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Drogen

Ein Arzt erzählt, warum er seine Patienten mit reinem Heroin versorgt

Für Christian Plattner ist der Stoff ein Medikament, das traumatisierten Menschen ein besseres Leben bringen kann.
Die Ausgabestelle der Substitutionsklinik
Alle Fotos von der Autorin

Es ist hell, Licht flutet das Wartezimmer mit den weißen Wänden, den weißen Stühlen und den Arzthelferinnen mit den weißen Kitteln hinterm weißen Tresen. Auf dem Boden stehen Zimmerpflanzen, an der Wand hängen riesige Bilder von Stränden und Meerwasser, es riecht nach Kaffee. Die Arzthelferinnen begrüßen jeden, der durch die Tür kommt, mit einem Lachen, plaudern übers Wetter, über die Sonne, die strahlt. Nebenan, in einem kleinen Zimmer, spritzen sich die ersten acht Patienten Heroin. Auch dort hängen Fotos von Palmen. Jeder der Patienten hat einen eigenen Tisch. An den Tischen sitzen sie, jeder mit einer Spritze in der Hand. Die Dosen in den Spritzen sind auf die Patienten abgestimmt, die sauberen Nadeln gibt’s am Tresen im Wartezimmer.

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Jetzt suchen die acht Männer und Frauen ihre blauen Beine, Leisten und Schultern nach Venen ab, die noch nicht verstopft sind. Einer schnürt seinen Arm mit dem Gürtel ab, klopft ein paar Mal auf die Vene und sticht die Spritze hinein. Eine Frau fummelt an ihrer Hose herum, zieht sie ein Stück herunter, setzt die Spritze an. Ist der Kolben gedrückt, machen alle das Gleiche: die Augen zu.

Das alles spielt sich an einem Freitagmorgen in einer Praxis am Düsseldorfer Hauptbahnhof ab. Es ist die Diamorphin-Abgabestelle von Christian Plattner und seinen Kollegen. Diamorphin – das ist reines Heroin. Ein Stoff, der in Deutschland nur an Schwerstabhängige abgegeben werden darf: Man muss älter als 23 Jahre alt und mindestens seit fünf Jahren heroinabhängig sein. Es muss eine schwere körperliche oder psychische Funktionsstörung diagnostiziert worden sein. Und man muss zwei Entzugsbehandlungen erfolglos beendet haben. Erst dann haben Abhängige die Chance, an einem Diamorphin-Programm teilzunehmen. In ganz Deutschland bieten nur zehn Praxen ein solches an – das Angebot hinkt weit hinter der Nachfrage zurück.

"Es würde viel mehr Sinn machen, alle Patienten mit Diamorphin zu behandeln", sagt Christian Plattner. Stattdessen werden fast alle Abhängigen mit Methadon versorgt. Das Opiat wurde im Zweiten Weltkrieg entwickelt. Man brauchte einen Stoff, der die Soldaten kampfbereit hielt und länger im Körper der Soldaten wirkte als Heroin. In den 60er Jahren fand das Methadon seinen Weg in die Substitutionsbehandlung, dort gilt es bis heute als die Norm. Dass es den Suchtdruck der Patienten nicht stillt und dass Abhängige deshalb meist trotzdem immer wieder Heroin von der Straße konsumieren, wird seit Jahren ignoriert.

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Ein Mann mit Sonnenbrille und offenem Hemd steht vor einer Einfahrt

Einer von Christian Plattners Patienten ist Michael. Er ist 43 Jahre alt, war mehr als die Hälfte davon drogenabhängig. Mit 19 kam er von einem kleinen Dorf nach Düsseldorf, naiv und ahnungslos, er rutschte in die Szene. "Lange wollte ich es nicht wahrhaben", sagt er heute. Die Leute am Bahnhof seien charakterschwach und deshalb selber Schuld, so habe er damals gedacht. "Aber ich doch nicht!", habe er sich eingeredet. "Tja, aber da war ich schon lange von der Lady Bestie gefangen, von Frau Königin", sagt er. Mit Zwanzig geht er zum ersten Mal in eine Substitutionsbehandlung mit Methadon. Zwanzig Jahre lang bekommt er Opiate verabreicht, die ihn vom Straßenheroin wegbringen sollen. Doch es klappt nicht. Immer wieder wird er rückfällig, geht doch wieder zum Bahnhof, fragt nach "Shore", "Braun" oder "Ace".

Christian Plattner hat Mittagspause und führt uns zu seinem Lieblingscafé. Es liegt in einem Garten in einem kleinen Hinterhof in der Düsseldorfer Innenstadt. Der Arzt mit den zurückgegelten Haaren und der weichen Stimme trinkt einen Cappuccino.

VICE: Herr Plattner, warum bringt die Substitution mit Methadon oder anderen Opiaten den meisten Patienten nichts?
Christian Plattner: Mit Methadon bekommt ein Abhängiger theoretisch etwas in die Hand, um keine anderen Opiate konsumieren zu müssen. Nur ist die gesamte Basis dieser Argumentation falsch, weil nicht berücksichtigt wird, dass der Patient Heroin aus einem Grund konsumiert: Es hilft ihm, mit seinen psychischen Problemen klar zu kommen. Methadon wirkt ganz anders als Diamorphin.

Was ist der Unterschied?
Methadon verhindert nur körperliche Entzugserscheinungen. Die Realität zeigt aber, dass Drogensucht nicht rein körperlich ist. Der reine Heroinentzug dauert im Schnitt eine Woche. Trotzdem sind die Konsumenten zum Teil über Jahrzehnte hinweg abhängig, nehmen Ausgrenzung und Kriminalität in Kauf. Und das Ganze nur, weil sie eine Woche körperliche Schmerzen nicht aushalten können? Wer das denkt, weiß nicht, was Sucht ist und wie sie entsteht.


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Erklären Sie es uns.
Sucht vollzieht sich immer in Begleitung ungerader Lebenswegen. Diese Lebenswege sind gekennzeichnet von Gewalt, Vernachlässigung, Heim- und JVA-Aufenthalten, von psychischem und seelischem Schmerz. Sucht ist kein moralisches Fehlversagen – Sucht entsteht, wenn andere Bindungsmöglichkeiten fehlen. Wenn keine Familie da ist, die Halt gibt, kein Beruf, der einen Lebensunterhalt sichern kann, wenn einen psychisches Leid in die Einsamkeit drängt. Nicht jeder Traumatisierung folgt eine Drogensucht, aber jeder Drogensucht liegt eine oder mehrfache Traumatisierungen zu Grunde. Unsere Patienten haben schlimme Dinge erlebt.

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Würde dann nicht Psychotherapie helfen?
Bis Mai 2017 war vorgeschrieben, dass ein Patient zusätzlich zum Substitutions-Programm in eine psychosoziale Therapie geht. Diese Regelung fiel weg, weil irgendwann klar war: Psychotherapie hilft nur bis zu einem gewissen Grad. Bestimmte Vorgänge in der Kindheit oder auch im Erwachsenenalter kann man nicht ungeschehen machen, nicht austherapieren. Eine unserer Patientinnen musste sich als Kind acht Jahre lang für ihre Mutter prostituieren. Dieses Trauma kriegt man nicht raus. Sie sagt immer: Ich bin nur deswegen noch am Leben, weil es Heroin gibt. Weil Heroin sie das Erlebte für eine gewisse Zeit vergessen lässt. Sie kann schlafen, ihr Leben leben. Gäbe es das nicht, hätte sie sich längst umgebracht, sagt sie.

"Eine unserer Patientinnen musste sich als Kind acht Jahre lang für ihre Mutter prostituieren. Dieses Trauma kriegt man nicht raus. Sie sagt immer: Ich bin nur deswegen noch am Leben, weil es Heroin gibt."

Wieso haben Sie sich entschlossen, neben Ersatzstoffen reines Heroin abzugeben?
Als wir mit der Praxis angefangen haben, hatten wir ein Ziel: Wir machen die alle heil, wir machen die alle clean. Und dann haben wir festgestellt: Das klappt nicht. Damals hatten wir noch keine Diamorphin-Ausgabe, sondern wie die meisten mit Methadon und Polamid (Anmerkung der Red: Ebenfalls ein Opiat) substituiert. Die Patienten sind aber immer wieder rückfällig geworden, haben auch nach langen Clean-Phasen wieder Straßenheroin konsumiert. Diese Erfahrung sickerte langsam bei uns durch. Man muss sich von der Idee verabschieden, die Ursache der Heroinabhängigkeit stecke in moralischer Schwäche.

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Ist es also nicht mehr Ihr Ziel, die Patienten vom Stoff loszubekommen?
Für einige unserer Patienten mag die Abstinenz ein erstrebenswertes Ziel sein, für andere ist sie unmöglich zu erreichen. Aber auch die Betäubungsmittelverordnung definiert Abstinenz nicht mehr als oberstes Ziel der Behandlung. Grundsätzlich wird Abhängigkeit immer nur da zum Problem, wo jemand das Medikament, das er braucht, nicht mehr bekommt. Ein Diabetiker muss sich Insulin spritzen. Bekommt er es eines Tages nicht, ist er am Abend tot. Wo ist der Unterschied zu einem Patienten, der Diamorphin spritzt? Natürlich ist es eine andere Form der Abhängigkeit – das eine ist eine körperliche Erkrankung, Drogensucht eine psychische. Aber beides ist eine Erkrankung.

Ein Mann holt kleine Glasflaschen aus einem offenen Tresor

In diesem Tresor lagert Christian Plattner das Heroin für seine Patienten

Was ist das Problem an Heroin?
Das Bild, das die meisten von Heroin haben, stammt von den Geschichten, wie sie Christiane F. erzählt hat (Anmerkung der Redaktion: Christiane F. ist Protagonistin des Buches Wir Kinder vom Bahnhof Zoo). Heroin wurde zum Sinnbild von dreckigen Opiumhöhlen, Zwangsprostitution, Krankheiten, Absturz – von Menschen, die halb bewusstlos auf der Straße liegen und sich nicht mehr bewegen können. Dabei wird das eigentliche Problem verkannt: die Illegalisierung. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man Stoff, von dem keiner weiß, was und wieviel drin ist. Der wird dann von Leuten konsumiert, die nicht viel Geld haben und ihr benutztes Besteck weitergeben. So infizieren sie sich mit HIV und Hepatitis C.

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Wie unterscheidet sich das Heroin aus der Praxis vom Straßenheroin?
Der Stoff auf der Straße ist unberechenbar, das macht im Körper Sachen, von denen wir keine Ahnung haben. Er besteht meist nur zu vier Prozent aus Heroin. Das macht den Rausch auch ganz anders. Die Vorstellung, dass einer unserer Patienten, der reines Heroin in abgestimmter Dosis erhält, stundenlang breit in der Ecke läge, ist falsch. Der Rausch nach der Injektion dauert nur etwa zwei bis drei Minuten, die sedierende Wirkung im Körper aber hält bis zu sechs Stunden. Unsere Patienten konsumieren, damit sie ihren Tag gestalten können. Sie haben weniger Ängste und Depressionen. Sie können mit Leuten reden, werden offener und spüren wieder Antrieb.

"Der Stoff auf der Straße ist unberechenbar, das macht im Körper Sachen, von denen wir keine Ahnung haben. Er besteht meist nur zu vier Prozent aus Heroin."

Warum geben dann nur zehn Praxen in Deutschland Diamorphin ab?
Die Hürden, Diamorphin abgeben zu dürfen, sind hoch. Ärzte, die ein Programm anbieten wollen, stehen vor einem großen finanziellen Risiko. Es müssen sehr viele Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden. Der Safe beispielsweise, in dem wir unser Diamorphin lagern, hat dickere Wände als die Tresore in jeder Bank. Nur: Wenn man es deshalb bleiben lässt, hat zwar der Arzt die Mühe und den Aufwand nicht, die Patienten aber haben weiter ihren Beigebrauch.

Warum wird es den Ärzten so schwer gemacht?
An den entscheidenden Stellen sitzen Personen, die sich mit der Thematik und den Patienten nie auseinandersetzen. Politiker heben mit salonfähiger Doppelmoral mit der einen Hand das Sektglas zum Feierabend und verweisen "die Junkies" mit der anderen Hand an den Rand der Gesellschaft. Dort können sie dann sehen, wo sie bleiben. Natürlich ist viel Leid durch Drogen auf die Menschheit gekommen. Aber ist die Droge das Problem? Oder ist es unser Umgang mit ihr? Die Realität ist: Wenn die Ärzte den Patienten kein Heroin geben, holen sie es sich vom Schwarzmarkt.

"Ich bin mir sicher: Gäbe es Heroin in seiner heutigen Form nicht, würde die Pharmaindustrie den Stoff auf den Markt bringen."

Gibt es Heroin bald in der Apotheke?
Bis in die 20er Jahre war Heroin als Medikament zugelassen. Und ich bin mir sicher: Gäbe es Heroin in seiner heutigen Form nicht, würde die Pharmaindustrie den Stoff auf den Markt bringen. In kleinen Dosierungen, zum Beispiel gegen Schlaf- oder Persönlichkeitsstörungen und gegen Depressionen. Man hätte hervorragende Wirkungen, weil der Stoff rein wäre – ohne Schwarzmarkt. Keiner müsste dafür klauen, keiner anschaffen gehen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Mittelfristig: Dass wir neue Anwendungsformen wie Tabletten oder Nasensprays bekommen. Denn es gibt viele Patienten, deren Venen zu verstopft sind, um spritzen zu können. Langfristig: die kontrollierte Freigabe von Heroin. Wir dürfen kranken Menschen nicht ihre Medizin vorenthalten. Ein soziales Gesundheitssystem bindet alle mit ein. Nicht nur die, mit deren Erkrankung wir einverstanden sind.

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