Menschen

Warum ich mich zurück in meine Drecks-WG wünsche

Zu zweit trinkt man einen Wein. Zu dritt geht man saufen. Ich würde gerne mal wieder Shot-Gläser mit süßer Plörre in die Luft strecken und dabei Unsinn brüllen.
Ein Tisch mit vollen Aschenbechern und leeren Bierflaschen, so sah es in der WG des Autors aus, in die er sich jetzt wegen Corona zurücksehnt
Die Wunsch-WG des Autors | Foto: Robert Hofmann
In dieser Serie berichten wir über das Lockdown-Leben: Über Stimmungen und Hoffnungen und über alles, was wir vermissen.

Einmal war in meiner WG ein Wasserhahn durchgerostet und abgefallen. Aus dem miefigen roten Loch wuchs nach einigen Wochen ein Keimling, frisch und grün. Wir bewunderten, gossen und fotografierten ihn, um unsere Studi VZ-Freunde daran teilhaben zu lassen. Irgendwann machte jemand das Wasser an und spülte den Keimling auf den Badezimmerboden. Das Abflussrohr war nämlich zwischendurch auch schon durchgerostet.

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Damals dachte ich, dass dieser Keimling, der in den Augen unserer Bekannten schon sinnbildlich geworden war für unsere WG, auch auf nicht hämische Weise für unser Zusammenleben stand. Denn mit dem Tod der Pflanze blieb einfach nur noch Müll. Müll, Dreck und Zerstörung. Die WG hatte ihren Zenit überschritten. Bald wurde das Wohnverhältnis aufgelöst. Ich war froh darüber.


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Eigentlich bin ich zu alt für WGs. Das habe ich mir schon vor fünf Jahren gesagt und bin dann doch wieder in eine gezogen. Und dann in noch eine. Und noch eine. Aber eigentlich dachte ich vor fünf Jahren erstmals und seitdem immer wieder, dass so eine Wohnung für mich allein mir eher entsprechen würde. Da müsste ich auf niemanden Rücksicht nehmen und niemand auf mich. Freiheit halt. Aber seit Frühjahr 2020 hat sich dieser Wunsch zurückentwickelt. Heute denke ich oft zurück an meine Studi-WG-Zeiten. 

Am schönsten waren WG-Sonntage. Wir lagen dann oft zu viert oder fünft auf meiner schwarzen Ledercouch, schauten Actionfilme aus den 80ern und aßen das Menü A1 von Ris-A Chicken, 10 Chilliwings mit Pommes. Das heiße Fett platzte uns aus der Panade auf die Zunge, der Kater dröhnte in unseren Köpfen und wir hätten keinem Film folgen können, der mehr von uns verlangt hätte, als Freude an Explosionen zu haben. Dementsprechend still war dann auch abends das schlechte Gewissen darüber, dass wir wieder nichts für die Uni oder den Lebensunterhalt getan hatten. 

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Mittlerweile wohne ich in einer Zweier-WG. Wir sind zwei Männer zwischen 33 und 47. Wir verstehen uns gut, sind aber nur bessere Bekannte. Wir teilen unser Leben nicht miteinander, auch wenn ich es manchmal aus seinem Zimmer klatschen höre, wenn er Besuch hat, und er meinen Besuch meistens in Unterhose begrüßt. Er beteuert dann kokett, sein Zimmer normalerweise nur angezogen zu verlassen, was nicht wahr ist. Das ist alles OK und besser als nichts, aber es reicht mir nicht. Denn eine einzelne Person ist kein Ersatz für soziale Kontakte. Für den echten, bereichernden Austausch braucht man mindestens zwei Menschen, die nicht man selbst sind. 

Zu dritt erst entwickelt man diese Dynamik, die neue Gedanken entstehen lässt. Zu zweit vertieft man die, die man sowieso hatte, aber zu dritt kann man neue Ideen entwickeln, Blödsinn machen und, das will ich gar nicht unterschlagen, auch mal wieder richtig exzessiv werden. Zu zweit trinkt man einen Wein. Zu dritt geht man saufen. Ich würde gerne mal wieder saufen, Shot-Gläser mit süßer Plörre in die Luft strecken und dabei Unsinn brüllen. 

Als ich 2009 nach Berlin zog, gründete ich mit einem guten Freund die anfangs erwähnte Vierer-WG. Ich hatte die Zeit meines Lebens. Bis ich nach fünf Jahren meine Mitbewohner und die Wohnung nicht mehr sehen konnte. Aber bis zu dem Zeitpunkt war jeder Tag golden und schön. Morgens tranken wir Kaffee zusammen und abends Bier. Manchmal kochten wir gemeinsam, oft saßen wir einfach nur nebeneinander in der Küche und lasen Zeitung. 

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Natürlich war an der Zeit auch so schön, dass ich mehr Freizeit hatte, als es Serien gegeben hätte. Aber auch davon abgesehen war das WG-Leben wundervoll. Ich hatte immer, wenn ich wollte, Menschen um mich. Wie in einer Familie. Nur dass ich diese Menschen auch um mich haben wollte. Es war wie eine Liebesbeziehung, aber ohne die lästigen emotionalen Pflichten. Außerdem trug niemand die Verantwortung für die anderen. Klar, wir meldeten uns ab, wenn wir längere Zeit nicht zu Hause waren oder fragten nach, wenn jemand Sonntagabend immer noch nicht nach Hause gewankt kam. Aber im Prinzip vereinte das Verhältnis zu meinen Mitbewohnern die besten Dinge aus all meinen vorherigen Beziehungen, ohne dass die Nachteile mit eingezogen wären.

Wir waren füreinander da, wenn Girl- oder Boyfriend Schluss gemacht hatte. Wir wussten, wenn einer Besuch hat, dann dürfen alle mitmachen. Am Wochenende war unsere Küche immer voller Menschen, die auf dem klebrigen Tisch, den ich aus dem Haus meiner Großeltern mitgenommen hatte, Kippen ausdrückten, Drogen nahmen und tanzten. 

Als meine Mitbewohnerin sich einmal in einen meiner Freunde verliebte, zog der einfach in unsere Abstellkammer. Von da an waren wir zu fünft. Er zahlte keine Miete, arbeitete kaum, studierte nicht, schlief dafür aber regelmäßig und lautstark mit ihr. Gemeinsam waren die beiden so unordentlich, dass sich von der Kammer, durch die Küche bis zu ihrem Zimmer eine Schneise des Drecks zog, mit der aber alle gut leben konnten, weil wir den beiden ihr junges Glück gönnten, auch wenn sie manchmal im Streit alle Teller und Gläser kaputtschmissen.

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Heute gehe ich manchmal mit ein oder, selten, zwei Freunden spazieren. Wir erzählen uns dann, was in unserem Leben passiert, und das ist meistens nicht viel. Nach einer ersten Flasche Wein trinken wir eine zweite und dann noch ein Bier. Dann gehe ich nach Hause, bestelle mir Sushi, schlafe vor Netflix ein und dann ist das Wochenende auch schon wieder vorbei. Währenddessen gibt es Menschen, bei denen drüben in der Küche immer Menschen sitzen, die lachen und weinen und brüllen und darauf warten, dass man sich zu ihnen setzt. 

Ich kann noch nicht mal Zeit mit meinen Freunden verbringen, ohne zwei lange Unterhosen anziehen zu müssen. Ich kann dabei keine Gesellschaftsspiele spielen oder Computer oder auch einfach nur gemeinsam mit jemandem essen. Seit November leistet mir lediglich ein bläulich flackernder Bildschirm Gesellschaft beim Abendbrot, das ich eine Stunde lang zubereite und dann in zehn Minuten runterschlinge. Nudeln in fünf. 

In den Vierer-WGs genießen sie derweil das Leben als ein Haushalt, als eine Infektionsgemeinschaft, gehen gemeinsam spazieren, treffen andere Vierer-Haushalte und tun so, als würde es ihnen etwas abverlangen, sich an die Regeln zu halten, die andere in die Einsamkeit zwingen. WGs sind derzeit einfach ultra privilegiert. 

Natürlich streiten WGs sich auch mal. Einmal haben mein Kumpel und ich uns drei Monate lang angeschwiegen, weil ich aus Trotz mein Fahrrad vor seine Zimmertür gestellt hatte – worum es genau ging, weiß ich nicht mehr. Einmal haben wir aber auch ein Bad aus VHS-Kassetten im Flur eröffnet und unsere Nachbarn eingeladen, sich mit uns darin zu wälzen, nachdem das Regal eingestürzt war, in dem wir unsere Video-Sammlung gelagert hatten. 

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Außerdem ist Streit auch etwas Menschliches. Und ich wüsste nicht, wann ich mich zuletzt mit jemandem gestritten habe. In Corona-Zeiten sind zwischenmenschliche Begegnungen so selten und wertvoll, dass man sie nicht durch Reibung gefährden will. Dabei kann es befreiend sein, so richtig zu brüllen, sich zu beleidigen und hinterher ein Friedensbier zu trinken. Ich will, dass Konflikte, echte Aggressionen, wieder selbstverständlicher sein dürfen. Vielleicht will ich aber auch einfach nur mal wieder etwas fühlen, was nicht durch Filme oder Serien angeregt wurde. 

Um ehrlich zu sein, habe auch ich keine Lust, täglich wütend zu sein über Geschirr in der Badewanne und Pisse im Spülbecken. Oder ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich wieder zwei Stunden in der Badewanne liege. Aber ich will Gesellschaft ohne schlechtes Gewissen. Ich will Menschen um mich. Ich will in einer Situation leben, in der es normal und sozial akzeptiert ist, mehr als eine Person in 3D zu sehen, ohne dafür das Haus verlassen zu müssen.

Als wir die WG auflösten, feierten wir vorher noch mal eine Party. Der Vermieter hatte schon angedeutet, dass die Wohnung nach uns luxussaniert würde und wir uns nicht um Renovierungen zu kümmern brauchten. Also durften unsere Gäste zerstören, was sie zerstören wollten. Wir teilten Filzstifte aus, damit sie die Wände bemalen konnten und regten an, doch an der Tapete zu zerren. Bevor man Neues schaffen kann, muss man Altes zerstören. Das fühlte sich richtig an, wie der Polterabend in der Nacht, bevor alles besser wird. Heute weiß ich: Ich habe mich geirrt.

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