Ein Mann berührt durch einen Zaun hinweg ein Kind mit Atemschutzmaske.
Foto: imago images | photothek
Coronakrise

Europa sollte jetzt unbedingt Geflüchtete aufnehmen – und zwar alle

Deutsche wurden aus dem Urlaub zurückgeflogen, aber Geflüchtete warten in Moria noch immer auf Hilfe. Grenzforscherin Sabine Hess erklärt, wie Grenzen Menschen in zwei Klassen einteilen – und wie wir das ändern können.
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#flattentheborders ist eine Initiative von VICE für weniger nationalen Egoismus und mehr globale Empathie

Man könnte meinen, die Coronakrise betrifft jeden Menschen gleich. Dem Virus ist es egal, welche Hautfarbe man hat oder wie man liebt. Dem Virus ist auch egal, ob du in Italien lebst oder in Deutschland. Der Virus ist da und wenn ein Mensch ihm im Weg steht, dann setzt er sich ihm in den Hals.

Und doch macht diese Krise Grenzen sichtbar. Menschen, die in Ländern mit einem schlecht finanzierten Gesundheitssystem leben, sind einem viel größeren Risiko ausgesetzt als zum Beispiel Menschen in Deutschland. Es trifft wie so oft die am stärksten, die eh schon am schwächsten sind. Das sieht man auch an folgendem Beispiel: Deutsche werden aus ihren Urlaubsdestinationen in der ganzen Welt in modernen Flugzeugen nach Hause gebracht – in Sicherheit. Und Geflüchtete, ob in Moria oder in Ellwangen, müssen ausharren, eingesperrt und im schlimmsten Fall auch krank.

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Für das Projekt #flattentheborders haben wir mit Sabine Hess, Professorin für Migration und Grenzregimeforschung, gesprochen und sie gefragt, woran das liegt. Seit 2018 ist sie Direktorin des Centers for global Migration Studies und forscht an der Universität Göttingen unter anderem zu Migration und Grenzregimen. Wir haben sie gefragt, wieso wir ausgerechnet in Krisen unsere Grenzen schließen, warum der Nationalismus erstarkt – und warum das eigentlich alles ein großer Fehler ist.

VICE: In der Corona-Krise hat Deutschland ganz selbstverständlich Deutsche aus dem Urlaub zurückgeholt, aber kaum Geflüchtete aufgenommen, die in großer Not auf griechischen Inseln auf Einreise hoffen. Warum helfen wir in dieser Krise zuerst unseren Mitbürgerinnen?
Sabine Hess: Wer ist dieses "Wir"? Ich würde mich da gerne ausnehmen. Und das tun auch viele andere, lautstark und mit viel Protest, weltweit. Ich halte das nicht für normal.

Für die Bundesregierung ist es anscheinend normal. Nicht nur für die deutsche, sondern für alle Regierungen dieser Welt. Es ist die derzeit gängige Praxis, sich erst einmal um Mitbürger zu kümmern.
Hier zeigt sich ein nationaler Protektionismus der Regierungen. Aber auch viele Menschen wissen, dass sie etwas zu verlieren haben, vor allem wir Europäer. Es geht darum, Reichtum zu verteidigen. Viele denken, ihr Reichtum, ihr gutes Leben, stünden ihnen automatisch zu, zum Beispiel, weil sie einen deutschen Pass haben.

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Ich erlebe durch diese Krise zum ersten Mal in meinem Leben geschlossene Grenzen. Warum fallen wir ausgerechnet in Krisen in den Nationalismus zurück – hätte es nicht eine europäische, gar eine weltweite Strategie geben können? Diese Krankheit befällt doch alle Menschen gleich.
Na ja, zunächst, der Nationalismus ist keine Krankheit, sondern eine politische Strategie. Er stellt eine einfache und für viele anscheinend plausible Antwort bereit. Auch für Politiker. Mit Nationalismus lassen sich Wahlen gewinnen. Und Corona ist eigentlich nur das i-Tüpfelchen. Wir leben immer noch in einer Welt von Nationalstaaten. Diese Pandemie hat deutlich gemacht, dass die EU noch lange nicht krisenfest ist. Vor ein paar Wochen wurde die Bundesregierung dafür kritisiert, nur 50 Kinder aus den Geflüchtetenlagern nach Deutschland zu holen. Wie bewerten Sie das?
Ich frage mich, wie die, die da nur 50 Kinder rausgeholt haben, morgens noch in den Spiegel schauen können. Das im Angesicht dieser hausgemachten Massentragödie als humanitäres Handeln darzustellen, ist eine Frechheit.


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Sollten wir gerade jetzt diese Menschen nach Deutschland beziehungsweise in die EU holen?
Ja! Corona zeigt: Alles ist möglich, wenn Staaten nur wollen. Sie haben Geld, sie haben die Kapazität, deutsche Bürger aus ihrem Urlaub zurückzuholen. Deshalb gibt es keinen Grund, Geflüchtete nicht aufzunehmen. Auch wenn es 20.000 sind, die in Moria ihr Dasein fristen müssen, konzentriert an einem Ort der Unmenschlichkeit.

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Wer weiß, wie schlecht es den Geflüchteten in deutschen Geflüchtetenunterkünften geht, sieht: Die Ungleichbehandlung geht in Deutschland weiter. Ein Mensch in einer Massenunterkunft ist anscheinend weniger wert als ein Mensch in einem Einfamilienhaus.
Ja, es geht nicht nur um Camps auf griechischen Inseln. Es geht auch um Bayern oder Niedersachsen. Überall, wo Menschen auf engem Raum untergebracht sind, in Sammelunterkünften, in Lagern, sind das sozial oder rassistisch stigmatisierte Menschen. Und genau da sind die Seuchenherde.

Man muss nicht links sein, um zu sagen, dass man Geflüchtete aufnehmen kann. Man muss es nur wollen.

Es müsste jetzt die erste gebotene Maßnahme sein, diese Menschenkonzentrationen aufzulösen. Zum Beispiel, in dem man sie in leerstehenden Hotels umquartiert. Es mangelt ja nicht an Unterbringungsmöglichkeiten. Es fehlt nur der Wille.

Das heißt: Selbst wer es nach Deutschland geschafft und die sichtbare Grenze überwunden hat, ist nicht gleich viel wert. Er wird anders behandelt.
Oh, ja. Auch wenn wir geglaubt hatten, dass die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges eine Welt ohne Grenzen bringt, eine globalisierte Welt, müssen wir eher feststellen, dass Grenzen wieder hochgezogen werden. Wir leben in einer Zeit von massivem Nationalismus, Protektionismus und Egoismus. Von uns erfordert das eine neue Vision des Sozialen. Wir müssen uns fragen, wie sich Reichtum in einer Gesellschaft anders verteilen lässt.

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Wenn ich an Grenzen denke, denke ich an Mauern und Zäune. Was ist für Sie als Grenzforscherin eine Grenze?
Grenzen sind schon lange keine Linien mehr. Grenzen sind immer weniger Staatsgrenzen. Sie stecken in Technologie, in Biometrie, in Kontrollmechanismen. Die EU hat nach außen hin einen riesigen, mehrlagigen Schutzwall aufgebaut. Natürlich gibt es auch immer noch den Aufbau von festen Grenzen, Aufrüstung an der eigenen europäischen Grenze zum Beispiel. Aber vor allem spreche ich von Grenzräumen, von Grenzregimen. Die reichen bis in die Herkunftsregionen von Migrantinnen und Migranten, weit ins Territorium anderer Länder hinein.

Zum Beispiel sieht man das daran, dass Deutschland in afrikanischen Staaten wie Mali oder Niger Polizei- und Militärkräfte ausbildet. Auch das ist Grenzpolitik. Das dient offiziell der Terrorismusbekämpfung, aber das ist vor allem auch eine Migrationskontrolle vor Ort. Die ganze Sahelzone wurde zu einer tödlichen Zone, weil die Routen dort stärker kontrolliert werden. Das ist extraterritoriale Migrationskontrolle, und die hat eine sehr lange Geschichte.

Unsere deutsche Wirtschaft ist abhängig von billiger, leicht auszubeutender Arbeitskraft. Das sehen wir im Pflegesektor, das sehen wir auf dem Schlachthof, das sehen wir auf den Spargelfeldern.

Eine Grenze teilt die Welt also nicht nur in Staaten ein, sondern die Menschen in unterschiedliche Klassen?
Ja. Wir sprechen von der "globalen Mobilitätshierarchie". Nehmen wir die Einreisemöglichkeiten: Die Bürgerinnen und Bürger der meisten afrikanischen Staaten können nur in etwa acht Prozent aller Länder einreisen. Deutsche Bundesbürger können problemlos nahezu in alle anderen Länder einreisen – außer Nordkorea. Oder US-Bürger, die bekommen ein Visum einfach so am Flughafen. Afrikanerinnen und Afrikaner müssen immer erstmal beweisen, dass sie nicht einwandern wollen. Diese Muster stammen noch aus der Zeit des Kolonialismus, es sind uralte Muster, die wir heute aber immer noch sehen. Und sie führen zu globalen Ungleichheiten. Dahinter stecken Leistungschauvinismus oder auch Leistungsrassismus.

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Was ist Leistungschauvinismus?
Leistungschauvinismus bedeutet: Ich habe etwas geleistet, also habe ich das verdient. Wer leistet, wer mitmacht, der ist ein legitimer Teil der Gesellschaft. Zum Beispiel durch Arbeit. Und alle anderen, die sind nicht willens oder nicht fähig. Sie sind "Schmarotzer". Leistungsrassismus führt also dazu, dass ein Geflüchteter, der erstmal nur Schutz sucht, aber nicht produktiv ist, besser: nicht produktiv sein darf, als weniger wert wahrgenommen wird?
Ja. Leistungsrassismus ist ein Verständnis von einer Gesellschaft, zu dem auch Selektion gehört. Und dann kommt möglicherweise die Denke hinzu, dass diese Menschen schon allein aus biologischen, genetischen Gründen diesem Leistungsideal angeblich nicht dienen können. Da kommen Nationalismus und Rassismus zusammen. Aber auch ein typisches Nach-unten-Treten, der sogenannte Fahrradfahr-Effekt. Man tritt nach unten, um sich selbst besser zu fühlen. Dieses Gedankenkonstrukt ist natürlich brüchig. Das erkennt man jetzt zum Beispiel daran, wie leicht es doch trotz der Krise war, Erntehelfer nach Deutschland zu holen. Trotz geschlossener Grenzen. Was ist in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen einer Erntehelferin und einer Geflüchteten?
Hier geht es wirklich nur um die Frage des wirtschaftlichen Nutzens. Unsere deutsche Wirtschaft ist abhängig von billiger, leicht auszubeutender Arbeitskraft. Das sehen wir im Pflegesektor, das sehen wir im Schlachthof, das sehen wir auf den Spargelfeldern.

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Wir können unsere Grenzen eben doch nicht ganz schließen, sondern die Politik und Wirtschaft wählt aus, wen wir reinlassen, um uns selbst erhalten zu können. Wir sind von der Leistung dieser Arbeitskräfte abhängig. Gibt es eine Alternative zum Nationalismus? Wie sieht eine Zukunft ohne Grenzen aus?
Wir müssen uns fragen, wie sich eine Gesellschaft und wie sich Sicherheit organisieren lassen in einer vernetzten Welt. Der Gedanke einer europäischen Gemeinschaft war ja ein antifaschistisches Projekt nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die EU ist vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft geworden, ohne sozialen und demokratischen Unterbau.

Viele Bürger und Initiativen machen es vor. Wir brauchen transnationale Netzwerke. Die Zivilgesellschaft ist den Staaten weit voraus. Zum Beispiel die Seebrücken-Bewegung und die Städte, die bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen, unabhängig davon, was eine nationale Regierung vorgibt. Einzelne Bürgermeister, in Deutschland auch von der CDU, haben Briefe geschrieben, die wollen helfen. Man muss nicht links sein, um zu sagen, dass man Geflüchtete aufnehmen kann. Man muss es nur wollen.

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