Menschen

Wie ich lernte, meine Schüchternheit zu lieben

Auch du solltest viel weinen, zu viel trinken und dich in Grund und Boden schämen.
Die Autorin sitzt auf dem Boden und schaut hoch zur Kamera, was illustrieren soll, dass sie sich ganz klein fühlt, wenn sie schüchtern ist
Foto: Maja Dworzynski

Mit 15 habe ich gedacht, meine Rolle sei die der Statistin. Dass andere Leute Dinge erleben und ich nur dabei zuschaue. Wenn ich dann doch mal einen Schluck Wodka-Orangensaft trank oder der Typ, in den meine beste Freundin verliebt war, mir eine Frage stellte, dann schien das falsch. Es fühlte sich an wie ein Versehen, als hätte das Universum kurz nicht hingeschaut. Ein Glitch im Code dieser Welt.

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Mittlerweile habe ich doch ein paar Dinge erlebt. Wodka-Orangensaft habe ich nie wieder getrunken, aber über die Jahre hat sich meine Schüchternheit verdünnt. Begegnungen mit wütenden Kunden bei meinen Gastro-Jobs, das Wissen, dass es Dinge gibt, die ich gut kann, und meine Lieblingsschuhe, von denen ich mindestens drei Paare kaputt gelatscht habe: All das schrumpfte meine Schüchternheit zu einem kleinen Krümel irgendwo in meiner Magengrube zusammen.

Doch in letzter Zeit finde ich mich immer in Situationen wieder, in denen meinen Schüchternheit wieder anschwillt. Unsicherheit ist nicht etwas, was ich verlerne. Sie kommt in Wellen und gerade ist sie wieder da. Vielleicht weil sich seit Corona alles außerhalb meiner vier Wände etwas fremder anfühlt. Und jetzt zittere ich manchmal wieder und laufe wieder öfter rot an. Und ich frage mich, wie wir uns wieder aneinander gewöhnen sollen, die Schüchternheit und ich.


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Es gibt nämlich Situationen, da ist sie riesig. Mir fallen Wörter nicht ein und ich zittere. Oft finde ich das auch angemessen. Schließlich hat man allen Grund zu zittern, wenn man weiß, dass die Welt einen gleich mit einem Bissen runterschluckt.

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Die Schüchternheit macht sich bemerkbar, wenn ich zu einer Geburtstagsparty in einer Wohnung im vierten Stock eingeladen bin und nicht alle Leute kenne. Dann bin ich außer Atem vor Angst und mache im dritten Stock Pause, um mich zu beruhigen. Im Wohnzimmer stelle ich mich als Anna vor und klinge dabei wie eine Person, die sich ständig bei anderen vorstellt. "Anna. Hi! Freut mich", sage ich und bin dabei so einladend, dass man vielleicht glauben könnte, das wäre ein bisschen mein Wohnzimmer, mein Sofa, meine Songauswahl, die aus den Boxen dröhnt. Ich zittere ein bisschen. Aber das merkt niemand, weil ich zu laut rede für eine Person, die gerade Angst hat. Als ich den Typen, der Geburtstag hat, später in der Küche frage, ob er gemerkt hat, dass ich bei der Vorstellungsrunde die ganze Zeit innerlich geschrien habe, zieht er verwirrt die Augenbrauen zusammen und schüttelt den Kopf.

Ich fühle mich schüchtern in der erste Stunde von Dates mit Typen, die es hinkriegen, auch mal ein Gegenfrage zu stellen, im Wartezimmer von schroffen Frauenärztinnen, in Videocalls mit Arbeitskollegen oder wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich meine Nachbarn oder Bekannte auf der Straße grüßen soll.

"Jetzt geht das schon wieder los", denke ich, wenn ich den Mund aufmache in einem Arbeitsmeeting, in einer Gruppe, in der ich die Leute nicht gut kenne, beim HNO. Und ich stelle mir vor, wie sich meine Arbeitskolleginnen, zukünftigen Freunde und die Arzthelferin, die Protokoll führt, das auch denken. Ich stelle mir vor, wie wir uns gemeinsam dafür schämen, dass mein Schüchternheit so viel Raum einnimmt, so riesig ist. Ich verstehe nicht, wie sie so groß sein kann, während ich so klein bin. 

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Ich habe mal einen Typen gedatet, der traute sich nur im Kino meine Hand zu nehmen, weil es da dunkel war und wir deshalb so tun konnten, als hätte er es nicht getan. Als das Licht wieder anging, lösten sich unsere verschwitzen Hände und dann setzten wir uns in eine Bar und tranken unsere Gläser leer, bis die Schüchternheit nur noch wie ein dünner Film auf der Oberfläche des Weißweins in unseren Mägen schwamm. Und dann fühlten wir uns so wohl mit unserem Unwohlsein, dass wir auf einer dreckigen Couch in der Bar knutschen konnten.

Ich frage mich oft, ob ich wegen meiner Schüchternheit Chancen verpasse. Ich frage mich, ob ich viel mehr Freunde hätte, wäre ich anders. Jeden Morgen gehe ich an der Bar in meiner Straße vorbei und dort vor der geschlossenen Tür sitzt immer dieser Typ mit der Käppi. Und ich denke immer: Da sitzt er schon wieder wie gestern mit seiner Zigarette. Und er denkt wahrscheinlich: Da ist sie schon wieder und sie hat es wieder dabei, ihr schlecht gelauntes Gesicht. Und ich will dann gerne sagen: "Hmm, ich glaube, es ist mittlerweile fest mit mir verwachsen." Und dann würde er verständnisvoll mit seiner Zigarette wedeln. Die ist da nämlich auch ganz fest zwischen seinen Fingern. Aber das geht nicht, weil man dafür Augenkontakt machen müsste, und das finde ich ganz schrecklich.

Es fällt mir schwer zu verstehen, dass ich das bin, diese Schüchternheit. Ich selbst kenne mich doch anders. Meine erste Reaktion ist dann immer, sie von mir wegzudrücken, ihr einen anderen Ursprung zu geben als mich. Also wende ich mich an Leute, die ich mehr in der Verantwortung sehe, wenn es um meine Schüchternheit geht. 

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Ich schreibe also einem Freund eine Nachricht und frage, ob er mich als schüchtern wahrnimmt. "Äh, nein?!", kommt zurück. Und dann: "Wer sagt so was?" Ich verstehe die Verwunderung. Vor zwei Wochen habe ich vor seinen Augen in schlechtem Schulfranzösisch einem Barmann in Paris sehr überschwänglich erklärt, warum ich Pastis nicht mag. Da habe ich mich nicht schüchtern gefühlt. 

Dann frage ich sehr viele Leute, ob sie mich schüchtern finden. Es wird von allen Seiten verneint. Eine Person, die mich am Wochenende dabei beobachtet hat, wie ich in einem Studio spontan Dinge in ein Mikrofon gesagt habe, während ich mich sehr peinlich fand, schüttelt den Kopf. Das einzige, was einem "Ja" nahekommt, ist ein "Nein, aber…" von einem Arbeitskollegen, der es eigentlich besser wissen müsste, wenn man bedenkt, dass er jeden Tag bei Videocalls dabei ist, in denen ich mich sehr schüchtern fühle. Vielleicht gehört meine Schüchternheit doch mehr mir, als ich dachte. Und in anderen Köpfen geht es selten so sehr um mich wie in meinem.

Weil ich die einzige bin, die so sehr über meine Schüchternheit nachdenkt, wird es vielleicht doch Zeit, sie in meiner Persönlichkeit einzusortieren. Ich stottere und zittere, weil ich nicht gleichgültig bin. Es ist ganz angenehm zu wissen, dass mir noch nicht alles egal ist. Auch wenn das bedeutet, dass ich den Druck spüre, einen bestimmten Eindruck zu hinterlassen. Es wird Zeit, dass wir uns wohler fühlen mit unserer Peinlichkeit. Weint, trinkt zu viel, schämt euch in Grund und Boden, seid zu emotional. Das ist alles besser als Gleichgültigkeit.

Zuzugeben, dass mir das alles etwas bedeutet, ist vielleicht gar nicht so peinlich. Und wenn ich irgendwo zu spät bin, stehe ich wahrscheinlich im dritten Stock und versuche, langsamer zu atmen.

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