Eine leichtbekleidete Tänzerin sitzt auf einer Kommode in einem Ankleidezimmer, der Fotograf Mitch Epstein hat das Leben in Indien in den 1980ern festgehalten.
Alle Fotos von Mitch Epstein. Galerie Thomas Zander, Köln / Steidl Verlag
Menschen

Striptease-Cabarets und heimliche Parkromanzen: Diese Fotos zeigen das Indien der 1980er

Mitch Epsteins Bilder dokumentieren eine wichtige Zeit in Indiens Geschichte – Straßen voller Leben und extremer Ungleichheit.
Shamani Joshi
Mumbai, IN

1978 reiste der Fotograf Mitch Epstein mit 26 zum ersten Mal nach Indien, um dort seine damalige Freundin und spätere Frau zu treffen, die preisgekrönte indische Regisseurin Mira Nair. Bis dahin kannte der US-Amerikaner das Land nur aus Filmen und Büchern.

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"Mit seiner spirituellen Andersartigkeit hatte sich Indien in meiner Vorstellung als Zufluchtsort von einer durch Frustration geprägten amerikanischen Jugend eingenistet", schreibt Epstein in der Einleitung zu seinem Fotobuch In India, das 2021 im deutschen Steidl Verlag erschienen ist.


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Als er dort ankam, wurde ihm schnell klar, dass das Land fast unmöglich in Worten oder Kunst zu fassen war. Die Folgen der Kriege mit Pakistan waren noch immer zu spüren, die politische Lage turbulent und das Land geprägt von extremer Ungleichheit. Trotzdem waren die Straßen voller Leben. Religiöse Feste sorgten für ein fröhliches Gemeinschaftsgefühl. Wer etwas auf sich hielt, besuchte die dekadenten Cabaret-Clubs mit ihren Striptease-Shows. 

"Ich arbeitete inmitten dieser äußerst komplexen Kultur mit dem großen Privileg einer Doppelperspektive. Durch meine Heirat und mein Familienleben bekam ich eine indische Perspektive – niemals ganz natürlich, aber mehr als wenn ich nur Tourist gewesen wäre", sagt Epstein in einem Videocall. "Gleichzeitig war ich als Amerikaner größtenteils unbelastet, was die komplexen und politisch aufgeladenen Codes von Kaste, Klasse und Religion anging, die die Leben der meisten Inder bestimmten."

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Mit seiner Mittelformatkamera hielt Epstein seine Eindrücke im Laufe von acht Indienreisen fest. In India gibt einen Einblick in den indischen Alltag zwischen 1978 und 1989.

"Indien ist so ein komplexes Land, wo so viele Kulturen zusammenkommen", sagt der Fotograf. "Ich hatte nicht die Ambition, etwas Endgültiges zu tun. Ich sah mich auch nicht als Dokumentarfotograf, aber ich entschloss mich, mich für diese Bilder von der Dokumentarfotografie inspirieren zu lassen."

1987 veröffentlichte er seine Bilder in einem Fotoband mit dem Titel In Pursuit of India. Als er während des Corona-Lockdowns durch sein Foto-Archiv ging, entdeckte er jedoch eine Reihe Bilder, die damals nicht veröffentlicht worden waren.

"Ich hatte damals nicht die emotionale und intellektuelle Distanz, um die wahre Bedeutung meiner Arbeit zu erkennen", sagt er. Sein erstes Fotobuch über Indien sei ein romantisiertes Loblied an das Erlebte gewesen. Als er allerdings knapp 35 Jahre später die Fotos noch einmal in der Hand hielt, war es ihm möglich, eine Serie mit einer authentischeren, raueren und vielschichtigeren Perspektive auf das Land und die Menschen darin zusammenzustellen.

Eine Frau steht in einem gelben Sari auf einer Treppe, im Hintergrund überqueren Menschen eine Straße

Churchgate Station, Mumbai, Maharashtra, 1989

"Jemandem nahezukommen war für mich keine Voraussetzung für ein starkes Foto. Aber indem ich eine Beziehung zu einigen meiner Subjekte wie den Tänzerinnen des India Cabaret aufbaute, konnte ich intimere Momente einfangen", sagt Epstein.

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Einige der bemerkenswertesten Bilder seiner Sammlung sind dann auch die, die er von den Cabaret-Tänzerinnen gemacht hat.

Eine junge Inderin steht rauchend und mit geschlossenen Augen vor einer Wand, in deren Nische Götterbilder aufgestellt sind

Rekha, eine Cabaret-Tänzerin, posiert in ihrem Zuhause in Mumbai, Maharashtra, 1984

"Rekha, die Frau in dem Foto, war eine der Tänzerinnen, die ich fotografiert habe", sagt Epstein. "In diesem Bild von ihr, das ein paar Tage nach dem tödlichen Attentat auf Indiens Premierministerin Indira Gandhi entstand, sieht man gerahmte Bilder von Göttern neben einem Foto von Gandhi. Mir gefällt an ihr, dass sie eindeutig ein Mensch in seiner häuslichen Umgebung ist und nicht wie eine Tänzerin aussieht, aber gleichzeitig etwas Selbstzufriedenes ausstrahlt. Sie ist ein religiöser und spiritueller Mensch, aber sie raucht."

Ein weiteres Foto, das aus der Serie heraussticht, ist von Rosy, einer Cabaret-Künstlerin, deren Geschichte Epstein besonders bewegt hat.

Eine junge Frau tanzt rauchend in einem schimmernden Perlmutt-Kleid in der Mitte eines Raums, Männer schauen vom Rand aus zu

Rosy bei einem Auftritt im Meghraj Cabaret in Mumbai, Maharashtra, 1984

"Rosy war unerschrocken, ein bisschen provokativ und vielleicht sogar melodramatisch, was ihre Auftritte anging. Aber sie trug auch eine Menge Schmerz in sich", sagt Epstein. "Sie hatte ihr Dorf verlassen, um nach Mumbai zu ziehen, und ihre Familie fand das, was sie tat, blasphemisch und hatte sie verstoßen. Sie war so selbstzufrieden und frei während ihrer Auftritte, aber dieser Schmerz, den sie in sich trug, war sehr stark."

Die Serie zeigt auch die extreme Ungleichheit, die das Land damals durchzog. "Ich wollte mich mit diesen Extremen beschäftigen, während sie sich vor meinen Augen abspielten", sagt er. Am deutlichsten sieht man das vielleicht auf einem Foto von einem Fünf-Sterne-Hotel am Juhu Beach, Mumbais bekanntesten Strand. Eine Gruppe Männer steht unter einer Mauer und schaut hinauf zu Frauen der Oberschicht, die sich am Hotelpool entspannen.

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Eine Gruppe Männer in Schlaghosen und Hemden steht vor einer gelben Mauer, auf der Frauen im Bikini vor Palmen sitzen

Eine Szene vor einem fünf Sterne Hotel am Juhu Beach, Mumbai, 1983

Ebenso geschickt fing Epstein die persönlichen Safe-Spaces ein, die Menschen zum Schutz vor gesellschaftlicher Ächtung aufsuchten. Ein solches Bild zeigt ein Pärchen in einem öffentlichen Park.

Zwei Menschen sitzen auf einer Bank in einer grünen Parklandschaft

Ein Pärchen in den Purana Qila Gärten von Neu-Delhi, 1985

"In Neu-Delhi waren die Mogulgärten mein Rückzugsort, eine Erholung vom Chaos des Lebens", sagt er. "Dieses Bild spricht dieses Gefühl der Ruhe an, insbesondere weil es für viele Paare in Indien nicht erlaubt war, in der Öffentlichkeit intim zu sein, was solche Augenblicke umso kostbarer gemacht hat. Ich konnte das vor allem nachempfinden, weil Mira und ich als gemischtes Paar häufig angefeindet wurden."

Durch die Serie versucht Epstein seine vielen Erinnerungen, Emotionen und Beobachtungen zu zeigen, die seine Zeit in Indien charakterisiert haben.

"Ich bin unfassbar dankbar dafür, dass so viel von dem, was ich als gegeben wahrgenommen hatte, durch meine Erfahrungen infrage gestellt wurde. Es hat mir ein tieferes Gefühl von Demut gegeben", sagt der Fotograf. "In Indien, fernab meiner Komfortzone zu sein, hat es mir wirklich erlaubt zu sehen, wie einfachste Dinge den Menschen echte Liebe und Freude bereiten können."

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Scroll runter für mehr Fotos von Mitch Epstein.

Ein Mann mit weißem Gewandt und Turban hockt mit einem Instrument in Sanddünen und trinkt

Ein Musiker trinkt Wasser in der Thar-Wüste bei Jaisalmer in Rajasthan, 1981

Mit violetter Farbe übergossene Männer tragen eine große Götterbüste

Eine Shiva-Büste bei einem religiösen Fest in Mumbai, Maharashtra, 1981

Ein fein gekleidetes Paar in einem sehr gepflegten Garten, die Frau macht stehend ein Foto von dem am Boden sitzenden Mann

Ein Paar im Nishat Bagh, einem Mogulgarten in Srinagar, Kaschmir, 1981

Menschen und Kamele in einer weitläufigen Steppenlandschaft

Der Kamelmarkt von Pushkar in Rajasthan, 1978

Eine belebte Straßenszene in Indien

Die Chandni Chowk Straße in Old Delhi, 1984

Ein Elefant berührt in einer Tempelanlage eine Frau mit dem Rüssel am Kopf

Ein Elefant "segnet" eine Besucherin im Brihadishvara-Tempel von Thanjavur, in Tamil Nadu, 1987

Ein Mann entspannt sich auf einer umgestürzten Säule in einer alten Tempelanlage

Ein Mann entspannt sich vor dem Minakshi-Tempel in Madurai, Tamil Nadu, 1987

Ein Maler auf einem Gerüst vor einem großen Wandbild

Ein Maler arbeitet an einem Bollywood-Mural in Mumbai, Maharashtra, 1983

Ein holzvertäfelter Raum voller Musiker

Die Bombay Native Band Punjabi, 1983

Ein Teeverkäufer füllt bei Nacht mit ausgestreckten Armen Flüssigkeit von einem Topf in einen anderen

Ein Chaiwala genannter Teeverkäufer am Chowpatty Beach in Mumbai, Maharashtra, 1983

Ein Mann sitzt staubbedeckt am Steuer eines alten Autos und raucht

Ein staubbedeckter Taxifahrer in der Wüste von Kachchh, Gujarat, 1984

Ein Mann liest Zeitung in einem altmodischen Café

Ein altes Café in Mumbai, Maharashtra, 1983

Ein Paar sitzt Apfel essend auf einer Steinanlage in einem gepflegten Park und schaut in die Sonne

Ein Pärchen im Nishat Bagh in Srinagar, Kaschmir, 1981

Ein Mann sitzt zwischen verschiedenen Stoffen auf Kissen

Ein Sari-Verkäufer im Zaveri Bazaar, Mumbai, 1983

Ein mann in weißer Kleidung mit Schlaghose blickt aufs Meer und einen schönen Sonnenuntergang

Ein mann blickt in Mumbai auf das arabische Meer, Maharashtra, 1983