Vier bewaffnete Männer mit Bärten stehen an einer Straße Wache, sie gehören den Taliban an, die in Afghanistan die Macht übernommen haben; dabei ist nur schwer nachzuvollziehen, wie sich die islamistische Terrorgruppe finanziert
Mitglieder der Taliban stehen nach der erneuten Machtübernahme in Afghanistan an einer Straße Wache | Foto: Mir Ahmad Firooz Mashoof/Anadolu Agency via Getty Images
Politik

So haben die Taliban die Rückeroberung Afghanistans finanziert

2020 hatte die islamistische Terrorgruppe ein geschätztes Einkommen von 1,6 Milliarden Dollar.
Pallavi Pundir
Jakarta, ID

Als die Taliban vor Kurzem in Kabul einfielen und dort das Kommando übernahmen, liefen die Bewohnerinnen und Bewohner der afghanischen Hauptstadt plötzlich von einem leeren Geldautomaten zum nächsten. Die Preise schossen in die Höhe, die USA froren 9,5 Milliarden Dollar an afghanischem Vermögen ein und die islamistische Terrorgruppe ernannte einen obskuren Beamten zum neuen Chef der afghanischen Zentralbank, er soll sich nun um "die Probleme der Bevölkerung" kümmern.

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Über Haji Mohammad Idris, besagten neuen Chef, ist nur wenig bekannt. Seine Ernennung steht allerdings sinnbildlich für ein undurchsichtiges, aber dennoch ausgeklügeltes Finanzsystem, das sich die Taliban über die letzten zwei Jahrzehnten aufgebaut haben.

In einem der ärmsten Länder der Welt – fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze – sind die Taliban überraschend reich. Ihre finanziellen Ressourcen waren laut Expertinnen und Experten auch ein wichtiger Grund dafür, dass sie so schnell wieder die Kontrolle über Afghanistan erlangen konnten.

"Viele Leute stellen sich die Taliban als rückständige Dschihadisten vor, die in Höhlen leben und von dort aus operieren", sagt Gretchen Peters von der Organisation Center on Illicit Networks and Transnational Organized Crime (CINTOC) gegenüber VICE. "Aber das ist kompletter Unsinn."

So klar wie in einem von der NATO in Auftrag gegebenen – und 2020 geleakten – Bericht wurden die Vermögensanlagen der Taliban noch nie dargestellt. VICE konnte diesen Bericht einsehen. Auf Grundlage von Gesprächen mit Quellen innerhalb der Taliban und der afghanischen Regierung schätzt der Bericht, dass die islamistische Terrorgruppe 2020 1,6 Milliarden Dollar eingenommen hat. Wie die Autoren des Berichts schreiben, sei das ultimative Ziel der Taliban, "eine unabhängige politische und militärische Organisation" zu werden, die ohne die Hilfe von Unterstützern aus dem Ausland – egal ob Regierungen oder Einzelpersonen – überleben kann.

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Weil die Taliban nicht so etwas wie einen vierteljährlichen Finanzbericht veröffentlichen, sind die Quellen ihres Reichtums nur schwer nachzuverfolgen. Verschiedene Nachrichtenberichte deuten aber darauf hin, dass ein Großteil davon durch Bergbau, Drogenhandel und Immobilen zusammengekommen ist. Was überrascht: 15 Prozent der geschätzten Einnahmen – also mehr als 240 Millionen Dollar – sind großzügige Spenden.


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Einige dieser Spenden kommen von reichen Unterstützern aus Pakistan und dem Nahen Osten sowie von "einem Netzwerk aus Einzelpersonen, Unternehmen, Moscheen und Bildungseinrichtungen, die die Taliban finanziell unterstützen und Geldwäsche für sie betreiben". So steht es in einem Bericht des UN-Sicherheitsrats von 2019. Viele dieser Unterstützer stehen auch auf einer Liste des US-Finanzministeriums, die Gruppierungen zusammenfasst, die Terrorismus finanzieren.

"Die Golfregion bleibt für die Taliban weiterhin ein wichtiger Ort, an dem ihre Einnahmen durch den Drogenhandel in legalen Einrichtungen afghanischer Auswanderer gewaschen werden", heißt es von Seiten der Vereinten Nationen. Außerdem förderten diese Netzwerke die systematische Zusammenarbeit zwischen den Taliban und der organisierten Kriminalität in Afghanistan.

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Privatpersonen sollen aber die größten Gönner sein. Eine der Ehefrauen des stellvertretenden Taliban-Anführers Siradschuddin Haqqani, die in Saudi-Arabien lebt, spendet laut dem UN-Bericht zum Beispiel jährlich 60 Millionen Dollar an die Islamisten. Haqqani, der mit dem Haqqani-Netzwerk auch eine der brutalsten Taliban-Splittergruppen leitet, ist jetzt für die Sicherheit in Kabul verantwortlich

"Jahrelang lebten die Taliban-Anführer in riesigen Anwesen in Pakistan, fuhren in Land Rovern durch die Gegend und schickten ihre Kinder auf teure Privatschulen."

Als die Taliban Ende der 90er Jahre zum ersten Mal die Macht in Afghanistan übernahmen, wurde das Regime oft als mittelalterlich abgestempelt – wegen des Verbots von jeglicher Form von Entertainment, wegen der schlimmen Bestrafungen und wegen des eingeschränkten Zugangs zum Internet. Aber wie Berichte des US-Geheimdienstes zeigen, ging es der Terrorgruppe schon damals ziemlich gut.

"Jahrelang lebten die Taliban-Anführer in riesigen Anwesen in Pakistan, fuhren in Land Rover durch die Gegend und schickten ihre Kinder auf teure Privatschulen", sagt Peters von CINTOC. "Man ging aber fälschlicherweise davon aus, dass sie ein enthaltsames Leben führen. Deswegen hat sich niemand darum gekümmert, das Geld mal zurückzuverfolgen."

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Ein junges, bewaffnetes Mitglied der Taliban steht umringt von mehreren Männern, Frauen und Kindern mit einer Peitsche auf der Straße

Foto: Muhammed Semih Ugurlu/Anadolu Agency via Getty Images

Wie der Bericht der NATO zeigt, machte der illegale Bergbau im Jahr 2020 29 Prozent des Einkommens der Taliban aus, also laut Schätzung 464 Millionen Dollar. Der Drogenhandel brachte weitere 416 Millionen Dollar, während Exporte, Steuern und Immobilien zusätzliche 480 Millionen Dollar in die Kassen der islamistischen Terrorgruppe spülten.

Vanda Felbab-Brown vom Thinktank Brookings Institution ist eine Expertin für die Finanzen der Taliban. Gegenüber VICE sagt sie, dass vor allem das Geld aus dem Nahen Osten nur schwer nachzuverfolgen sei.

"Diese Gelder sind für den Aufstand der Taliban extrem wichtig", sagt Felbab-Brown. "Sie bestimmen die Zukunft bestimmter Gruppierungen innerhalb der Taliban und helfen bei internen Verhandlungen. Die USA haben versucht, dem Ganzen mit eigenen Finanzmaßnahmen entgegenzuwirken. In einigen Fällen hat das funktioniert, aber ganz konnten sie es nicht unterbinden."

In älteren UN-Berichten steht, dass das jahrhundertealte "Hawala"-System häufig von den Taliban angewandt werde. Bei diesem System wird Geld durch Mittelsmänner transferiert, es ist vor allem in arabischen und südasiatischen Ländern verbreitet. Und es wird von der afghanischen Regierung nicht gerade aufmerksam überwacht. Die Vereinten Nationen haben empfohlen, mehr Informationen über die Bankkonten, die Hawalas und die finanziellen Unterstützer der Taliban einzuholen.

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"Die Taliban haben keine Sachkenntnis von Afghanistans makroökonomischen Strategien, und ihnen fehlt die Erfahrung, um die Zentralbank zu leiten."

Es hat aber auch schon Fortschritte gegeben. Die Geheimdienstorganisation Afghan Threat Finance Cell, die dem US-Finanzministerium und -Verteidigungsministerium unterstellt ist, wurde 2008 gegründet, um die Finanzierung der Taliban zu überwachen. Dabei kamen mehrere Fälle der Korruption auf höchstem Level ans Licht – inklusive Verbindungen zwischen den Taliban und der damaligen afghanischen Regierung.

Trotz der Anstrengung sei diese Überwachung laut Peters allerdings nicht ausreichend gewesen.

"In einem Krieg, der mehr von strategischem Versagen als von strategischen Erfolgen geprägt wurde, ist eines der größten Versagen, dass man nie ganz herausgefunden hat, wie die Taliban Geld verdienen, wie sie es verstecken und wie sie es ausgeben", sagt sie. "Das ist ein gravierendes Versäumnis von Seiten des US-Geheimdienstes und seiner Verbündeten." 

Haroun Mir, der Vorsitzende des afghanischen Ablegers der Forschungseinrichtung Center of Research and Policy Studies, sagte gegenüber NPR, dass er den Außenminister von Bahrain einmal gefragt habe, was man tun könne, um den Geldfluss aus den Golfstaaten zu den Taliban zu stoppen. Der Minister soll darauf geantwortet haben, dass es in der Region keine Mittel gebe, um die Weitergabe von Spendengeldern zu überwachen.

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Die schlechte Nachricht für die Taliban ist, dass ihr Finanzsystem für eine Rebellengruppierung sehr gut funktioniert, für eine Landesregierung aber nicht. Analytiker sagen, dass die komplexen Methoden zur Geldverwaltung, die die Taliban so weit gebracht haben, jetzt nicht mehr genügen könnten. Einzelne Spenden seien ausreichend, um einen Aufstand zu finanzieren, aber nicht, um einen Staat zu regieren, sagt die Expertin Felbab-Brown.

Es ist kein Geheimnis, dass die Taliban ein kompliziertes System anwenden, durch das sie auf alles Steuern erheben – auch auf Hilfslieferungen aus dem Ausland. Einige Nachrichtensender berichten derzeit, dass die Taliban am Flughafen von Kabul von Menschen Geld verlangen, die einen Flug raus aus Afghanistan erwischen wollen. 

"Mit internationalen Finanzsystemen haben die Taliban nur wenig Erfahrung", sagt Felbab-Brown. "Sie wissen vielleicht, wie man Geld in Bankkonten versteckt und wie man den Behörden entgeht. Aber viele ihrer Deals werden immer noch mit Bargeld abgewickelt. Sie haben keine Sachkenntnis von Afghanistans makroökonomischen Strategien, und ihnen fehlt die Erfahrung, um die Zentralbank zu leiten."

Der ehemalige Vorsitzende der afghanischen Zentralbank, der aufgrund des Vorrückens der Taliban aus Kabul flüchtete, schreibt in einer Kolumne, dass landesinterne finanzielle Mittel niemals die internationale Hilfe übersteigen würden, die Afghanistan seit Jahrzehnten über Wasser hält.

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Er fügte außerdem hinzu, dass Spekulationen darüber, dass China, Russland und Pakistan in das Land investierten, wohl nicht der Wahrheit entsprächen.

"Selbst wenn es zu solchen Investitionen käme, können sie nicht die vereinte finanzielle Schlagkraft der großen bilateralen und multilateralen Geldgeber ersetzen", schreibt er. "Die Taliban müssen mit solchen Partnern verhandeln, wenn sie den Zugang zu Finanzreserven im Ausland wiederhaben oder wieder Spenden bekommen wollen. Dazu ist aber die Einhaltung von globalen Standards in Sachen Staatsführung, Bildung für Frauen und so weiter Pflicht." 

Analytiker befürchten, dass die Bürgerinnen und Bürger Afghanistans am meisten leiden, wenn die Wirtschaft des Landes zusammenbricht. Die G7-Staaten denken derweilen noch darüber nach, ob sie die Taliban anerkennen oder Sanktionen verhängen. US-Präsident Joe Biden sagte, dass eine solche Anerkennung weitere Hilfe in Bezug auf wirtschaftliche Unterstützung, Handel und viele weitere Dinge mit sich bringe.

Felbab-Brown sagt, dass pauschale Sanktionen im Anbetracht der strauchelnden Wirtschaft Afghanistans vielleicht mehr der Bevölkerung des Landes als den Taliban schadeten. Aber Hilfen von der Wahrung von Menschenrechten abhängig zu machen, sei "eine Fantasie, die niemals Realität wird", so die Expertin. "Die Taliban überstehen den internationalen Druck und die Isolation vielleicht. Aber in einem Land, in dem Armut und Unterernährung bereits vorherrschen, treffen solche Sanktionen vor allem die Bevölkerung."

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