Warum medizinisches Cannabis gerade für Frauen wichtig ist
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Gesundheit

Warum medizinisches Cannabis gerade für Frauen wichtig ist

Frauen leiden nicht nur häufiger unter chronischen Schmerzen als Männer, sie werden auch weniger ernst genommen. Ein Teufelskreis.

Als Nina* mit 26 Jahren die Pille absetzte, bekam sie nach sieben Monaten plötzlich heftige Unterleibsschmerzen. Sie waren so schlimm, dass sie stellenweise nicht mal mehr sitzen konnte. Als eine entdeckte Zyste schließlich notoperiert werden musste, fanden die Ärzte noch etwas anderes: Endometriose.

Endometriose ist eine hormonabhängige Erkrankung, die weltweit vier bis zwölf Prozent aller Menschen mit Gebärmutter betrifft. Gebärmutterschleimhautzellen siedeln sich an anderen Stellen außerhalb der Gebärmutter an und verursachen meist starke, krampfartige Unterleibsschmerzen, Übelkeit, und Darmprobleme – und das chronisch. Alltägliche Dinge wie Stehen, Sitzen, aufs Klo gehen oder Sex haben, werden so schmerzhaft, dass sie kaum auszuhalten sind. Und für diejenigen, bei denen Endometriose diagnostiziert wird, ist das oft nur der Beginn eines langen Leidenswegs: Operationen um das wuchernde Gewebe zu entfernen, helfen häufig nur temporär, durch Verspannungen im Beckenboden können Schmerzen verstärkt werden. Therapien mit verschiedensten starken Schmerzmitteln, teils auch Opiaten, folgen.

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"Die Schmerzmittel haben mir meinen Darm versaut", sagt Nina, die als Koordinatorin in der IT arbeitet. "Durch die Schmerzmittel ist meine Darmflora so durcheinander geraten, dass ich starke körperliche Beschwerden und wiederum weitere Schmerzen hatte." Für Schmerzpatientinnen wie sie bedeutet das: mehrere hochdosierte, kombinierte Schmerzmittel, zu denen dann wiederum Tabletten hinzukommen, welche die auftretenden Nebenwirkungen bekämpfen sollen. Nina begann, wieder ihre Pille zu nehmen, die sie eigentlich mit 26 abgesetzt hatte. Zudem stellte sie nach der Endometriose-Diagnose und den folgenden Problemen durch die Schmerzmittel ihre Ernährung um, machte gezielt Sport – doch einige Schmerzen blieben.

"Seit ich keine Schmerzmittel mehr nehme und auf meine Ernährung achte, habe ich weniger Schmerzen", sagt sie. "Wenn ich aber etwas falsches esse oder trinke fühlt es sich an wie heftige Menstruationsschmerzen oder Zysten." In diesem Fall greift sie auf eine ungewöhnliche Therapieform zurück: Nina nimmt Cannabis durch einen Kakao auf. "Die Endometriose sorgt dafür, dass man gesellschaftliche Ereignisse nicht mehr wahrnimmt, weil man ständig Schmerzen hat. Aber durch Alternativen wie Cannabis in geringer Dosis zum Entkrampfen, habe ich meine Symptome im Griff." Und auch, wenn es kein medizinisch verordnetes Cannabis ist: high würde sie davon schon lange nicht mehr, es dämpfe einfach nur die Schmerzen.

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Pflanzliches "Schmerzmittel" statt monatliches Pillen einwerfen: Cannabis könnte insbesondere für Frauen, die mit chronischen Unterleibsschmerzen zu kämpfen haben, ein echtes Wundermittel sein. Es wird nur noch nicht dementsprechend genutzt. Seit dem 10. März 2017 dürfen Ärzte in Deutschland ganz offiziell medizinisches Cannabis verschreiben, doch die Zahl der Anträge, die bisher von den Krankenkassen genehmigt wurden, liegt gerade einmal im niedrigen vierstelligen Bereich.


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Insbesondere was die Wirkung von Cannabis auf Erkrankungen der Gebärmutter angeht, fehlt es an repräsentativen Untersuchungen. "Es gibt zu diesem Thema bisher keine klinischen Studien", bestätigt der Arzt Franjo Grotenhermen gegenüber Broadly. Er gilt in Deutschland als führender Experte für medizinisches Cannabis. "Es gibt jedoch Frauen, die von positiven Effekten berichten. Dies könnte sowohl auf den schmerzlindernden als auch auf den entzündungshemmenden Eigenschaften von Cannabis beziehungsweise den Cannabinoiden THC und CBD beruhen."

Sucht man auf Fachseiten nach Therapieansätzen, findet man bei Endometriose so einiges: Hormontherapie, Operationen und vielfältige Schmerztherapien, Physiotherapie oder auch Osteopathie. Selbsthilfeseiten im Internet verweisen auch auf traditionelle chinesische Medizin, Homöopathie oder Akupunktur. In einer Facebookgruppe rät man sogar zum Bauchtanz, um die durch die Endometriose auftretenden Verspannungen im Beckenbodenbereich zu lösen. Zu Cannabis als Schmerzmittel bei Unterleibsbeschwerden findet sich nichts, dabei ist die krampflösende und schmerzlindernde Wirkung vielen Menschen mit Gebärmutter seit Jahrhunderten bekannt.

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"Vor etwa 20 Jahren wurde eine australische Umfrage zu medizinischen Wirkungen von Cannabis veröffentlicht", erzählt Grotenhermen. "Bemerkenswerterweise bestand die größte Gruppe der Patienten, die von entsprechenden therapeutischen Effekten berichteten, aus Frauen mit Menstruationsbeschwerden." Dies sei ein Hinweis darauf, dass sich diese mögliche therapeutische Nutzung von Cannabis herumgesprochen hatte. Viele Frauen hätten dann einen entsprechenden Versuch mit Cannabis unternommen, der zumindest in einer Anzahl der Fälle von Erfolg gekrönt gewesen sei. "Es ist also einen Versuch wert."

Foto: imago / ZUMA Press

Für Sasa, Politikerin und selber Schmerzpatientin, war so ein Versuch mit medizinischem Cannabis die Rettung. Ein Bandscheibenvorfall und chronische Borreliose sorgen bei ihr für chronische Schmerzen. Vier verschiedene Schmerzmittel, darunter auch Opiate, sowie zusätzliche Medikamente zum Magenschutz, musste sie anfangs nehmen. Als sich schließlich Anfänge einer Medikamentenabhängigkeit einstellten, machte die 31-Jährige einen Entzug von klassischen Schmerzmitteln. "Das war wirklich hart, zu merken, wie der Körper sich an das Zeug gewöhnt hat."

Sie ist nicht alleine: Seit ein paar Jahren lässt sich ein dramatischer Anstieg der Medikamentenabhängigkeit bei Frauen beobachten. Zudem leiden Frauen häufiger als Männer unter chronischen Schmerzen. Das wiederum führt zu einem höheren Konsum von Schmerzmitteln. Ein Teufelskreis. Cannabis bedeutet deswegen insbesondere für Menschen mit Unterleibsbeschwerden eine körperlich unbedenklichere Alternative zu klassischen Schmerzmitteln.

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Vor einigen Monaten verschrieb Sasas Orthopäde ihr medizinisches Cannabis. Ähnlich wie Nina wird auch sie vom medizinischen Gras nicht high, schließlich brauche ihr Körper "sämtliche Wirkung des Cannabis für die Schmerzbekämpfung". Aber sie habe noch andere unmittelbare Auswirkungen auf ihren Körper gespürt: "Seit ich das medizinische Cannabis nehme, habe ich endlich wieder einen normalen Zyklus." Die traditionellen Schmerzmittel hatten ihren Körper zuvor so belastet, dass sie von überhaupt keiner bis zu einer sehr starken Menstruation "so ziemlich jeden Extremfall" gehabt habe, und das Monat für Monat.

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Claudia ist noch auf der Suche nach einem Mittel gegen ihre Schmerzen. Sie leidet wie Nina unter Endometriose, doch nach inzwischen acht Operationen hat sie kaum noch Hoffnung auf Besserung. Früher leitete sie Kurse wie Kinderturnen und Wirbelsäulenkurse, heute ist daran nicht mehr zu denken. "Es ist ein Albtraum. Dein ganzes Leben ändert sich."

Klassische Schmerzmittel will sie nicht mehr nehmen und wägt aktuell Alternativen ab – darunter auch Cannabis. Von ihrem Arzt fühlt sie sich mit ihren Beschwerden nicht ernstgenommen. Auch das ist ein Schicksal, das sie mit vielen anderen Frauen teilt: Tatsächlich haben Wissenschaftler in verschiedenen Studien der Vergangenheit festgestellt, dass Frauen bei der Behandlung von Schmerzen länger auf Behandlungen warten müssen und von Ärztinnen und Ärzten seltener ernst genommen werden als Männer. Die von Frauen geäußerten Beschwerden werden oft auf ihre vermeintliche "Emotionalität" zurückgeführt, statt auf real existierende Schmerzen.

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Claudia wünscht sich von Ärztinnen und Ärzten die Bereitschaft, auch neue Wege in der Schmerzbehandlung zu gehen. Offiziell möglich ist es ihnen seit diesem Jahr ja nun. Auch wenn Verträglichkeit und Wirksamkeit von Person zu Person unterschiedlich sein können, zieht Sasa ein positives Zwischenfazit: "Ich kann wieder arbeiten und das Leben genießen. Das medizinische Cannabis gibt mir Lebensqualität zurück."

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*Name von der Redaktion geändert.