Gefängnis

Eine Inhaftierte erzählt, wie sie die Corona-Epidemie im Gefängnis erlebt

"Die Bediensteten gehen hier weiterhin jeden Tag ein und aus. Keiner von denen trägt Mundschutz oder Handschuhe, obwohl das Material vorhanden ist."
Eine Person schaut im Gefängnis aus dem Fenster
Symbolfoto: imago images | Lichtgut

Das Coronavirus überwindet alle Barrieren, auch Gefängnismauern. Nicht nur der ehemalige Filmproduzent Harvey Weinstein wurde in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis positiv auf das Virus getestet. Auch in Deutschland gibt es in der JVA Hamburg den ersten bestätigten Corona-Fall unter Inhaftierten. In mehreren Bundesländern sind bereits COVID-19-Infektionen bei Gefängniswärtern bekannt.

Weil im Knast Hunderte Menschen auf engstem Raum leben, ist das Ansteckungsrisiko dort besonders hoch. Viele Gefängnisse haben deshalb präventiv alle Besuche untersagt und Lockerungen für die Gefangenen aufgehoben. In Italien führten die strikten Maßnahmen bereits zu Gefängnisaufständen. Gefangene legten Feuer oder versuchten zu fliehen. Mindestens sechs Menschen starben dabei. Zwei Männer in einer sächsischen Jugendstrafanstalt legten in der letzten Woche ebenfalls einen Brand in ihrer Zelle, in der JVA Berlin-Tegel starb ein Mann nach einem Feuer in seiner Zelle – das Motiv ist in beiden Fällen noch unklar. Einige Bundesländer haben bereits erste Häftlinge nach Hause geschickt und kürzere Freiheitsstrafen ausgesetzt. Und Frankreich hat angekündigt, 5.000 Häftlinge zu entlassen, um Ausschreitungen zu verhindern.

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Ruth sitzt in einem Gefängnis in Sachsen ein – um ihre Identität zu schützen, haben wir ihren Namen geändert. Wir haben mit ihr telefoniert und sie gefragt, wie angespannt aus ihrer Sicht die Stimmung in deutschen Knästen gerade ist.

VICE: Wie ist die Stimmung im Gefängnis in Zeiten von Corona?
Ruth: Die Stimmung unter den Gefangenen ist arg angespannt. Die Situation ist bestimmt von Angst, Sorge und Ungewissheit.

Was bekommt ihr im Gefängnis von der Pandemie mit?
Wir werden von offizieller Seite kaum informiert. Neue Infos kommen, wenn überhaupt, nur alle paar Tage. Die Anstaltsleitung hier hat sich das letzte Mal vor rund einer Woche geäußert, was für Änderungen im Vollzug anstehen. Da hieß es, man wolle uns ermöglichen, mehr zu telefonieren, weil wir jetzt keinerlei Besuch mehr empfangen dürfen. Passiert ist davon nichts. Damit keine neuen Gefangenen das Virus in den Knast bringen, sollte es eine neue Zugangsstation geben, hat die Anstaltsleitung geschrieben. Auch das wurde bisher nicht umgesetzt. Gleichzeitig sollen die Gefangenen in der Näherei jetzt Atemschutzmasken für die Polizei nähen. Da wurden schärfste Sanktionen angedroht, wenn auch nur eine einzige Maske wegkommen sollte.


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Hält sich das Personal an alle Vorsichtsmaßnahmen?
Die Bediensteten gehen hier weiterhin jeden Tag ein und aus. Keiner von denen trägt Mundschutz oder Handschuhe, obwohl das Material vorhanden ist. Jeder Mitarbeiter hat direkten oder indirekten Kontakt mit den Gefangenen. Die Angst, sich hier anzustecken, ist riesig. Vor zwei Wochen sollten die Hausarbeiterinnen hier noch regelmäßig Türgriffe und andere Flächen desinfizieren. Dann kam plötzlich die Order, man müsse sparen, sonst gehe das Desinfektionsmittel aus. Es weiß keiner, in welche Richtung das hier geht.

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Anm. d. Red.: Das sächsische Justizministerium schreibt auf Anfrage, dass keine zusätzliche Zugangsstation eingerichtet worden sei. Nach aktuellen Stand seien Atemschutzmasken und Einweghandschuhe in ausreichender Anzahl vorhanden. In der JVA Chemnitz seien seit Beginn des Ausbruches des Corona-Virus als Vorsorgemaßnahme die Reinigungsintervalle erhöht worden. Dazu gehöre auch das regelmäßige Abwischen von Türgriffen und anderen relevanten Flächen mit Seifenlauge und Putzmitteln durch die Hausarbeiterinnen. Diese Vorsorgemaßnahmen bestehen weiterhin, schreibt das Ministerium. Außerdem hätten sich die Bediensteten an die Vorgaben des Robert Koch-Institutes zu halten und trügen demnach "im Zugangsbereich und bei medizinischen Untersuchungen von unter Corona-Verdacht stehenden" Schutzausrüstung.

Wie gut ist eure Betreuung durch medizinisches Personal?
Die medizinische Versorgung im Gefängnis ist seit jeher quasi nicht gegeben. Schon vergleichsweise harmlose körperliche Beschwerden bekommt der medizinische Dienst im Knast nicht unter Kontrolle. Viele Gefangene gehören zur Risikogruppe. Ich habe gestern noch mit einer Mitgefangenen gesprochen, eine 72-Jährige, die eine schwere Lungenvorerkrankung hat und die kaum versorgt wird. Bei ihr wurde seit Wochen nicht einmal mehr Blutdruck gemessen. Wie soll das denn werden, wenn wir hier Corona-Fälle haben?

Ist die psychische Belastung für dich momentan größer als sonst?
Besuche sind bis auf wenige Ausnahmen komplett untersagt, selbst für Anwälte ist es gerade nur noch schwer möglich. Meine Kinder jetzt vielleicht über Monate nicht sehen zu können, macht mich wirklich fertig. Die psychische Belastung ist riesig. Was passiert, wenn hier ein Corona-Fall im Knast ist? Werden wir da überhaupt informiert, oder versucht man, das dann geheim zu halten? Dazu kommt die Sorge um die Angehörigen draußen, über die man im Unklaren bleibt. Meine Mutter und meine Tochter zählen beide zur Risikogruppe.

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Wie versucht die Anstaltsleitung, die Situation zu entschärfen?
In anderen Bundesländern gibt es schon Maßnahmen, damit Gefangene statt der Besuche übers Telefon den Kontakt zu Angehörigen halten können. In Sachsen ist da bisher nichts passiert. Aktuell dürfen wir weiterhin nur wenige vorher genehmigte Nummern anrufen, die Gebühren sind hoch, ein Gespräch mit der Familie kostet schnell fünf oder zehn Euro und anrufen kann man uns nicht. Viele Gefangene können sich das nicht leisten.

Hast du Sorge, dass die Stimmung in den Knästen kippt?
Definitiv. Das wird vermutlich nicht mehr lange dauern, wenn wir weiter in Ungewissheit leben. Da werden hier garantiert bald einige Leute auf die Barrikaden gehen.

Bekommt ihr im Knast mit, dass es in Brasilien und Italien schon zu Ausschreitungen und Aufständen in Gefängnissen gekommen ist?
Natürlich. Protest gibt es auch in Deutschland schon. In der JVA Köln ist eine Gefangene vor einigen Tagen in den Hungerstreik getreten. Sie war im Offenen Vollzug und da wurden alle Lockerungen gestrichen. Keine Besuche, kein Handy, keine eigenen Hygieneartikel mehr. Jetzt hat man sie wieder in den geschlossenen Vollzug gesteckt. Der Informationsaustausch zwischen den Gefängnissen funktioniert in Deutschland unter Gefangenen ziemlich gut. Das ist ein Pulverfass.

Anm. d. Red.: Die Leiterin der JVA Köln-Ossendorf bestätigte VICE, dass besagte Gefangene kürzlich vom Offenen in den Geschlossenen Vollzug verlegt wurde – unter anderem weil sie verbreitet hatte, sie sei in den Hungerstreik getreten. Laut Anstaltsleitung sei die Gefangene jedoch zu keinem Zeitpunkt im Hungerstreik gewesen, sondern habe "unwahre Behauptungen" verbreitet.

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Was könnte im schlimmsten Fall passieren?
Das Schlimmste wäre, dass die Leute komplett durchdrehen, weil sie psychisch am Ende sind. Dass es zu Gewaltexzessen kommt, auch unter Gefangenen. Oder dass es noch mehr Selbstmorde in den Gefängnissen gibt. In Baden-Württemberg gab es bereits den ersten Suizid, nachdem die Besuchsverbote erlassen wurden. Auch diese Info kam hier an. Das wird auch nicht der letzte gewesen sein, denke ich. Gerade ist alles denkbar.

Was sollte jetzt unternommen werden, um die Situation zu entschärfen?
Als Allerstes sollten uns die Anstaltsleitungen vernünftig informieren. Aktuell wurden bereits einige Gefangene entlassen, auch da sollte man gucken, was noch geht. Risikogruppen entlassen und so weiter. Dass ein Mörder wegen Corona nicht entlassen werden kann, ist klar und es ist auch klar, dass die Gefängnisse nicht komplett leergeräumt werden. Natürlich muss die Sicherheit hier gewährleistet bleiben, aber die Gesundheit aller sollte doch gerade an erster Stelle stehen. Auch die Gesundheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

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