verwandelt. Als ich dann auf den Platz kam, war ich verwirrt, weil es mir schien, als wäre ich kurz in ein anderes Leben gestolpert.

Frau steht vor einer Bäckerei und pustet in ihren Kaffee

Nach 24 Stunden zurück im Jetzt, schließe ich meine Haustür auf. Ich setze mich auf meine Bettkante und weiß, dass ich wohl nie wieder aufstehen will. Meine Schuhe hinterlassen rote Abdrücke auf meinen Füßen. Irgendwie bin ich zufrieden mit mir selbst. 

Bei einem Spaziergang bin ich in Kontrolle. Ich entscheide, wo ich abbiege, wo ich mich hinsetze, ob ich Kaffee trinken will oder die Hände hinter meinem Rücken verschränke beim Gehen. 24 Stunden fühle ich mich gar nicht so machtlos. Ich stelle mir andere Realitäten vor. Mein Sommerurlaub als Kind, mein potenzielles Leben in L.A., Basketball spielen als 13-jährige, Linedancing bei Angie, Pitbull und ich unzufrieden im Holiday Inn. Corona zwingt mich zu flüchten, in Vorstellungen und Erinnerungen, die nicht so dicht an mir dran sind wie das Heute. Wenn die Gegenwart schon nicht uns gehört, dann hoffentlich alles andere. 

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