Menschen

Nein, du musst dich zu Weihnachten nicht mit deiner Familie versöhnen

So entkommst du den "Ach, ruf sie doch mal wieder an"-Kommentaren.
Eine Illustration zeigt, wie zwei Menschen eine andere Person dazu bringen wollen, die Familie anzurufen
Illustration: Dillon Froelich 

Du hast dich im Laufe der Jahre immer mehr von deiner Familie entfremdet oder stehst ihr zumindest nicht mehr so nahe wie früher? Dann hast du dir bestimmt schon mal die Meinung von anderen Leuten zu deinem angespannten Familienverhältnis anhören müssen. Vielleicht meinen es deine Freundinnen, Partner, Kolleginnen oder Bekannte ja gut, dennoch fühlst du dich deswegen oft so, als wärst du alleine Schuld an der ganzen Situation – und deshalb dafür verantwortlich, alles wieder gerade zu rücken.  

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"Ich glaube, hier herrscht ein Missverständnis vor: Man nimmt oft an, dass Leute, die nicht gut auf ihre Familie zu sprechen sind, einfach übertrieben sensibel sind", sagt Lucy Blake, eine Familienforscherin mit Fokus auf Entfremdung. "Wenn ich mit diesen Leuten rede, kommt aber eigentlich immer heraus, dass ihnen die Entscheidung, den Kontakt zur Familie abzubrechen, weder leicht gefallen ist, noch diese Entscheidung von ihnen vorschnell getroffen wurde." 

Gerade jetzt in der Weihnachtszeit scheinen die schlechten und oftmals ziemlich dummen Tipps von Leuten, die solche verqueren Familienverhältnisse nicht kennen, nicht abzureißen: "Warum rufst du nicht einfach mal wieder zu Hause an?", "Nichts ist wichtiger als Familie" oder "Ist es denn so schwer, die Vergangenheit ruhen zu lassen?" Wie kann man solchen Ratschlägen am besten begegnen? Mit der richtigen emotionalen Vorbereitung ist das gar nicht mal so schwer.


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Die Situation ist nicht so ungewöhnlich oder krass, wie du vielleicht denkst

"Wenn wir an die Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern denken, dann haben wir schnell Bilder im Kopf, wie sie sich gegenseitig unterstützen und oft in Kontakt stehen. Umfragen zeichnen da aber ein anderes Bild", sagt Blake. Bei einer Umfrage unter Studierenden kam zum Beispiel heraus, dass sich 17 Prozent von ihnen von einem engen Familienmitglied entfremdet haben. Und eine andere Studie mit älteren Erwachsenen zeigt, dass ganze zwölf Prozent ihren Kindern nicht mehr nahe stehen. 

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Dennoch ist es nicht gerade schön, wenn du in den Instagram-Storys einer Freundin siehst, wie deren Vater ein liebenswerter Knuddelbär ist, während du mit deinem seit Jahren nicht mehr gesprochen hast. Deswegen sei es sinnvoll, über den Tellerrand des eigenen Freundeskreises hinauszublicken, sagt Andrea Bonior, eine Therapeutin und Autorin des Buches Detox Your Thoughts. "Durch Online-Communitys oder andere Gruppen kommt man mit Leuten in Kontakt, die das Gleiche durchmachen. Das hilft, denn man fühlt sich immer schlechter, wenn man glaubt, dass einen niemand versteht." Reddit-Unterforen wie r/EstrangedAdultChild oder r/raisedbynarcissists sind ein guter Startpunkt, aber auch Bücher liefern helfende Anhaltspunkte.

Nicht jeder muss die Wahrheit über deine Familienverhältnisse erfahren

Entfremdung ist ein komplizierter Prozess. Nicht jeder besitzt die emotionale Grundlage oder Erfahrung dafür, dem Ganzen mit Mitgefühl zu begegnen. Bonior empfiehlt deshalb, genau darüber nachzudenken, mit wem man darüber redet. Dein bester Freund, der immer ein offenes Ohr und gute Ratschläge für dich hat? Auf jeden Fall. Ein anderer Freund, der alles ausplaudert? Lass mal lieber.

Natürlich ist es jetzt in der Weihnachtszeit etwas schwerer, das angespannte Familienverhältnis zu verheimlichen, weil viel darüber gesprochen wird, was man während der Feiertage macht. Bonior empfiehlt, sich für flüchtige Bekannte und Arbeitskollegen eine "respektvoll abblockende" Antwort zu überlegen – etwa "Meine Familie ist nicht so wie viele andere Familien" oder "Es fällt mir schwer, über dieses Thema zu reden". Dieses Jahr hast du durch die Pandemie ein zusätzliches Ass im Ärmel: Sag einfach, dass du dich wegen des Risikos nicht wohl fühlen würdest, wenn du jetzt nach Hause fährst.

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Hol dir die emotionale Unterstützung, die du brauchst – von Leuten, denen du vertraust

Selbst deine einfühlsamsten Freunde können manchmal dazu übergehen, dir ungewollte Tipps zu geben oder irgendetwas ergründen zu wollen. Vielleicht ist das auch lieb gemeint, aber manchmal willst du einfach nicht über deine Familie reden. 

Laut Bonior sind solche Momente der perfekte Zeitpunkt, um das einzufordern, was du brauchst. Vielleicht willst du die Gelegenheit nutzen, um dir deinen Frust von der Seele zu reden. Oder vielleicht willst du lieber über alles andere als deine Familie sprechen, weil du dich gerade besonders einsam fühlst. Niemand kann Gedanken lesen, also sei immer ehrlich zu den Menschen, die dir am nächsten stehen. Nur so können sie wirklich für dich da sein.

Du kannst im Zweifelsfall auch direkt sein

Leider gibt es auch Leute, die dir auch dann weiter ihre Meinung zu deinem Familienverhältnis aufdrängen oder weiter neugierige Fragen stellen, wenn du bereits höflich das Thema wechseln wolltest. In solchen Fällen kannst du laut Bonior ruhig deutlicher werden. 

"Man muss bewusst Grenzen ziehen", sagt die Therapeutin. "Man kann beispielsweise sagen, dass einen die komplizierte Situation frustriert und es schwierig ist, der anderen Person den ganzen Zusammenhang zu erklären. Oder man kann betonen, dass man die eigene Vorgehensweise für absolut richtig hält." Das ist dein eigener Konflikt, der viel komplizierter ist, als es manche Leute überhaupt verstehen können. Mach deinen Gesprächspartnern ruhig klar, dass du einfach nicht mehr mit ihnen redest, wenn sie das Thema weiter anschneiden.

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Vergiss nie, dir Zeit für dich selbst zu nehmen

Selbst wenn du ein enges Verhältnis zu deiner Familie pflegst, ist es in Zeiten der Pandemie wichtiger denn je, dass du dich auch mal um dich selbst kümmerst.

Was dabei helfen kann: Freiwilligenarbeit. "Das klingt vielleicht klischeehaft, aber man fühlt sich schnell besser, wenn man anderen Menschen hilft – gerade in der Weihnachtszeit", sagt Bonior. Was du zum Beispiel tun kannst, ohne gegen Corona-Auflagen zu verstoßen: schreibe älteren Menschen, tritt einem Mentoren-Programm bei, übernehme die Einkäufe von Leuten, die gerade nicht dazu in der Lage sind, oder spende an gemeinnützige Organisationen.

Abgesehen davon ist es vor allem wichtig, die eigene Balance zu finden. "Wir müssen auf unseren Schlaf achten, wir müssen uns bewegen, wir müssen auch mal raus, wir müssen jeden Tag auch mal abschalten und die kleinen Dinge genießen – kleine Dinge, die gerade im Stress der Weihnachtszeit umso bedeutender sind", sagt Bonior. Die eventuelle Einsamkeit vorauszusehen und etwas gegen sie zu unternehmen, sei immer noch die beste Lösung.

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