Eine Illustration zeigt drei Menschen, die sich ihre mit bunten Punkten übersäte Haut vom Gesicht ziehen; Betroffene und Expertinnen erzählen uns von der Krankheit Skin-Picking, bei der man sich wie besessen die Haut und Pickel aufkratzt und zupft
Illustration: Frederic Fleury
Menschen

"Ich muss meine Haut einfach berühren. Das ist wie eine Droge."

Die eigene Haut drücken, quetschen, zupfen – wie es ist, mit der Krankheit Skin-Picking zu leben.

In Chloés Leben sind zwei Dinge besonders wichtig: ihr Handy und ihre Haut. Für die 19-Jährige ist nichts schlimmer als ein hormonell bedingter Akne-Ausbruch. Der tritt natürlich genau dann auf, wenn ein Date ansteht.

Wird dieser Albtraum für Chloé Wirklichkeit, rennt sie sofort ins Badezimmer, betrachtet den Pickel im Vergrößerungsspiegel ganz genau und drückt und kratzt drauflos. Nach einer guten halben Stunde ist der Pickel meistens weg, an seiner Stelle befindet sich nun eine frische Wunde. Dates und Partys kann Chloé dann vergessen. Sie geht in den nächsten Tagen nicht raus, höchstens in die Apotheke.

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Chloé hat Dermatillomanie, auch bekannt als Skin-Picking. Wie der Name schon verrät, zupfen, drücken, kratzen und knibbeln Menschen mit dieser Krankheit wie besessen an ihrer Haut, an Pickeln, an Hautfetzen oder an eingewachsenen Haaren. Zu den Auslösern für Skin-Picking zählen Stress, Angstzustände oder Langeweile. Manchmal wird die Störung auch durch andere Hautkrankheiten wie Ekzeme oder Akne hervorgerufen.

Das Fiese an Skin-Picking: Je mehr man an der Haut kratzt und drückt, um "perfekt" auszusehen, desto eher entstehen Narben und Wunden. Dieser Teufelskreis vor dem Badezimmerspiegel kann zu Scham- und Schuldgefühlen oder gar zu sozialer Isolation führen.


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"Meine Haut ist mir wichtiger, als mich mit Freundinnen zu treffen oder für die Schule zu lernen", sagt Chloé. Diese Obsession mit ihrer Haut habe sich durch ihre ganzen Teenagerjahre gezogen: "Ich muss meine Haut einfach berühren. Das ist wie eine Droge. In meiner Fantasie ist meine Haut nach dem ganzen Zupfen und Drücken perfekt. In der Realität geht sie kaputt. Ich blute. Meine Haut verkrustet. Dann will ich nicht mehr rausgehen. Ich schäme mich so sehr."

Die französische Psychotherapeutin Karine Blondeau hat einen Instagram-Account erstellt, auf dem es nur um Skin-Picking geht. Sie will den Followerinnen und Followern helfen, besser mit der Krankheit klarzukommen: "Dermatillomanie verursacht viel Schmerz und Leid", sagt sie. "Und leider gibt es nur sehr wenige Hilfsangebote."

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Blondeau sagt, dass Cis-Frauen eher dazu neigen würden, obsessiv an ihrer Haut zu knibbeln. Vor allem junge Cis-Frauen mit Hang zum Perfektionismus und wenig Selbstvertrauen seien betroffen. Man müsse aber beachten, dass das Problem nicht die Haut selbst sei. "Entscheidend ist, dass Betroffene wie besessen davon sind. Und das verdeckt oft andere Probleme", sagt die Psychotherapeutin.

"Sie alle hatten reine Haut, während ich eine pickelige Teenagerin war."

Chloé hat erst durch Instagram mehr über ihre Erkrankung erfahren. Die Social-Media-Plattform zeigte ihr Informationen von Influencerinnen und Expertinnen wie Blondeau. Chloé bekam ihr erstes Smartphone mit 15 Jahren, etwa zur gleichen Zeit veränderte sich ihre Haut. "Ich sah, wie andere Mädchen superhübsche Fotos von sich selbst posteten", sagt sie. "Ich habe mich dann immer mit ihnen verglichen und bekam so richtige Komplexe. Sie alle hatten reine Haut, während ich eine pickelige Teenagerin war."

Wie Blondeau nutzt auch die Hautärztin Audrey Perret-Court Instagram und YouTube, um Menschen zu erreichen, die Probleme mit ihrer Haut haben. Und das, obwohl sie weiß, dass soziale Medien Krankheiten wie Skin-Picking verschlimmern können.

Ein Grund dafür sei laut Perret-Court, dass Social-Media-Plattformen die Nutzerinnen und Nutzer dazu animieren, ein Selfie nach dem anderen zu posten. "Wenn du dich mit deinem Gesicht nicht wohl fühlst, kannst du dich kaum mitteilen", sagt sie. 

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Natürlich hat Instagram unsere Vorstellung von perfekter Haut nicht erfunden, und die jungen Menschen von heute sind nicht die ersten, die sich darum sorgen. In vielerlei Hinsicht verstärkt die Plattform negative Gefühle aber.

Auch die 31-jährige Autorin Camille Montaz litt während ihrer Schulzeit jahrelang unter Hautproblemen – weil sie sich immer mit den perfekt aussehenden Jungs und Mädchen aus den Schulbüchern verglichen habe, sagt sie. Erst zehn Jahre nach ihrem Abschluss fand sie im Internet hilfreiche Tipps gegen Skin-Picking und kam durch eine Therapie auf das Thema Achtsamkeit. 2019 veröffentlichte Montaz mit My Dermatillomania Story ein Buch über ihre Zeit mit der Krankheit. Ihre wichtigste Erkenntnis: "Irgendwann wurde mir klar, dass die Leute mich für meinen Charakter wertschätzen und meine Haut ignorieren."

"Schmeiß deinen Vergrößerungsspiegel weg. Das ist ein toxisches Accessoire."

Aber wie lässt sich Skin-Picking nun überwinden? Für die Hautärztin Perret-Court besteht der erste Schritt darin, zu verstehen und zu akzeptieren, dass es die "perfekte" Haut nicht gibt. Danach muss man natürlich den Ursprung des Problems behandeln, etwa die Akne selbst.

Perret-Court hat noch einen weiteren Tipp: "Schmeiß deinen Vergrößerungsspiegel weg. Das ist ein toxisches Accessoire." Eine zusätzliche Therapie sei auch nie verkehrt. Skin-Picking ist nämlich eine psychische und dermatologische Krankheit. Und wenn man gesund werden will, muss man beide Seiten behandeln.

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