Lukas vor einem Café in Neukölln
Alle Fotos: Yasmin Nickel
10 Fragen

10 Fragen an einen Menschen mit Glasknochen, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Wie oft brechen Menschen dir aus Versehen einen Knochen? Nerven dich andere Menschen mit Behinderung? Was musst du beim Sex beachten?

Eine Internetseite zu barrierefreiem Reisen listet das Neuköllner Café, in dem ich Lukas treffe, unter den besten fünf rollstuhlgerechten Cafés Berlins. Trotzdem unterhalten wir uns an einem Außentisch, denn die Betreiber haben keine Rollstuhlrampe für die Stufe am Eingang. "Deutschland ist bei der Barrierefreiheit ähnlich weit zurück wie bei der Digitalisierung", sagt Lukas. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen, weil seine Beine sein Gewicht nicht tragen können. Er reise viel und außer Paris sei in dieser Hinsicht keine Großstadt, in der er war, so schlecht wie Berlin, sagt der 30-Jährige.

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Lukas hat Osteogenesis imperfecta, manche Leute sagen dazu Glasknochen-"Krankheit". Er selbst vermeidet diesen Zusatz – wie viele der 6.000 Menschen mit Glasknochen in Deutschland. Heute rege er sich nicht mehr darüber auf, wenn jemand die Behinderung als Krankheit bezeichnet, sagt er: "Das ändert ja nichts. Ich sehe mich nicht als krank. Ich bin ja nicht eines Tages aufgewacht und hatte Glasknochen. Das ist mein Normalzustand und geht auch nicht mehr weg."


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Osteogenesis imperfecta wird häufig vererbt. Lukas' Eltern aber haben keine Glasknochen. "Ich bin eine sogenannte spontane Mutation. Irgendwann im Verlauf der Teilung der Zellen ist irgendwas anders gelaufen und dadurch ist ein Kollagen mutiert", sagt Lukas, der seine Doktorarbeit in Kommunikationswissenschaft und Philosophie fast fertig hat und zur Zeit überlegt, in welchem Feld er danach arbeiten will. Um fit zu bleiben, geht er jede Woche Schwimmen und zum Yoga. "Wenn ich das beides mache, ist alles cool. Wenn ich drei Wochen nichts mache, zeigt mir mein Rücken den Mittelfinger", sagt Lukas.

Wir haben Fragen.

VICE: Wie viele Knochenbrüche hattest du schon?
Lukas: Zählst du Rippen als Knochen? Dann weiß ich's nicht. Ohne Rippen so 25. Arme, Beine und einmal den Schädel, das kann ich übrigens nicht empfehlen. Ich hab aus meinem Rollstuhl einen Köpper auf das Kopfsteinpflaster gemacht, als ich eine hohe Stufe am Bordstein übersehen habe. Den letzten Bruch hatte ich 2012 oder 2013, das war die Hüfte. Im Erwachsenenalter sind die Brüche viel weniger geworden. Als Kind ist man, auch mit Glasknochen, unvorsichtiger. Außerdem werden die Knochen mit der Zeit tatsächlich stabiler.

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Wie oft brechen Menschen dir aus Versehen einen Knochen?
Im Kindergarten hat sich mal ein anderes Kind auf mein Bein gestützt und es gebrochen, als ich im Sandkasten saß. In der Schule ist das mal beim Rangeln passiert. Seit der Kindheit hat mir aber niemand mehr aus Versehen was gebrochen.

Ist es dir unangenehm, wenn Menschen dich vermeintlich bevorzugt behandeln?
Eine Weile war das so. Mittlerweile sehe ich es als gerechten Ausgleich dafür, dass ich einfach verdammt oft die Arschkarte ziehe. Das äußert sich nur in kleinen Situationen, aber die kleinen Situationen machen ja den Alltag bunt.

Ich war zum Beispiel mit einem Kumpel auf der Reeperbahn feiern, der auch Glasknochen hat und im Rollstuhl sitzt. Irgendwann haben wir im Suff beim Späti zwei Flaschen Wasser gekauft, weil wir es für eine gute Idee hielten, mal von Bier auf Wasser umzusteigen. Der Spätimann hat uns die beiden Flaschen geschenkt. Mein Kumpel hat sich mega aufgeregt und meinte: "Das machst du nur, weil wir im Rollstuhl sitzen." Ich meinte dann: "Ist doch scheißegal, warum er das macht. Wenn er sich davon besser fühlt, dann lass ihn doch." Wenn es positive Gesten sind, kann ich sowas gut annehmen. Auch wenn mir Hilfe angeboten wird, wo ich keine brauche, bleibe ich freundlich, damit die Leute nicht verschreckt sind. Damit cool umzugehen, ist auch eine Verantwortung von Leuten mit Behinderung.

Bist du im Alltag auf fremde Hilfe angewiesen?
Im Supermarkt komme ich an viele Dinge nicht ran und muss Leute fragen, ob sie mir helfen. Deswegen mag ich türkische Supermärkte so gerne. Da hilft mir immer jemand mit dem Gemüse, der da eh rumchillt. Und drinnen sind auch immer viele Leute. Wenn du zur falschen Uhrzeit in einen Rewe gehst, ist da halt niemand, der hilft.

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Ich bin auch froh um jede Tür, die mir aufgehalten wird. Oder wenn jemand mir nach dem Einkaufen hilft, Getränkekästen in den Kofferraum zu laden. Ich fahre selbst Auto und kann da auch selbstständig einsteigen und meinen Rollstuhl einladen. Ich tanke auch alleine. Da fahre ich einfach so an die Zapfsäule, dass ich mit dem Rollstuhl gut zwischen Auto und Zapfsäule passe. Das Auto ist mein Ticket zur Freiheit.

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Lädst du auf Datingprofilen nur Porträtbilder hoch?
Die Behinderung ist ja nicht zu übersehen. Das ist einfach ein Teil von mir und jeder, der mich kennenlernt, ist damit konfrontiert. Das ist eine Eigenschaft von mir, aber nicht die einzige. Wenn ich neue Leute kennenlerne, bekomme ich ganz unterschiedliche Reaktionen. Die schwierigste Reaktion ist, nicht zuzugeben, dass man ein Problem mit meiner Situation hat. Damit kann ich am wenigsten umgehen.

Was ist das Schlimmste an deiner Behinderung?
Zum einen, dass ich viele Sachen nicht machen kann, obwohl sie möglich wären – dass ich mich für viele Jobs gar nicht bewerben brauche, weil die nicht in barrierefreien Büros sind. Das ist schon richtig scheiße. Dazu kommt, dass ich oft auf die Behinderung reduziert werde. Das Gegenüber hat oft schon eine Vorstellung davon, was ich kann und was ich nicht kann. Ich bin zum Beispiel nie ernstlich krank. Aber ich weiß, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bei einer Bewerbung davon ausgehen, dass ich oft ausfalle. Das finde ich mega ungerecht. Deswegen geben einige Leute, denen man das nicht ansieht, ihre Behinderung in der Bewerbung gar nicht an.

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Es gibt manchmal Phasen, in denen mir meine Behinderung richtig auf den Sack geht. Wenn ich zum Beispiel auf Wohnungssuche bin und merke, dass 99 Prozent der Wohnungen nicht geeignet sind. Da denke ich mir schon mal: "Wenn ich schon eine Behinderung hab, wieso lebe ich dann auch noch in einer Stadt, in der es kaum sozialen Wohnungsbau gibt?"

Oder wenn ich merke, dass ich nicht spontan in die Schaubühne gehen kann, weil die drei Wochen vorher Bescheid kriegen müssen, sodass sie einen Sitz ausbauen. Da denke ich mir: "Entschuldigung, ihr seid ein staatlich unterstütztes Theater. Könnt ihr bitte mal möglich machen, dass ich genauso ins Theater gehen kann wie alle anderen auch?"

Wie schlimm war es, als Kind nicht einfach mit anderen Kindern Fangen spielen zu können?
Darüber hab ich mir als Kind nicht so viele Gedanken gemacht. Ich kannte ja keinen anderen Zustand, als Glasknochen zu haben. Meine Eltern und meine Freunde haben sich immer Mühe gegeben, mich mit einzugliedern: zum Beispiel auf Kindergeburtstagen. Ich war in einem integrativen Kindergarten mit zwei anderen Kindern mit Behinderung. Wir hatten jeweils einen Zivi, der uns ein bisschen geholfen hat. Dadurch war ich immer auch unter Kindern ohne Behinderung.

Wenn man Kinder machen lässt, sind sie viel offener, ein anderes Kind zu integrieren. Ich glaube, die Probleme gehen dann los, wenn die Eltern reingrätschen. Bei einem Kind mit Glasknochen müssen die Eltern natürlich ein bisschen was regeln und den anderen Kindern sagen: "Seid vorsichtig." Da will man nicht erst warten, bis der Arm gebrochen ist. Trotzdem glaube ich, dass Kinder im sozialen Umgang geschickter und natürlicher sind, als man es ihnen zutraut.

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Was musst du beim Sex beachten?
Es wäre ganz gut, wenn sich niemand zu sehr auf mich stützt. Oder besonders fest auf mich drauf setzt.

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Hast du weniger Angst vor dem Tod, weil du dich schon oft damit auseinandersetzen musstest?
Ich glaube, wir haben alle gleich viel Angst vor dem Tod. Bei dem Schädelbruch dachte ich schon: "Fuck, das hätte auch anders enden können." Das hat mir zu denken gegeben. Danach war mir sechs Wochen lang ständig übel. Bis der Bruch verheilt war, hat es acht oder zehn Wochen gedauert. Trotzdem kann ich mir den Tod überhaupt nicht vorstellen.

Nerven dich andere Menschen mit Behinderung?
Wenn ich jetzt Ja sage, komme ich in die Hölle, oder? Aber ja, manchmal. Mich regt grundsätzlich, absolut unabhängig von der Behinderung, Selbstmitleid auf. Natürlich kann es einem mal scheiße gehen und natürlich heult man dann mal ein bisschen rum, das ist ja völlig in Ordnung. Aber irgendwann muss man damit auch wieder aufhören. Ich finde es schwierig, wenn andere Menschen mit Behinderung sich selbst auf ihre Behinderung reduzieren und ständig sagen: "Das geht ja nicht, wegen meiner Behinderung." Meine Güte, ich spiel auch kein Rugby. Konzentriert euch doch lieber auf die Sachen, die gehen.

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