Menschen

Junge Menschen erzählen wie es ist, die eigenen Eltern finanziell zu unterstützen

“Ich half ihnen mit der Miete, gab meiner Mutter meine Kreditkarte und kaufte Lebensmittel.” – Steven, 30.
Lamees und Rachel – die beiden jungen Frauen unterstützen ihre Eltern finanziell.
Fotos mit freundlicher Genehmigung von den Interviewten bereitgestellt

Warum gelten Millennials eigentlich als egoistisch und faul? 

Kommt das daher, dass manche lieber zu Hause wohnen bleiben, statt eine absurd teure Wohnung in einer Großstadt zu mieten? Jedenfalls wird häufig behauptet, dass der Erfolg junger Menschen nur “sponsored by daddy” funktioniert. Aber nicht alle haben das Glück, aus einer wohlhabenden Familie zu kommen.

Während meiner Kindheit hatten wir nie viel Geld. Als mein Vater nur einige Tage nach meinem Uni-Abschluss starb, musste ich Verantwortung übernehmen. Und nein, es war kein Erbe in Sicht, das mir hätte helfen können. Heute zahle ich nicht nur meine eigenen Rechnungen, sondern helfe auch meiner Familie. Und damit bin ich nicht alleine.

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Trotzdem hört man häufiger von verwöhnten als von verantwortungsvollen Millennials. Na gut, es gibt auch krasse Beispiele. Zum Beispiel diesen 30-jährigen Typen, dessen Eltern ihn buchstäblich aus dem Haus klagen mussten. Aber es sind eben nicht alle so drauf.

Ich war es satt mich aufzuregen. Stattdessen entschied ich mich, lieber die andere Seite zu zeigen: Millennials, die nicht nur selbst finanziell unabhängig sind, sondern auch noch andere unterstützen. Das ist nämlich für viele von uns Realität.

Eine junge Frau mit braunen Haaren sitzt in einem Restaurant und schaut direkt in die Kamera

Lamees

Lamees, 23

VICE: Wie sieht deine finanzielle Situation aus?
Lamees: Ich bin im Mittleren Osten aufgewachsen und 2010 nach Kanada gezogen. Dubai ist extrem luxuriös – meine Familie hat diesen Lebensstil lange auch genossen. Aber dann sind wir nach Kanada gezogen. Vielen Vätern passiert dasselbe: All ihre hochkarätigen Qualifikationen und Joberfahrungen bringen ihnen nichts mehr, wenn sie als Migranten wahrgenommen werden. Das System hält sie klein. Genau so war es auch bei meinem Vater. Seit wir in Kanada sind, hat er keinen Job. Weil meine Schwester sehr krank ist, kann meine Mutter auch nicht arbeiten gehen. 

Greifst du ihnen unter die Arme? 
Als ich anfing, genug Geld zu verdienen, um etwas zur Seite zu legen, zahlte ich unsere Familien-Abendessen im Restaurant. Wenn jemand Geburtstag hat, zahle ich die Konzert- oder Kinokarten. Als meine Eltern eine große Abschlussparty für mich schmissen, fühlte ich mich schuldig und gab ihnen 1000 Dollar in einem Briefumschlag. 

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Wie fühlt es sich für dich an, deine Eltern finanziell zu unterstützen?
Ich bin stolz. Es fühlt sich gut an, meinen Eltern jetzt was zurückgeben zu können. Manchmal bin ich aber auch wütend. Auf das System, das meinem Vater jegliche Motivation genommen hat oder darauf, dass er uns nicht mehr unterstützen kann. Jedenfalls glaube ich nicht, dass ich ausziehen kann, bis ich heirate. Meine Familie braucht mich.

Ein junger Mann mit schwarzem Hut und schwarzer Hose und Pullover sitzt auf einem alten Sofa

Steven | Foto mit freundlicher Genehmigung von NKPR

Steven, 30

VICE: Hilfst du deinen Eltern finanziell aus?
Steven: Seit meine Mutter mit Krebs diagnostiziert worden ist helfe ich ihnen. Meine Mutter war zunächst wegen einer Verletzung krankgeschrieben, aber als auch noch ihr Krebs entdeckt wurde, wurde alles noch viel schlimmer. Durch die Krankschreibung hatte sie schon vorher nicht viel verdient und musste meinen Vater noch mitfinanzieren. Als sie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, fühlte ich mich gezwungen etwas zu unternehmen. Ich half ihnen mit der Miete, gab meiner Mutter meine Kreditkarte und kaufte Lebensmittel. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.  

Wie fühlst du dich im Vergleich zu anderen im gleichen Alter?
Wenn ich höre, dass andere in meinem Alter noch finanziell von ihren Eltern abhängig sind oder sich von ihnen einen Kredit abbezahlen lassen, finde ich das absurd. Warum wollen sie, dass ihre Eltern das übernehmen? Und warum sind sie überhaupt so abhängig von ihnen? 

Glaubst du, dass sich bestimmte Familien eher mit finanziellen Fragen auseinandersetzen müssen?
Ich gehöre zur zweiten Generation einer nach Kanada emigrierten Familie. Ich würde sagen, dass Migranten sich vielleicht mehr mit diesem Problem auseinandersetzen müssen, weil viele unserer Eltern nur mit einem Koffer voller Klamotten hier angekommen sind. Aber ich kenne auch genug Menschen, die mit viel Geld gekommen sind. Man kann das nicht so pauschalisieren.

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Joey, 30

VICE: Unterstützen dich deine Eltern finanziell?
Joey: Mein Vater war nie wirklich da und meine Mutter ist tot. Sie hat in einem Wohnheim gelebt und ist im November komplett unerwartet gestorben. Plötzlich musste ich den Totentransport, einen Anzug und die Reise nach Montréal zur Beerdigung bezahlen. Das war keine riesige Summe, aber wenn man  freiberuflich arbeitet und staatliche Unterstützung bekommt wie ich, macht das schon einen Unterschied. Wenn solche unerwarteten Kosten auf mich zukommen, kann ich mir manchmal keine Lebensmittel mehr leisten. 

Was denkst du über das Konzept Erbe?
Manche meiner Freunde sagen sowas wie: “Schon traurig, aber immerhin kriegst du das Haus.” Worüber reden die bitte, welches Haus? Meine Mutter hatte kein eigenes Haus. Für meine Freunde ist der Tod ihrer Eltern die beste Rentenversicherung. Total komisch. 

Wäre deine Situation besser, wenn deine Eltern dir finanziell geholfen hätten?
Meine mentale Gesundheit und meine Ernährung könnten besser sein. Ich könnte mir Früchte und frisches Gemüse leisten. Wenn man weiß, dass man immer zurück zu seinen Eltern gehen kann, hat man ein ganz anderes Sicherheitsnetz. Das gibt einem viel mehr Möglichkeiten.

Eine junge Frau mit glatten blondgefärbten Haaren und einer Jeans-Bluse vor einem Regal mit Yoga-Utensilien

Rachel

Rachel, 26

VICE: In welchem Beruf arbeitest du und wie viel verdienst du?
Rachel: Ich manage die Wellness-Abteilung einer kardiologischen Klinik. Dafür bekomme ich 40.000 kanadische Dollar im Jahr, das sind  ungefähr 26.000 Euro. 

Wie sieht die finanzielle Situation deiner Familie aus?
Vor drei Jahren hat sich mein Vater von seiner Frau scheiden lassen. Seither ist alles aus dem Ruder gelaufen, insbesondere seine finanzielle Situation. Er musste Schulden aufnehmen, damit er vor Gericht um das Sorgerecht für meine 13-jährige Schwester kämpfen konnte. Während dieser Zeit wurde er von einem Auto angefahren und hat seitdem bleibende Behinderungen. Letztes Jahr ist seine Ex-Frau dann unerwartet verstorben. Mein Vater ist jetzt der alleinige Erziehungsberechtigte für meine Schwester. Deswegen habe ich mich entschieden, wieder nach Hause zu meinem Vater und meiner Schwester zu ziehen und sie zu unterstützen. 

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Was halten deine Freunde in Toronto davon?
Sie  muntern mich zwar alle auf, verstehen aber nicht wirklich, wie mein Leben jetzt aussieht. Ich muss sehr viele Abstriche machen. Ich kann nicht mehr auf jede Party gehen. Stattdessen habe ich jetzt Verantwortung für ein Kind. Ich habe weder Instagram noch Snapchat und kriege dafür sehr viel Gegenwind. Aber ich möchte vermeiden, dass ich mit einem Joint oder einem großen Bier in der Hand auf einem Foto getaggt werde. Schließlich hat meine Schwester auch Social Media. Dann halte ich mein Doppelleben lieber geheim.

Kelvin*, 25

VICE: Was für finanzielle Opfer bringst du für deine Familie auf?
Kelvin: Ich wohne bei meinen Eltern, obwohl ich eine Eigentumswohnung in einem zentralen Stadtteil von Toronto besitze. Diese Wohnung habe ich selbst gekauft. Meine Eltern haben mir dabei geholfen, den Kredit zu bekommen, aber ich zahle ihn ab. Momentan vermiete ich meine Wohnung unter und wohne Zuhause, um meinen Eltern mit ihren Rechnungen und ihrem eigenen Kredit zu helfen. 

Wie kam es dazu?
Vor ungefähr zwei Jahren habe ich die hohen Rechnungen meiner Eltern entdeckt. Sie verdienen nicht viel. Sie sind nach Kanada emigriert und haben immer hart gearbeitet, damit mein Bruder und ich eine bessere Zukunft haben konnten. Deswegen fand ich, dass es jetzt meine Aufgabe war, sie zu unterstützen. 

Was denken deine Freunde darüber?
Kommt auf die Freunde an. Manche von ihnen sind in einer ähnlichen Lage und können es daher nachvollziehen. Andere erinnern mich ständig daran, wie viel spaßiger mein Leben wäre, wenn ich in der Stadt leben würde. Aber mich interessiert nicht wirklich, was andere Leute denken. Und ich schulde ihnen auch keine Erklärung. Ich bin froh, dass ich meine Eltern unterstützen kann – und das ist alles, was zählt.

*Name von der Redaktion geändert.

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