Politik

"Ich konnte die Luft in Moskau nicht mehr einatmen": Immer mehr Menschen fliehen aus Russland

Putin greift vehement gegen jegliche Kritik an seiner Invasion in der Ukraine durch. Darum verlassen vor allem Journalistinnen und Ausländer das Land.
Zwei russische Soldaten stehen vor dem roten Platz in Moskau; immer mehr Menschen fliehen wegen Wladimir Putins Einschränkungen der Presse- und Redefreiheit aus Russland, wir waren vor Ort
Symbolfoto: KIRILL KUDRYAVTSEV/AFP via Getty Images
Alle Artikel zu diesem Thema

Seit einigen Tagen wirkt das Treiben am Moskauer Scheremetjewo-Flughafen anders als sonst. An den Gates und Check-in-Schaltern sind ungewöhnlich viele große Koffer und Haustiere zu sehen. Sie sind ein klares Zeichen dafür, dass die Leute nicht nur einen kurzen Urlaub machen.

Flugtickets nach Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, oder Istanbul in der Türkei sind ausverkauft. Die Leute haben düstere Gründe für ihre Ausreise: Eine junge Frau sagt, dass sie nicht in Russland gefangen sein wolle, ein junger Mann erzählt, Angst davor zu haben, bei der russischen Invasion in der Ukraine mitkämpfen zu müssen. "Ich hasse diesen Krieg", sagt er.

Anzeige

Yulia, eine ukrainische Staatsbürgerin, die seit über zehn Jahren in St. Petersburg lebt, macht sich Sorgen, dass sie ihre Familie in der Ukraine nicht mehr sehen kann, wenn sie nicht aus Russland flieht. "Ich dachte, dass ich den Rest meines Lebens in Russland verbringen werde, weil hier alles so gut war", sagt sie. "Aber dann hat sich vom einen auf den anderen Tag alles geändert. Niemand konnte glauben, dass so etwas wirklich passieren könnte."

Alle Personen, mit denen wir für diesen Artikel sprechen, wollen nur ihren Vornamen nennen – in der Hoffnung, irgendwann ohne Probleme nach Russland zurückkehren zu können.

Ein Mann mit Mund-Nasen-Schutz und Willkommensschild empfängt am Bahnhof Menschen aus Russland

Am Hauptbahnhof von Helsinki werden ankommende Menschen aus St. Petersburg mit Blumen und Willkommensschildern empfangen | Foto: EMMI KORHONEN/Lehtikuva/AFP via Getty Images

Nachdem russische Truppen in der Ukraine einmarschiert waren, verhängten viele Staaten schwere Sanktionen gegen Russland. Daraufhin begannen viele Russinnen und Russen, das Land zu verlassen. Und die Zahl der fliehenden Menschen steigt immer weiter, seitdem die russische Regierung vehement gegen jegliche Kritik an ihren Kriegshandlungen vorgeht. Es wird dreimal so häufig zum Thema "Russland verlassen" gegoogelt, und beliebte Websites veröffentlichen Artikel mit Überschriften wie "Wo man von Russland aus hinkommt, wie man das Haustier mit ins Ausland nimmt, woran man beim Umzug denken muss". Am Montag verkündete der Wirtschaftsminister Georgiens, dass in den Tagen zuvor zwischen 20.000 und 25.000 Russinnen und Russen nach Georgien gekommen seien.

Anzeige

Es gibt nur wenige Statistiken dazu, wie viele Menschen Russland jetzt verlassen. In einem Großteil Europas wurde der Luftraum für Flugzeuge aus Russland gesperrt. Eine weitere Sanktion des Westens. Die Fluglinie Turkish Airlines fliegt hingegen dreimal täglich von St. Petersburg nach Istanbul – statt nur zweimal wie bisher. Und die russische Fluggesellschaft Aeroflot steuert die Türkei inzwischen in größeren Flugzeugen an, um die gestiegene Passagierzahl zu bewältigen.

"Ich konnte die Luft in Moskau einfach nicht mehr einatmen. Die Leute dort reden weiter ganz normal über ihre Pläne und darüber, welche sie Filme schauen und zu welcher Kunstausstellungen sie gehen, während in der Ukraine Menschen töten und getötet werden", schrieb der bekannte russische Filmkritiker Anton Dolin unter einem Instagram-Post, in dem er seine Flucht aus Russland bekanntgab. "Jede Minute einer solchen Existenz bestätigt das Offensichtliche: Du bist ein Komplize." 

Auch in Russland lebende Ausländer wollen raus. Vergangene Woche behauptete das Team rund um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass Moskau plane, das Kriegsrecht auszurufen. Das hätte zur Folge, dass Russland die Grenzen schließen, seine Einwohner ins Militär einziehen und die Bürgerinnen und Bürger aus feindseligen Ländern einsperren kann.

Der Kreml widersprach dieser Behauptung: Man ziehe weder das Kriegsrecht noch einen Ausnahmezustand in Betracht. Doch das beruhigt kaum jemanden. Ausländer wurden schon häufig wegen kleinerer Vergehen des Landes verwiesen – zum Beispiel letztes Jahr eine britische Journalistin, weil Russland die britische Politik nicht gefiel. Nun besteht zum ersten Mal das Risiko, dass sie nicht mehr aus Russland rauskommen.

Anzeige

Während die russischen Truppen weiter ukrainische Städte bombardieren, geht die russische Regierung mit drastischen Maßnahmen gegen die freie Meinungsäußerung vor: Inzwischen ist es in Russland verboten, die Gewalt in der Ukraine als "Invasion" oder "Krieg" zu bezeichnen. Deswegen sah sich die russische Zeitung Nowaja Gaseta – deren Chefredakteur 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – gezwungen, ihre Berichterstattung über den Konflikt zu löschen. Die liberale Radiostation Echo of Moscow musste während einer Übertragung den Sendebetrieb einstellen. Seit dem Start des Kriegs in der Ukraine haben mindestens 150 Journalistinnen und Journalisten Russland verlassen.  

Der unabhängige russische Fernsehkanal TV Rain konnte seit 2014 nur noch online senden. Nun wurde auch die seine Website blockiert. Viele der dort angestellten Menschen sind aus Russland geflohen. Die Behörden werfen dem Sender vor, zu Extremismus und Gewalt aufzurufen, was Grundlage für eine Anklage sein kann. Chefredakteur Tichon Dsjadko schrieb bei Facebook, dass mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedroht worden seien.

"Ich will zurück nach Hause. Gleichzeitig weiß ich, dass Journalisten in Russland gerade gefährlich leben", sagt eine aus Russland geflohene TV-Rain-Korrespondentin, die zum eigenen Schutz anonym bleiben will, gegenüber VICE. "Es ist nicht möglich, dort zu arbeiten. Und wir wissen nicht, wann sich das wieder ändern wird."

Anzeige

"Das Ganze erinnert an George Orwell. Es ist surreal. Sie sagen wirklich, dass Krieg Frieden sei."

Es ist in Russland nichts Neues, dass Aktivistinnen ins Gefängnis kommen und Medienunternehmen dicht gemacht werden. Seit Putin seinen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hat, unterbindet er die Meinungs- und Pressefreiheit in einer noch nie da gewesenen Geschwindigkeit.

So verabschiedete die russische Regierung am 4. März eine Gesetzesänderung, die die Verbreitung von "falschen Informationen" über das russische Vorgehen in der Ukraine mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft. Die BBC sagte daraufhin, dieser Schritt würde unabhängigen Journalismus zum Verbrechen machen, und stellte die Berichterstattung aus Russland vorübergehend ein. Mehrere andere internationale Medienhäuser – darunter auch ARD und ZDF – zogen schnell nach.

Das Ziel des Kremls sei es, den unabhängigen Journalismus komplett zu zerstören, sagt die TV-Rain-Korrespondentin, die Russland verlassen hat. "Es herrscht ein Einparteiensystem. Die Behörden geben eine Version der Geschehnisse vor, alles andere ist falsch", sagte sie. "Das Ganze erinnert an George Orwell. Es ist surreal. Sie sagen wirklich, dass Krieg Frieden sei."

Putin greift aber nicht nur hart gegen den Journalismus durch, sondern gegen die Redefreiheit allgemein: Facebook und Twitter wurden in Russland blockiert. Bei Demonstrationen gegen den Krieg hat die russische Polizei bereits mehrere Tausend Menschen festgenommen.

Anzeige

Es gibt in Russland aber auch eine andere Seite. Laut aktueller Umfragen befürworten zwei Drittel der russischen Bevölkerung den "Sondereinsatz" des Militärs in der Ukraine. Bei unseren Gesprächen mit Menschen in den Straßen Moskaus gaben die meisten an, dass sie die Invasion so wahrnähmen, wie sie das russische Staatsfernsehen darstellt: als eine Verteidigungsaktion zum Schutz russischsprachiger Menschen in der Ukraine vor den "Nazi"-Kräften, wie Wladimir Putin sagte. Und die Leute, die innerlich gegen den Krieg sind, glauben nicht, dass es etwas bewirkt, würden sie öffentlich protestieren.

"Viele gehen davon aus, dass die Leute hier von der Propaganda und den Nachrichten einer Gehirnwäsche unterzogen wurden", sagte ein IT-Mitarbeiter, den die Polizei beim Protest gegen den Krieg festnahm. "Aber die meisten wollen ja eine Gehirnwäsche. Für sie ist es so einfacher."

"Wladimir Putin hat die Ukraine noch nicht zerstört. Das Land bleibt stabil und wehrt sich", schrieb der BBC-Journalist Ilja Barabanow bei Facebook. Er berichtet über die Geschehnisse in der Ukraine und kann jetzt nicht mehr zurück nach Russland. "Aber er hat das Russland zerstört, in dem wir einst gelebt haben. Und niemand von uns hat auch nur die leiseste Ahnung, in was für ein Land wir zurückkehren werden."

Folge VICE auf TikTok, Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.